Einleitung
Als die Frauenbewegung der siebziger Jahre in den achtziger Jahren ihren Marsch durch die Institutionen begann, stießen Gleichstellungsbeauftragte, Frauenministerinnen und frauenpolitische Ausschüsse der Parlamente bald an Grenzen. Die Impulse, die von ihnen ausgingen, wurden vom politischen Mainstream bestenfalls zögerlich aufgenommen, auch als "Gedöns" von eher marginaler Bedeutung von der Tagesordnung geschoben. Selbst erfolgreiche Bilanzen, die von Repräsentantinnen des institutionalisierten Feminismus vorgelegt werden, sind die Summe vieler kleiner, oft mühsam errungener Schritte. Die Aufgabe, sozusagen als feministische Anstandsdamen den patriarchalen Alltagstrott von Regierungen, Parlamenten und Verwaltungen zu kontrollieren und wenn möglich zu Gunsten von Frauen zu beeinflussen, überstieg und übersteigt meist die personalen und finanziellen Ressourcen separater frauenpolitischer Institutionen.
Der Gedanke, Frauenpolitik als Querschnittsaufgabe in allen Ressorts und Verwaltungen zu integrieren, erschien daher folgerichtig. Die Gegenargumente kamen jedoch eben so schnell zum Vorschein: Es wurde befürchtet - zumindest in der deutschen Diskussion -, dass die Rückverlagerung frauenpolitischer Anliegen in die Fachressorts dazu führen würde, dass Frauenpolitik im politischen male stream sang- und klanglos untergehen würde.
In der internationalen frauenpolitischen Debatte tauchte in den neunziger Jahren der Begriff Gender Mainstreaming immer häufiger auf. Vor allem in der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit wurde deutlich, dass Frauen zunehmend zu Verliererinnen der Globalisierung wurden, Modernisierungsprozesse ohne die Beteiligung von Frauen und ihr Empowerment aber zum Scheitern verurteilt waren. Die auf der Vierten Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking verabschiedete Aktionsplattform unterstützte daher ausdrücklich die Strategie des Gender Mainstreaming. Die Europäische Union nahm den Ball auf und verpflichtete im Vertrag von Amsterdam 1997 die Mitgliedstaaten, Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern zu beseitigen und die Gleichstellung von Frauen und Männern in allen Lebensbereichen zu fördern. Die von Bundeskanzler Gerhard Schröder geführte rot-grüne Regierungskoalition legte in einem Kabinettsbeschluss vom 23. Juni 1999 fest, "die Gleichstellung von Frauen und Männern zum durchgängigen Leitprinzip" der Bundesregierung zu machen und "diese Aufgabe als Querschnittsaufgabe unter dem Begriff Gender Mainstreaming zu fördern"
Stehen wir an einem grundlegenden Wendepunkt, einem Meilenstein frauenpolitischen Fortschritts? Einen Aufschrei der Begeisterung vernahm man jedenfalls seitens engagierter Frauen nicht. Vielleicht deshalb nicht, weil das neue Konzept der deutschen frauenpolitischen Szene eher wie ein Geschenk "von oben" erschien, weniger als selbstständig erkämpfte Errungenschaft. Oder vielleicht deshalb nicht, weil Frauenbeauftragte auf allen Ebenen und die feministisch gesonnene Öffentlichkeit in Frauenprojekten und Hochschulen wissen, welche enorme Selbstverpflichtung sich die Regierenden damit auferlegt haben - und entsprechend skeptisch reagieren.
Die Strategie des Gender Mainstreaming bedeutet zunächst, dass staatliches Handeln auf allen Ebenen und in allen Bereichen ständig auf seine geschlechtsspezifischen Auswirkungen überprüft und die Benachteiligung von Frauen (und Männern, soweit sie sich ergibt) beseitigt wird. Das ist bereits ein hoher Anspruch, geht es doch zunächst einmal um gründliche Bestandsaufnahmen der unterschiedlichen Situation von Männern und Frauen in allen Lebensbereichen. Es genügt, um ein Beispiel zu nennen, in Zukunft nicht mehr, wenn ein Kultusministerium zwar über die Aufteilung von Männern und Frauen nach Besoldungsgruppen Auskunft geben kann, aber über keinerlei Unterlagen verfügt, aus denen hervorgeht, ob Lehrerinnen und Lehrer in gleichem Ausmaß aus "wichtigen Gründen" von Unterrichtsstunden entlastet werden. Schwerwiegender als quantitative Aspekte sind jedoch die qualitativen.
Konsequent zu Ende gedacht, bedeutet Gender Mainstreaming weit mehr als den Versuch, durch antidiskriminatorische Politik Gleichheit für Frauen durchzusetzen: Die Strukturen selbst, welche die Ungleichheit immer wieder produzieren, sollen umgestaltet werden. Kein Bereich staatlichen Handelns kann dabei ausgeschlossen werden: weder die immer noch auf dem Ernährermodell - das heißt, auf der Abhängigkeit von Frauen - basierenden Sozialversicherungssysteme, noch das Finanz- und Steuerrecht; weder die Bildungspolitik noch die Regularien des Arbeitsmarktes. Aber auch scheinbar geschlechtsneutrale Ressorts wie Wirtschafts- , Finanz- oder Strukturpolitik müssen auf gender bias, d. h. auf geschlechterspezifische "Schieflagen", hin überprüft werden. Was bedeutet zum Beispiel die Tatsache, dass Frauen weniger häufig über ein Auto verfügen, für die Verkehrs- und Strukturpolitik in ländlichen Gebieten? Welche Auswirkungen hat die finanzielle Austrocknung der Kommunen auf Frauen? Wie wirkt sich die Subventionierung der Kohleförderung auf Erwerbsmöglichkeiten für Frauen im Ruhrgebiet aus? Warum steht in manchen kommunalen Etats mehr Geld für Sportstadien als für den Unterhalt von Kindertagesstätten zur Verfügung?
