Einleitung
Zehn Jahre nach der UN-Konferenz zu Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro zieht die Konferenzkarawane der Vereinten Nationen weiter nach Johannesburg zum Weltgipfel für Nachhaltige Entwicklung (WSSD). In Südafrika bilanzieren die Staatengemeinschaft und internationale Umwelt-, Entwicklungs- und Frauenorganisationen die Umsetzungsergebnisse von Rio.
Transnational agierende Frauenaktivistinnen, die Nachhaltigkeit eng mit politischer Gerechtigkeit verwoben sehen, stellen vor allem die Frage, ob und inwieweit die Geschlechterperspektive systematisch in das Nachhaltigkeitsdreieck von Ökologie, Ökonomie und Soziales eingeschleust werden kann, insbesondere in die bislang abgespaltene, aber zentrale vierte Dimension von Nachhaltigkeit: die Politik. Erst mit der Integration des Politischen in die Problemperspektive nachhaltiger Entwicklung eröffnet sich den beteiligten AkteurInnen eine Arena zur Verhandlung und Bearbeitung dieses magischen Dreiecks sowie zur Formulierung und zur eventuellen Ausbalancierung ihrer Ziel- und Interessenkonflikte. In dem Moment, da "gesellschaftliche Naturverhältnisse" Gegenstand politischer Entscheidungen werden, gelangen auch die kontroversen Interessen- und Zielperspektiven sowie die höchst unterschiedliche Deutungs-, Handlungs- und Entscheidungsmacht der AkteurInnen in den Blick. Für die Einschätzung, ob die UN-Konferenz in Rio einem geschlechtersensiblen Nachhaltigkeitsprozess den Weg geebnet hat oder die kohärente Vernetzung von Zukunftsfähigkeit und Gender noch in weiter Ferne liegt, ist die Integration der Macht- und Herrschaftsperspektive in die Debatte unerlässlich.
I. Nachhaltige Entwicklung: Ein Leitbild macht Karriere
1. Zur Genese hegemonialer Konzepte
In den sechziger Jahren bezog sich klassisches umweltpolitisches Denken und Handeln zunächst auf die vielfältigen Gefährdungen lokaler und regionaler Naturstücke, wie die Schadstoffbelastung von Böden, Wasser, Luft und der Wälder oder die Zerstörung einzelner komplexer Biotope. Doch bereits zu Beginn der siebziger Jahre globalisierte sich die Umweltfrage mit der Sorge um die Erschöpfung natürlicher Ressourcen, wie der Club of Rome sie in seiner 1972 publizierten Studie "Grenzen des Wachstums" formulierte.
In Reaktion auf diesen Bericht und die Weltumweltkonferenz 1972 in Stockholm entwickelte das im selben Jahr gegründete Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) den Ecodevelopment-Ansatz, den Vorläufer Nachhaltiger Entwicklung. In den Guidelines for Ecodevelopment integrierte sein prominentester Vertreter, Ignacy Sachs, frühzeitig die Dimensionen ökologischer, sozialer, ökonomischer und politischer Entwicklung. Indem er widerstrebende Interessen, Verteilungs- und Machtfragen thematisierte, trug der Ecodevelopment-Ansatz wesentlich zur Politisierung einer globalisierten Umweltdebatte bei. Der Begriff Sustainable Development wird mit dem Bericht World Conservation Strategy (WCS ) in die internationale Umweltdebatte eingeführt. Er orientierte sich an einer eher klassischen Idee des Naturschutzes, projiziert auf die globale Ebene, und fällt hinsichtlich seiner Analysekomplexität hinter den Ecodevelopment-Ansatz zurück. Erst der Kontext der Weltkonferenzreihe in den siebziger Jahren und ihrer jeweiligen Nachfolgegipfel im Dekadenabstand förderte die systematische Entwicklung einer global-ökologischen Problemperspektive und einer (Re-)Politisierung der Umweltdebatte.
Ende der achtziger Jahre rückten neben der Sorge um die Verknappung natürlicher Ressourcen zunehmend die Probleme einer begrenzten Aufnahmekapazität von Umwelträumen für Abfall- und Schadstoffe in den Vordergrund. Zugleich gerieten immer komplexere Schadensmuster und globale ökologische Probleme in den Blick, allen voran Klimaveränderungen (anthropogener Treibhauseffekt), der Verlust der biologischen Vielfalt, Süßwasserknappheit, Überfischung und Verschmutzung der Weltmeere, fortschreitende Entwaldung und Desertifikation. Diese Umweltkrisen waren eingebettet in komplexe gesellschaftliche Problemlagen. Zivilisations- und Wirtschaftsmodelle, die auf kontinuierlicher Wachs-tumsorientierung und Externalisierung von Kosten zu Lasten der Umwelt basierten, insbesondere in hoch industrialisierten Staaten, rückten verstärkt auf die Agenda internationaler umwelt- und entwicklungspolitischer Diskurse.
2. Die Popularisierung "nachhaltiger Entwicklung" zur Paradiesformel ökologischer Modernisierung
Die zunehmende Verschränkung und wechselseitige Abhängigkeit ökologischer, ökonomischer und sozialer Problemlagen machte in der Analyse eine neue integrative Perspektive und in der politischen Bearbeitung eine Lang- und Querschnittsorientierung von Programmen notwendig. Einseitige und innerhalb nationaler Grenzen verharrende Lösungsversuche waren angesichts entgrenzter Problemlagen zum Scheitern verurteilt. Multilaterale und integrierte Lösungsansätze sollten am normativen Leitbild "nachhaltige Entwicklung" orientiert sein, forderte der Brundtland-Bericht "Unsere gemeinsame Zukunft", vorgelegt 1987 von der "Weltkommission für Umwelt und Entwicklung". Sie fasste die bisherige internationale Debatte pointiert in einer Kernformel zusammen: "Dauerhafte Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können." Zentrales Element des Brundtland-Konzeptes ist die Einforderung einer intergenerativen und intragenerativen Problemperspektive zur dauerhaften Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen und zur Gewährleistung sozialer Gerechtigkeit. Dazu gehört die Ausrichtung aller politischen Strategien an einer vorsorgenden Langfrist- und integrativen Querschnittsperspektive sowie an transnational vernetzten Problemlagen. Problemanalysen und Lösungsansätze sollten erstmalig partizipativ und im Dialog mit staatlichen und zivilgesellschaftlichen AkteurInnen initiiert und unterstützt werden. Dieses kooperative Politikverständnis implizierte eine neue Akteurs- und Prozessorientierung. Mit Beteiligung der Zivilgesellschaft eröffneten sich aber auch erste Partizipationschancen für ein genderpolitisches Mainstreaming nachhaltiger Entwicklung.
Trotz seines innovativen Politikansatzes war der Bericht wegen seines durchgängig wachstumsoptimistischen Ansatzes höchst umstritten. Umwelterhaltung und Wirtschaftswachstum in Nord und Süd konzipierte er gleichsam als win-win-Situation für alle und bot mit dieser Paradiesformel ökologischer Modernisierung Anschlussstellen für AkteurInnen unterschiedlichster Provenienz mit zum Teil gänzlich disparaten Ziel- und Interessenlagen. KritikerInnen ordnen den Brundtland-Bericht deshalb den Ansätzen einer "schwachen Nachhaltigkeit" zu, die ökonomisches Wachstum und Nachhaltigkeit innerhalb der bestehenden ökonomischen, sozialen und politischen Systeme miteinander versöhnen will und nicht auf deren grundlegende Transformation hin angelegt ist.
3. Die Etablierung als politisches Leitbild
Mit der UN Konferenz zu Umwelt und Entwicklung 1992 nahm die internationale Staatengemeinschaft nachhaltige Entwicklung als politische Leitidee an, und sie durchwirkte sämtliche Programme und Konventionen des Erdgipfels. Mit der UN-Konferenz von Rio sollten die politischen Weichen zu einer globalen Partnerschaft auf dem Weg zu einer ökonomisch, ökologisch und sozial verträglichen Entwicklung gestellt werden. Damit wurden der Brundtland-Report und die Riokonferenz für die Konzeption, die politische Etablierung und Popularisierung eines globalen umwelt- und entwicklungspolitischen Leitbildes Sustainability zu historischen Meilensteinen. Bis heute dient die Brundtland-Erklärung als definitorischer Anker zahlreicher Nachfolgekonzepte, z. B. der Enquete-Kommission "Schutz des Menschen und der Umwelt" sowie der jüngst verabschiedeten Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung "Perspektiven für Deutschland" . Diesen Ansätzen einer systemimmanenten ökologischen Modernisierung stehen an einer grundsätzlichen gesellschaftlichen Transformation orientierte wachstums- und strukturkritische sowie gendersensible Positionen gegenüber.
II. Nachhaltigkeit: Geschlechterpolitische "terra incognita"?
In der Genese hegemonialer Konzepte nachhaltiger Entwicklung sind gendersensible Ansätze nahezu unsichtbar, obgleich sich Wissenschaftlerinnen und Frauenaktivistinnen seit den frühen siebziger Jahren mit eigenen Positionen an der internationalen umwelt- und entwicklungspolitischen Debatte beteiligt haben.
1. Die "Feminisierung" der Entwicklungspolitik
Esther Boserup legte mit ihrer einflussreichen Studie "Die Rolle der Frau in der Entwicklung" 1970 den Grundstein zu einer systematischen Analyse der Beiträge von Frauen in den produktiven Sektoren der Ökonomien in Entwicklungsländern, insbesondere in der Landwirtschaft. Boserups Analyse leistete einen wesentlichen Beitrag zur Integration von Gender in die Forschungsperspektive und gab mit anderen den Impuls zur Etablierung des Ansatzes Women in Development (WID) in der Entwicklungspolitik. Nach dem Scheitern wachstumsorientierter Strategien des Kapital- und Technologietransfers schloss sich im Zuge der Neukonzeptionalisierung von Entwicklungsstrategien eine "Investition in die Armen" an. Deren wichtigste Implikation war der Zielgruppenbezug und eine Umorientierung auf die Basisbedürfnisse ärmster Bevölkerungsschichten. In diesem Kontext wurden Frauen als äußerst produktive, aber bislang vernachlässigte Ressource von multilateralen Entwicklungsorganisationen entdeckt. Mit dem WID-Ansatz sollte das ungenutzte Humankapital in Entwicklungsprogramme integriert und die (frauen)politische Blindheit überwunden werden. Die UN-Generalversammlung erklärte das Jahr 1975 zum Internationalen Jahr der Frau und beschloss die erste Weltfrauenkonferenz in Mexico City mit dem Ziel der vollständigen Integration von Frauen in alle Entwicklungsanstrengungen.
2. Ansätze einer (geschlechter)gerechten Entwicklung
Im Vorfeld der Abschlusskonferenz der Frauendekade in Nairobi 1985 fand das erste internationale Treffen von Development Alternatives with Women for a New Era (DAWN) 1984 in Indien statt. Frauenforscherinnen und Aktivistinnen aus dem Süden bündelten ihre Kräfte zur Kritik am westlichen Entwicklungsmodell und den Implikationen des WID-Ansatzes. Sie präsentierten ihr alternatives Entwicklungsmodell auf der dritten Weltfrauenkonferenz in Nairobi unter dem Titel "Entwicklung, Krisen und alternative Visionen - Perspektiven von und für Frauen aus der Dritten Welt" . Mit der Einführung ihres Empowerment-Ansatzes forderten sie Machtbildung für benachteiligte soziale Gruppen, die gesellschaftliche Transformation bestehender (geschlechts)hierar-chisierter Strukturen insgesamt sowie die Abkehr von wachstumsorientierten Zivilisationsmodellen. Ziel war eine grundlegende Revision und Neukonturierung bestehender Entwicklungsmodelle. Die ernüchternde Bilanz von Nairobi gab ihnen Recht. Sie belegte eine zunehmende "Feminisierung der Armut". Der Integrationsansatz schlug fehl, weil er die Machtasymmetrien innerhalb der Geschlechterbeziehungen sowie die Ursachen ungleicher Ressourcenverteilung mit seiner ausschließlichen Fokussierung auf Frauenfragen unangetastet ließ und weiterhin auf Modernisierungsstrategien gründete. Er machte Frauen letztendlich angepasster und verfügbarer für die Entwicklungserfordernisse. Der Empowerment-Ansatz fand im Folgeprozess der Nairobi-Konferenz Eingang in die bi- und multilaterale Entwicklungszusammenarbeit sowie in die Abschlussdokumente der Weltkonferenzreihe der neunziger Jahre, jedoch bar seines ursprünglich machtkritischen Transformationsanspruches. Auf der institutionellen entwicklungspolitischen Ebene transformierten Ende der achtziger Jahre die WID-desks zu GAD (Gender and Development)-desks, die das Einbringen der Geschlechterperspektive (engendering) in sämtliche Entwicklungsbereiche als eine verpflichtende Querschnittsaufgabe verstanden.
3. Frauen, Umwelt und nachhaltige Entwicklung
Nachdem Frauen in den siebziger Jahren als Ressource von Entwicklungsplanern entdeckt worden waren, vollzog sich rund zehn Jahre später der Integrationsprozess von Umwelt und Entwicklung. Ende der achtziger Jahre wurde der WID-Ansatz sukzessive zum Dreieck "Women - Environment - Development" (WED) erweitert, der Frauen diesmal als Umweltmanagerinnen entdeckt und einbindet. Kritik an der Funktionalisierung von Frauen erst für Entwicklungs-, dann für Umweltprozesse und an einer Feminisierung der Umweltverantwortung folgten auf dem Fuße. Später ist WED in einen Women-Environment-Sustainable Development-Ansatz überführt worden. Seit Anfang der neunziger Jahren wurde dann vor allem der Gender-Begriff kontrovers diskutiert. Ökofeministische Theoriekonzepte, wie sie etwa von Maria Mies und Vandana Shiva vertreten wurden, basieren auf einem essentialistischen Gender-Begriff, der das "weibliche Prinzip" als Garant für den respektvollen Umgang mit der Natur und ein friedvolles Leben in menschlichen Gemeinschaften konstruiert. Diesen Ansätzen wurde eine Ontologisierung der Zweigeschlechtlichkeit vorgeworfen sowie die Perpetuierung androzentristischer Legitimationsfolien der Natur- und Frauenunterdrückung durch die unterstellte größere Nähe von Frauen zur Natur. Die naturalistische "Wir-Frauen-Kategorie" wurde vor allem durch schwarze nichtwestliche Frauen zurückgewiesen, "die ihre feministischen Kolleginnen bezichtigten, nichtgeneralisierbare weiße Mittelstandstheorien zu produzieren und diese in kolonialer Attitüde ihren marginalisierten Schwestern überzustülpen" . Poststrukturalistische feministische Ansätze hingegen verstehen sex nicht als biologisch präformierte Entität, sondern als Material kultureller Aneigung bzw. Konstruktion. Für sie existiert keine vordiskursive Zweigeschlechtlichkeit. Sex wird zur gendered category. Neben Gender treten Kategorien wie Rasse, Klasse und Kultur, die ebenfalls als performative, prozessural sich wandelnde und aktiv veränderbare Kategorien verstanden werden. Mit zunehmender Mobilität der Individuen beschreiben sie keine statisch festgelegten Zuschreibungen, sondern sind fluide und können in wechselnden gesellschaftlichen Kontexten an Relevanz verlieren bzw. de- und wieder neu rekonstruiert werden. Im Rio-Prozess dominierten jedoch weiterhin ökofeministische Positionen.
III. Feministische Nachhaltigkeitsdiskurse im Rio-Prozess
1. Eine neue Ethik für die Erde
Entscheidend für die Entwicklung eines frauenpolitischen Konzeptes von Sustainability aus zivilgesellschaftlicher Perspektive war der von WEDO (Women's Environment & Development Organisation) organisierte "Weltfrauenkongress für einen gesunden Planeten", auf dem der Frauenaktionsplan 21, die "Women's Action Agenda for a Healthy Planet", von 1342 Frauen aus 83 Ländern einstimmig verabschiedet wurde. Margarita Arias aus Costa Rica eröffnete den Weltfrauenkongress mit den Worten: "Niemand spricht mit so großer moralischer Autorität für den Schutz der Umwelt wie Frauen" und trieb mit dieser Diktion ökofeministische Pflöcke ein, mit denen sie sowohl für diesen Kongress in Miami als auch den "Planeta Femea" in Rio das Terrain absteckte. Der NGO-Frauenkongress war in Form eines Tribunals organisiert worden. Er sollte "die Verflechtung von Wirtschaftssystem, Zerstörung des Planeten und Unterdrückung von Frauen" sichtbar machen. Zeugnisse der Anklage waren der Weltmarkt und die Verschuldung, Militarismus, Wissenschaft und Technik, Demokratiemangel und Rechtsverletzungen - überhaupt das Entwicklungsmodell als Gesamtsystem. Der Frauenaktionsplan 21 formulierte eine grundlegende Kritik an den herrschenden Entwicklungs- und Wohlstandsmodellen mit ihrer durchgängigen Wachstumsorientierung und forderte einen Paradigmenwechsel hin zu einer tief greifenden Transformation und (Re-)Moralisierung menschlichen Lebens und Wirtschaftens. Drei zentrale Forderungen lassen sich identifizieren: eine neue Ethik im Umgang mit der Natur; Gerechtigkeit zwischen Norden und Süden; Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern. Verbunden sind diese Kritikelemente mit der Aufforderung zu einer "neuen Moral des Produzierens, Handelns und des Konsums" . Die Teilnehmerinnen in Miami distanzierten sich von dem Begriff "nachhaltige Entwicklung" als westlich dominiertem Modell und führten im Gegenzug "sustainable livelihood" als neue Leitorientierung in die Debatte ein. Der Livelihood-Ansatz betont die Bedeutung der lokalen Ebene für die alltägliche Überlebenssicherung, den Erhalt lokaler Ressourcen und die Strukturbildung sozialer Systeme. Livelihood respektiert die Vielfalt lokal unterschiedlicher gesellschaftlicher und natürlicher Lebensbedingungen und wendet sich gegen den Geltungsanspruch universeller Entwicklungsparadigmen einer nachholenden Entwicklung.
2. Der "Planet der Frauen"
Auf dem "Planeta Femea" des globalen NGO-Forums in Rio wurden feministische Nachhaltigkeitsansätze erstmalig für eine weltweite Öffentlichkeit sichtbar. Die Frauen-Agenda war Struktur gebend für die Themen des "Planeta Femea". WEDO mit ihrer schillernden Leitfigur Bella Abzug setzte politikstrategisch auf einen partizipativen Empowerment-Ansatz, der die Kluft zwischen der Leistung von Frauen für Gesellschaft und Umwelt und ihrer Beteiligung an politischer und wirtschaftlicher Macht überwinden sollte. Angestrebt wurde dies mit Advocacy-, Mainstreaming- und Lobbyarbeit zunächst innerhalb etablierter Systemstrukturen. Die Vertreterinnen einer machtkritischeren Position mit DAWN an ihrer Spitze sahen die herrschenden Weltwirtschaftsstrukturen, ökologische Krise und Frauenunterdrückung miteinander zu einer umfassenden Entwicklungskrise verknüpft. Ihr Ziel war es, diesen Konnex transparent zu machen und ihm mit visionären Gegenentwürfen zu begegnen.
3. Ambivalenzen eines Lobbyerfolges
Die grundsätzlich systemkritischen Positionen fanden jedoch keinen Eingang in die inhaltliche Ausformulierung der Agenda 21. Die machtkritische Reformulierung von Nachhaltigkeit lief dem Wachstumsoptimismus und frauenpolitischen Integrationsansatz des offiziellen Abschlussdokuments grundlegend zuwider. Dennoch ist die Agenda 21 das erste UN-Abschlussdokument eines Weltgipfels zu Umwelt- und Entwicklung, das ein Kapitel über die Rolle von Frauen als Hauptakteurinnen (major group) in Nachhaltigkeits-Prozessen enthält, den "Globalen Aktionsplan für Frauen zur Erzielung einer nachhaltigen und gerechten Entwicklung" . Darüber hinaus wurden rund 120 weitere Empfehlungen zu Geschlechtergerechtigkeit quer zu den Themen der Agenda 21 festgehalten. Ewa Charkiewicz von DAWN bilanziert die Agenda 21 als ein höchst ambivalentes Dokument. Von der Ebene der Politikformulierung hin zur realen Welt sei die Umsetzung der Vereinbarungen nicht substantiell gewesen. Die kohärente Vernetzung von Gender und nachhaltiger Entwicklung ist im Folgeprozess von Rio weder konzeptionell noch in der Umsetzung gelungen. Zwar gelten Umwelt- und Genderfragen mittlerweile als politische Querschnittsthemen, sie werden jedoch durch das sektorale Prinzip politisch administrativer Problembearbeitung nach wie vor zerschnitten und unverbunden evaluiert.
IV. Perspektiven einer gendersensiblen zukunftsfähigen Entwicklung
1. Mainstreaming im Vorfeld des Johannesburg-Gipfels
Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen setzt WEDO während der WSSD in einer ersten Etappe auf Reformen und Mitmacht. Diese Strategie beinhaltete vor allem die Übernahme einer aktiven Rolle innerhalb der 1993 gegründeten Frauen AG (Women's Caucus) der Kommission für Nachhaltige Entwicklung (CSD). Der Women's Caucus tritt für das systematische Gender Mainstreaming aller Vereinbarungen im Bereich nachhaltiger Entwicklung ein. Er ist mit eigenen Positionspapieren, Side-Events und steter Lobby-Arbeit auf den jährlichen CSD-Tagungen präsent und versucht, seine Expertise systematisch in den Prozess und in die Entschließungstexte einzubringen. Als Pipeline dieser Mainstreaming-Prozesse dienen wesentlich die so genannten "Multi-Stakeholder Dialogs" innerhalb der CSD. NGOs ermöglicht dieses innovative Partizipationsinstrument den Dialog mit Regierungsdeligationen und Mitgliedern der Hauptgruppen (major groups) und gezielten Einfluss auf Entschließungstexte. Für Frauenorganisationen, die auf Mitmacht setzen, kommt den Dialogen eine Schlüsselfunktion zu. Als Hauptaufgaben und -aktivitäten im Vorfeld des Johannesburg-Gipfels hat die Frauen-Arbeitsgemeinschaft der CSD die koordinierte Entwicklung einer Neuauflage der Frauenaktionsagenda identifiziert. Sie wird im Rahmen eines konsultativen Prozesses auf der Grundlage von Seminaren, Umfragen und Frauenforen kooperativ erstellt. WEDO koordiniert diesen Prozess. Die aktualisierte Fassung der Frauenagenda soll sowohl im Gipfel- als auch im Nachfolgeprozess als Lobbying-Plattform eingesetzt werden.
2. Prioritäten einer A-Gender für die Nachhaltigkeit
Zentrale Forderungen des Women's Caucus, der gemeinsam formulierten Women's Action Agenda for a Healthy Planet 2002 (WAA 2002) sowie von DAWN für das Gender Mainstreaming in Johannesburg sind:
- Good Governance und Geschlechterdemokratisierung sollen Entscheidungs- und Gestaltungsmacht, Partizipation und Rechtssicherheit für alle Menschen, unabhängig von ihrem Geschlecht, gewähren. Dies setze Gender balance innerhalb aller Entscheidungsgremien im Bereich nachhaltiger Entwicklung voraus.
- Ein Abbau der Spannungen zwischen freier Marktideologie und nachhaltigen Produktions- und Konsumzielen soll durch die Berücksichtigung sozialer und ökologischer Kosten ökonomischen Wachstums in volkswirtschaftlichen Analysen (ehrliche Preise), Armutsbekämpfung und eine ökologische Wende in den Produktions- und Konsummustern westlicher Industrieländer erreicht werden.
- Neoliberale Globalisierung: Der Verlust der Kontrollmacht von Staaten und sozialen Gruppen über die Produktion und Verteilung von Ressourcen soll aufgehalten werden. Gerade öffentliche Güter wie Wasser dürfen nicht privatisiert werden. Gendersensible Global-Governance-Prozesse gelte es zu unterstützen.
DAWN kritisiert die "hyper-liberalen" und "hyper-maskulinen" Strukturen ökonomischer Globalisierung. Fragen nach den sozialen und ökologischen Kosten globalen Wirtschaftswachstums stünden in Johannesburg nicht mehr auf der Agenda. Sustainable livelihood bildet mit seiner Orientierung an sicheren Lebensgrundlagen i. S. des Vorsorgeprinzips ein Gegenkonzept zu global-universellen Entwicklungs- und Wirtschaftskonzepten.
- Frieden, Gewaltfreiheit und Gerechtigkeit sind fundamentale Voraussetzungen von Nachhaltigkeit. Ökonomische, soziale und machtpolitische Ursachen von Gewalt und militärischen Konflikten sollen systematisch in die Friedens- und Konfliktforschung einbezogen werden.
- Ein geschlechtergerechter Zugang zu und Kontrolle über natürliche und gesellschaftliche Ressourcen soll durch Empowermentprozesse und die normative Verankerung von Rechten in nationalen Verfassungen realisiert werden.
- Gewährung reproduktiver und sexueller Rechte sowie Gesundheit im Rahmen einer intakten Umwelt sollen garantiert werden. Hierzu werden Monitoringstrategien und Politiken zum Schutz besonders der verletzlichsten Gruppen in Gesellschaften vorgeschlagen.
- Genderbezogene Analysen (gender impact analysis) sollen zum integralen Bestandteil aller Entscheidungen und Gesetze werden.
- Der Schutz der Biodiversität soll auf allen Politikebenen vorangetrieben werden, z. B. durch eine nachhaltige Landnutzung, die zum Erhalt des lokalen Wissens, kultureller und biologischer Vielfalt beiträgt und in ländlichen Gebieten nachhaltige Lebensbedingungen (sustainable living) ermöglicht.
- Nahrungssicherheit beinhaltet Souveränität über die Entscheidung, welche Nahrung produziert, konsumiert und importiert werden soll. Die genetische Modifikation von Nahrungsmitteln und Patente auf Leben werden abgelehnt.
- Ein geschlechtergerechter Zugang zu Bildung, Kommunikation und Informationstechnologien soll gewährleistet werden.
Mit diesen Prioritäten werden nicht nur reaktiv Themen für das Mainstreaming der Regierungsagenda benannt, sondern eigene Problemfelder definiert. Insbesondere ökonomische Globalisierung, Debatten um Global Governance und die Regulierungskonzepte sozial-ökologischer Problemlagen sind bislang männlich dominiert. Diesen hegemonialen Diskurssträngen stellt die Frauenaktionsagenda genderorientierte Positionen gegenüber. Zugleich verbleibt sie grundsätzlich in verhandlungsfähigen Ansätzen, um in Johannesburg einen globalen Konsens mit einer möglichst durchgehenden Genderorientierung zu erreichen, damit sich die Regierungs-Agenda schrittweise zu einer A-Gender für Nachhaltigkeit entwickelt.
3. Perspektiven für eine gendersensible Nachhaltigkeit
Nachhaltige Entwicklung gleicht in ihrer Polyvalenz eher einer beliebig füllbaren Leerformel, einem Containerbegriff oder Gummiwort. Diese konstitutive Offenheit lässt sich auch positiv interpretieren. Nachhaltigkeit erscheint dann als ein "historisch offenes gesellschaftliches Entwicklungs- und Transformationskonzept ..., das sich nicht auf evolutionäre Trends oder langfristige Kontinuitätsannahmen stützen kann, sondern allein auf die Handlungsmöglichkeiten und -ziele gesellschaftlicher Akteure und Akteursgruppen" . AkteurInnen unterschiedlichster Provenienz können somit Nachhaltigkeit, orientiert an ihren jeweiligen Interessenlagen, Menschen-, Natur-, Gesellschafts-, Politik- und Weltverständnissen, immer wieder neu ausbuchstabieren. Damit eröffnet nachhaltige Entwicklung ein kontrovers strukturiertes, hoch komplexes Diskurs- und Handlungsfeld, in dem sich in Bezug auf die Ausstattung mit Deutungs- und Handlungsmacht ein äußerst heterogenes AkteurInnenfeld abbildet. Welche Problemperspektiven und Lösungsansätze sich bei der Orientierung an einer prozeduralen Leitbildvariante letztendlich durchsetzen, entscheiden die mit entsprechender Deutungsmacht ausgestatteten AkteurInnen- und Diskurskoalitionen. Die Analyse von Interessenkonflikten und Machtasymmetrien ist daher unabdingbare Voraussetzung für gezielte politische Machtbildungsprozesse (empowerment) jeweils benachteiligter AkteurInnen. Nur unter den Bedingungen einer Gleichheit des Sprechens, Gehörtwerdens und Entscheidens in (Ver)handlungsprozessen nachhaltiger Entwicklung könnte es potenziell zu einem gleichberechtigten Wettbewerb der Ideen kommen. Hierzu reicht ein Gender Mainstreaming zur Transformation krisenhafter sozial-ökologischer Problemlagen nicht aus.
DAWN legte vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen einen feministischen Ansatz von Global Governance auf der 4. Weltfrauenkonferenz in Peking vor. Ihr Transformationsprojekt zielt auf die sukzessive "Restrukturierung des Marktes", "Reform des Staates" und "Machtbildung in der Zivilgesellschaft" . Diese Vision einer grundlegenden Transformation i. S. eines Abbaus (geschlechts)hiear-chischer Strukturen in Politik, Ökonomie, Ökologie und Gesellschaft auf allen Politikebenen ist Voraussetzung für die Herausbildung einer geschlechtergerechten Nachhaltigkeit.
Der weite Weg dorthin führt über eine Doppelstrategie:
- Einerseits ist die Überwindung geschlechtsblinder Diskurse und Politiken über einen systemkonformen Integrationsansatz erforderlich. Das Ziel ist die gendersensible Reformierung hegemonialer Konzepte einer schwachen Nachhaltigkeit.
- Ebenso notwendig ist die Formulierung herrschaftskritischer und weiter reichender Alternativkonzepte. Sie verfolgen das visionäre Fernziel der anti(geschlechts)hierarchischen Transformation einer starken zukunftsfähigen Entwicklung.
Internetverweise der Autorin:
Externer Link: = offizielle UN-Seite
Externer Link: = gemeinsame Seite von BMU & BMZ
Externer Link: = Multistakeholder-Forum (Women' Caucus)
Externer Link: = Seite der HBS
Externer Link: = Portal des International Institute for Sustainable Development
Externer Link: = DAWN
Externer Link: = WEDO