Neoliberale Deregulierungsstrategien, die zur Einsparung öffentlicher Dienstleistungen oder ihrer Ersetzung durch private Anbieter führen, müssen ebenso nach Kriterien der Geschlechtergerechtigkeit überprüft werden wie die Personalentwicklungsplanung öffentlicher Verwaltungen.
Wenn unter der Ägide des Gender Mainstreaming in den kommenden Jahren diese und ähnliche Fragen tatsächlich diskutiert werden, kommt man natürlich um eine weitere Frage nicht herum, nämlich wie das Frauenleitbild aussieht, an dem sich die Umgestaltung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen orientiert. Bedeutet "Gleichstellung" in allen Lebensbereichen auch die Einebnung der Arbeitsteilung nach Geschlecht? Wenn ja, wird man sich von allen differenztheoretischen oder traditionell konservativen Vorstellungen von "Weiblichkeit" verabschieden müssen und beide Sphären gesellschaftlicher Tätigkeit - Erwerbsarbeit und Reproduktion - für beide Geschlechter öffnen müssen. Das heisst ganz klar: die Übernahme von Haus- und Familienarbeit auch durch Männer. Die jetzt angepeilte "Kappung" oder vorsichtige "Umgestaltung" des Ehegatten-Splittings im Steuerrecht wird dem Gender Mainstreaming ebenso wenig gerecht werden wie die geschlechtsspezifische Vermittlung von Lehrstellen durch die Arbeitsämter.
Die weitreichenden Konsequenzen der neuen Strategie scheinen vielen Verantwortlichen nicht bewusst zu sein. Auf Bundesebene existiert zwar eine interministerielle Arbeitsgruppe, nach deren Vorgabe jedes Ressort mindestens ein Modellprojekt durchführen soll. Nicht alle Häuser sind aber so weit wie das Bundesumweltministerium, das eine Gender-Checkliste für alle Geschäftsbereiche entwickelt hat und die Novellierung der Strahlenschutzverordnung zum Anlass nahm, den Konflikt zwischen Gesundheitsschutz und Chancengleichheit zu lösen, indem Frauen in Anlagen, in denen sie mit Strahlung zu tun haben, auch im Falle einer Schwangerschaft nicht auf qualifizierte Arbeitsplätze verzichten müssen.
Wenn Gender Mainstreaming mehr als modisches Wortgeklingel sein soll, aus dem sich hier und da ein paar Modellprojekte ergeben, muss die Top-down-Strategie durch eine engagierte frauenpolitische Basis begleitet werden. In der deutschen Frauenöffentlichkeit stößt das Konzept aber, wie bereits erwähnt, auf abwartende Skepsis. Die Berliner Philosophin Christina Thürmer-Rohr steht nicht allein mit ihrer Frage, ob nicht Feminismus als eine per se gegen den Strom gerichtete Denkweise zu sehen sei: "Mainstream ist ein erbärmliches, kein harmloses Gewässer."
Nicht wenige Frauen befürchten, dass sich hinter dem neuen Konzept eine Umdeutung, wenn nicht gar die Abschaffung der Frauenpolitik verberge. Einige Entwicklungen scheinen ihnen Recht zu geben. So wird in manchen Kommunen argumentiert, man brauche jetzt keine Frauenbeauftragte mehr, da man ja Gender Mainstreaming als Konzept verankert habe. Finanzmittel und Personalressourcen für frauenspezifische Institutionen oder Projekte werden in Frage gestellt. Gender Mainstreaming und Frauenförderung schliessen sich aber keineswegs aus. Gleichstellungsbeauftragte und Frauenministerien sind mindestens so lange notwendig, bis neue Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten für die Implementierung des Gender-Ansatzes gefunden und etabliert sind.
Das ist in der Bundesrepublik bisher kaum der Fall. Andere Länder sind weiter, beispielsweise Südafrika, wo sich 1995 Parlamentarierinnen und Frauen aus Nichtregierungsorganisationen zur "Women's Budget Initiative" zusammenschlossen. Die Initiative analysiert jährlich den südafrikanischen Staatshaushalt unter dem Aspekt, wie sich das Budget auf das Geschlechterverhältnis auswirkt. Aus dem Ergebnis leitet sie ihre Forderungen zur Re-Allokation der Finanzmittel im Sinne einer grösseren Geschlechtergerechtigkeit ab. Ähnliche Initiativen gibt es in Kanada, Australien und Sri Lanka.
Die geschlechtsspezifische Perspektive auf öffentliche Haushalte und Investitionen, auf Handelsbilanzen und Finanzströme fehlt in Deutschland noch weitgehend. Dabei sind sicher nicht alle staatlichen Verwaltungen gegenüber Gender Mainstreaming so ignorant wie die Berliner Senatsverwaltung, deren Einstellung eine Verkehrsplanerin so umreißt: "Die wissen nicht, was das ist und haben daher auch keine Einwände."
Internetverweis der Autorin: