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Das besetzte Palästina zwischen Macht und Gerechtigkeit | Gewalt und Gegengewalt im "Heiligen Land" | bpb.de

Gewalt und Gegengewalt im "Heiligen Land" Editorial Endlos nach der "Endlösung": Deutsche und Juden Keine Lösung durch Gewalt Der Osloer Friedensprozess als ein Weg zum Frieden? Eine Mauer wird errichtet Das besetzte Palästina zwischen Macht und Gerechtigkeit

Das besetzte Palästina zwischen Macht und Gerechtigkeit Der Beitrag der Zivilgesellschaft in Palästina zur Lösung des Nahostkonflikts

Suleiman Abu Dayyeh

/ 26 Minuten zu lesen

Die Besetzung, die Entwürdigung und die Entrechtung der Palästinenser durch Israel ist die Ursache der Gewalt und der Grund für den fehlenden Frieden, den beide Völker bitter nötig haben.

I. Einleitung

Mit der Wiederbesetzung der Stadt Hebron befinden sich seit dem 25. Juni 2002 alle palästinensischen Städte der Westbank erneut unter der totalen Kontrolle der israelischen Armee, mit Ausnahme der im Jordangraben liegenden Kleinstadt Jericho. Auch der größte Teil der ländlichen Gebiete der Westbank ist entweder besetzt oder steht seit Wochen unter einer Ausgangsperre, die immer nach einigen Tagen nur für mehrere Stunden aufgehoben wird. Damit befinden sich zwei Millionen Palästinenser im Würgegriff der israelischen Armee, die die palästinensischen Gebiete in über 80 Kantone ohne direkte Verbindungen zueinander aufgeteilt hat.

Die am 29. März 2002 begonne Operation "Schutzwall" der israelischen Armee unter dem Vorwand der "Bekämpfung des Terrors" bedeutet die faktische Annullierung der Osloer Verträge von 1993. Diese Auflösung der Verträge und die Entbindung Israels aus deren Verpflichtungen war schon immer Ziel und die Strategie des rechtsnationalen Lagers in Israel. Seit der Übernahme der Regierung durch Ariel Sharon im Februar 2001 wurde sie offizielle Regierungspolitik. Von Beginn an lehnte Ministerpräsident Sharon die Entstehung eines Palästinenserstaates in den Grenzen des 5. Juni 1967 ebenso ab wie die Forderungen der internationalen Gemeinschaft nach einem Siedlungsstopp und der Einstellung der Politik der Landenteignung. Außerdem hat er eine Verhandlungslösung mit der Palästinensischen Nationalbehörde (PNA) und deren Präsidenten Yassir Arafat von Anfang an kategorisch zurückgewiesen. Bis zum heutigen Tag versucht Sharon, die Machtbasis Arafats mit dem Ziel zu untergraben, ihn aus Palästina zu vertreiben. Inzwischen ist Sharon sogar so weit gegangen, die Absetzung Arafats und die Durchführung von internen Reformen der PNA nach israelischen Vorstellungen zur Vorbedingung von politischen Gesprächen zu machen.

In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass man nicht Ursache und Wirkung verwechseln darf: Nicht der Widerstand der Palästinenser gegen die Besetzung ist die Ursache der Gewalt, sondern die brutale israelische Besetzung selbst. Der Zusammenbruch des Friedensprozesses nach dem Scheitern der Verhandlungen in Camp David, die Einstellung der Erfolg versprechend geführten Gespräche im Januar 2001 im ägyptischen Badeort Taba auf Anweisung des damaligen Ministerpräsidenten Ehud Barak sowie der Wechsel der israelischen Regierung führten zu einer Eskalation und zu einer Brutalisierung unvorstellbaren Ausmaßes. Im Judentum gibt es einen Lehrsatz, der diese Situation und ihre Folgen trefflich beschreibt: Wo es keine Gerechtigkeit gibt, gibt es auch keinen Frieden. Die hinter den Osloer Verträgen stehenden Ideen - vor allem die Auffassung, dass Israel einen Friedensvertrag aushandeln kann, während das Land gleichzeitig weiter ein Besatzungsregime ausübt - haben sich als Trugschluss erwiesen.

Der Wendepunkt in der Entwicklung kann nicht auf einen Beschluss der palästinensischen Seite zurückgeführt werden, sondern hängt mit dem Regierungswechsel in Israel zu Gunsten einer Partei und eines Ministerpräsidenten zusammen, der seit Beginn des Friedensprozesses ein erklärter Gegner dieses historischen Prozesses gewesen ist. Sharon wollte Oslo und die damit verbundenen Verträge begraben. Das Ziel der israelischen Regierung und der Armee zeichnete sich seit der Regierungsübernahme vor mehr als einem Jahr deutlich ab: Alle aus dem Osloer Vertrag entstandenen Instutionen und Souveränitätsmerkmale der PNA, einschließlich der mit massiver internationaler finanzieller und technischer Unterstützung aufgebauten Wirtschaft, sollten zerstört werden, um die Palästinenser gefügig für eine "Friedensregelung" nach den Vorstellungen des rechtsnationalen Lagers zu machen. Diese Kräfte warfen Rabin, Peres und nicht zuletzt Barak Verrat am jüdischen Volk und an den zionistischen Idealen der Gründergeneration vor.

Sharon nutzte einen folgenschweren Fehler der Palästinenser aus, die es versäumten, zwischen den Formen des zivilen Ungehorsams sowie des friedlichen Protests einerseits und den bewaffneten Auseinandersetzungen andererseits einen deutlichen Trennungsstrich zu ziehen, um die Westbank und den Gaza-Streifen wieder zu besetzen. Sharon war schon immer ein Befürworter direkter Kontrolle über die Palästinenser. Im Rahmen des "Anti-Terror-Krieges" und breiter Unterstützung in Israel sowie durch die USA zur Erreichung seiner Ziele verfolgte er zielstrebig seine Strategie: Jede neue Gewaltwelle rechtfertigte eine neue Invasion, die immer tiefer, brutaler und längerfristiger war. Diese Strategie scheint auch nach Ansicht des israelischen Strategen Jossi Alpher jedoch nicht aufzugehen: Jede neue und heftige israelische Reaktion auf einen palästinensischen Anschlag verfehle ihr Ziel, da ihre Absicht, durch Abschreckung und Bestrafung die Palästinenser zu einem Richtungswechsel in ihrer Strategie zu zwingen, nicht aufgehe. Das Gegenteil sei der Fall: Mit jeder neuen Aktion der Israelis schaffe man neue Selbstmordattentäter.

Der provozierende Auftritt Ariel Sharons am 28. September 2000 auf dem Haram el-Sharif (Tempelberg) löste eine Spirale tödlicher Gewalt aus. In den ersten sechs Monaten der Intifada, also noch unter der Regierung von Barak, starben Hunderte von Palästinensern. Israels Polizei erschoss sogar 14 israelische Palästinenser bei einer Demonstration im Oktober 2000 in Nazareth. Erst die systematische Ermordung angeblicher palästinensischer "Terroristen" durch Autobomben, Angriffe aus Apache-Kampfhubschraubern und durch gezielte, verdeckte Geheimdienstaktionen israelischerseits in den palästinensischen Ortschaften brachte die tatsächliche Wende in den Auseinandersetzungen. Die extremistischen islamischen Kräfte nahmen die Strategie der Selbstmordattentate gegen Zivilisten und Militärs im Kernland Israel und nicht mehr nur in den palästinensischen besetzten Gebieten gegen Militärs und Siedler wieder auf. Aus Angst vor Popularitätsverlust hat sich sogar ein Flügel von Arafats Hausmacht - der Fatah-Bewegung - verselbstständigt und begann - wie die oppositionellen Islamisten und andere links orientierte Organisationen - mit den mörderischen Selbstmordattentaten.

Diese Form der Gewalt ist eine relativ neue Erscheinung im palästinensisch-israelischen Konflikt. Sie ist aus dem Gedanken des Opfertums für Gott und den Zielen und den Interessen des Islams geboren. Unter moslemischen Gelehrten ist diese Form der Interpretation des Opfertums allerdings höchst umstritten. Eine Befürwortung bzw. Ablehnung hängt weitgehend davon ab, wie treu bzw. ablehnend ein Gelehrter sich dem politischen System und seinem autoritären Herrscher in einem arabischen oder islamischen Staat gegenüber verhält.

Im palästinensischen Kontext lehnen der PNA nahe stehende Gelehrte diese Form des Widerstands ab. Die Gelehrten aus dem islamistischen Lager rechtfertigen hingegen diese Form der Gewaltanwendung als ein legitimes Mittel gegen einen militärisch überlegenen Feind. Die zivilen Opfer werden in Kauf genommen, da dies als ein Racheakt für die palästinensischen zivilen Opfer gedeutet wird, die Israel ebenso bewusst tötet oder deren Tötung von Israel als unvermeidbare Konsequenz des militärischen Kampfes mit einkalkuliert wird.

II. Israel bestimmt die Kriterien des Krieges und des Friedens

Die Enttäuschung der Palästinenser über den Westen und insbesondere über die USA mit ihrer Doppelmoral und ihren Doppelstandards in der Durchsetzung internationalen Rechts in Bezug auf den Palästinakonflikt sitzt tief und fördert antiamerikanische und antiwestliche Stimmungen im arabisch-islamischen Raum. Diese Haltungen dienen der antiwestlichen Agitation und haben einen starken Mobilisierungseffekt für die islamistischen Kräfte.

Wenn israelische Panzer und F-16-Kampfbomber zivile Ziele in dicht besiedelten Städten oder Lagern angreifen, gilt dies als legitime Selbstverteidigung. Wenn israelische Belagerungs- und Abriegelungsmaßnahmen monate- oder sogar jahrelang palästinensische Ortschaften in riesige Gefängnisse und Gettos verwandeln, das wirtschaftliche und öffentliche Leben lahmlegen, soziale und humanitäre Organisationen an der Erfüllung ihrer Arbeit hindern und ein ganzes Volk in die völlige Armut getrieben wird, so fällt es sehr schwer, diese Aktionen als notwendige, unvermeidbare Sicherheitsvorkehrungen anzusehen. Weil Israel ein Staat ist, der sich offensichtlich über das Völkerrecht stellen und alle UNO-Resolutionen, die den Konflikt betreffen, ohne Konsequenzen ignorieren darf, gesteht die westliche Staatengemeinschaft ihm auch das Recht auf die militärische Durchsetzung seiner nationalen Interessen zu. Aber wenn sich junge Palästinenser aus totaler Perspektivlosigkeit sowie religiöser und politischer Agitation heraus in einer letzten "Kampfhandlung" mitten unter unschuldigen Israelis in die Luft sprengen, so wird das zwar mit Recht Terrorismus genannt, aber die Verantwortung für diese wahnsinnige Tat wird von Israel mit der Zustimmung oder zumindest Duldung des moralisch "unantastbar" dastehenden Westens dem ganzen palästinensischen Volk aufgebürdet. Das ganze Volk wird mit einer Kollektivstrafe belegt für die Aktionen Einzelner.

Sowohl in Palästina als auch in Israel gibt es politische Gruppierungen, die sich gegen eine für beide Seiten akzeptable Kompromisslösung auf der Basis zwei Staaten für zwei Völker in den Grenzen von 1967 wehren. Auf beiden Seiten ziehen diese Gruppen eine gewaltsame Lösung vor. Sie berufen sich auf politische Strategien, deren Grundlage eine überholte, die politischen Realitäten verkennende ideologisch-religiöse Rechtfertigung ist. Slogans wie: "Wir sind das auserwählte Volk Gottes" oder: "Gott hat uns das Land Israel versprochen" auf der jüdischen Seite, oder: "Wir sind die edelste Nation, die Gott der Menschheit gegeben hat" auf der islamischen Seite erschweren den Weg der Versöhnung und des Ausgleichs für die Realisten und Pragmatiker auf beiden Seiten.

Der eine Unterschied bei dieser Betrachtung liegt darin, dass auf der israelischen Seite diejenigen, die diese Meinung vertreten, die Regierungsmacht in Israel innehaben. Dagegen stellen die Anhänger jener Sichtweise in Palästina eine Minderheit dar und sind in der politischen Opposition zu finden. Der zweite Unterschied besteht darin, dass die Gewaltanwendung durch Israel dem Ziel der Zementierung der illegal besetzten palästinensischen Gebiete und der militärischen Niederkämpfung der Widerstandsbewegung dient sowie der "Disziplinierung" bzw. "Gefügigmachung" der "unbelehrbaren" Palästinenser, wohingegen die Palästinenser den Einsatz von Gewalt als ein Instrument unter vielen anderen zur Beendigung dieser Fremdherrschaft betrachten sowie als Rache für die ihnen aufgezwungene Entmündigung und Entrechtung. Aber beide Lager können als Opponenten jeglichen Friedensprozesses angesehen werden.

III. Palästinenser zwischen "Terrorismus" und "Befreiung"

Seit einiger Zeit wird in Palästina eine kontroverse Debatte um die Selbstmordattentate gegen Zivilisten in Israel geführt. Vorab sei klargestellt: Diese terroristischen Attacken, gleich, ob sie sich gegen israelische oder palästinensische Zivilisten richten, sind zutiefst verabscheuungswürdig. Sie sind ethisch unhaltbar und durch nichts zu rechtfertigen. Es trifft aber auch zu, was der israelische Offizier und Wehrdienstverweigerer Shamei Leibowitz sagte: "Keine noch so große Verdammung dieser Selbstmordattentate wird sie stoppen. Was Bush anscheinend nicht begreift ist, dass diese Attentate Resultat ... der Demütigung des palästinensischen Volkes sind. Bush und seine Berater schaden uns unendlich, indem sie einfach nicht einsehen wollen, dass nur ein sofortiges Ende der israelischen Okkupation ein sofortiges Ende des Palästinenseraufstandes bewirken kann." Es geht darum, dass die Herrschaftsverhältnisse in diesem Kontext entscheidend geändert werden müssen. Der Besatzer muss aufhören, Besatzer zu sein, und der Besetzte muss befreit werden.

Das Bewusstmachen der Realitäten und die Veränderung des Bewusstseins der Beteiligten reicht schon lange nicht mehr aus. Die Realität der Okkupation muss ein Ende haben, damit sind u. a. auch die Grenzposten gemeint, die schwangere Frauen nicht passieren lassen, die dann ihre Kinder verlieren. Von diesen und anderen Schicksalen gibt es Tausende, die mit Sicherheitsfragen nichts zu tun haben.

Umso interessanter ist die Tatsache, dass die Opposition gegen die Selbstmordattentate in der palästinensischen Gesellschaft zunimmt. Obwohl in den letzten zwölf Monaten für diese Attacken ein gewisses Verständnis selbst bei Friedensbefürwortern oder bei Menschen ohne jegliche Bindung an eine ideologische oder religiöse Richtung festzustellen war, sehen viele Menschen darin einen Verzweiflungsakt des Unterlegenen und Schwächeren gegen eine übermächtige Militärmaschinerie, oder, wie der israelische Historiker Moshe Zuckermann es ausdrückte: "Es ist der Aufschrei der Geknechteten und Erniedrigten und der Beleidigten, die zu nichts anderem fähig sind als zur Zerstörung des Landes Israel, auch wenn im Gegenzug Ramallah, Nablus oder Jenin in Schutt und Asche gelegt werden."

Wenn man sich einer politischen Lösung annähern will, ist es offensichtlich, dass solche Attentate - abgesehen von ihrer moralischen Verwerflichkeit - realpolitisch eher Nachteile für die Palästinenser bringen, weil sie Folgendes bewirken:

- Sie mobilisieren die israelische Öffentlichkeit gegen eine Friedensregelung auf der Basis "Land gegen Frieden" und helfen der Propaganda der Friedensgegner, dass die Palästinenser weniger an einem Staat in den Grenzen von 1967 interessiert seien als vielmehr an der Zerstörung des Staates Israel.

- Sie stärken die extremistischen Kräfte in Israel und treiben ihnen immer mehr Anhänger auf Kosten des Friedenslagers und der Befürworter der Beendigung der Besetzung zu.

- Solche Aktionen legitimieren vor der Weltöffentlichkeit die problematischen israelischen Militärschläge gegen die Palästinenser sowie gegen die in den letzten sieben Jahren aufgebaute zivile und politische Infrastruktur und Organisationen.

Es ist ein unverzeihlicher Fehler gewesen, dass die Fatah-Bewegung, die PNA und nicht zuletzt Yassir Arafat persönlich die Militarisierung der Intifada zuließen und sich somit zu Geiseln dieser mörderischen Strategie von "Hamas" und "Islamischem Jihad" gemacht haben. Die Taktik und Methoden der ersten Intifada zwischen 1987 und 1992, die weitgehend friedlicher Natur waren und sich auf Straßendemonstrationen, Maßnahmen zum Boykott israelischer Produkte und der Zivilverwaltung der Israelis sowie auf eine Zermürbung der israelischen Armee konzentrierten, konnten hingegen weltweit und nicht zuletzt in Israel selbst große Sympathien für das Anliegen der Palästinenser erzeugen.

IV. Der Alltag in Palästina

Es ist wohl nur für wenige vorstellbar, was es heißt, zehn Tage oder länger unter einer allumfassenden Ausgangssperre zu leben, eingesperrt mit den Kindern zu sein und oft mit den Eltern in einer nervenaufreibenden Enge, in einer zu kleinen Wohnung zu leben, oft ohne Strom- oder Wasserversorgung, während draußen ununterbrochen Panzer und Mannschaftswagen herumfahren und schießen. Es ist kaum vorstellbar, dass manchmal schon der Versuch eines Ganges nach draußen, um Luft zu schnappen, in einer menschlichen Tragödie enden kann, weil jeder Versuch, dieser Eingeschlossenheit zu entfliehen, von der israelischen Armee mit voller Härte oder manchmal sogar durch Scharfschützen beendet wird. In diesem Zustand der gewaltsamen Gettoisierung leben Hunderttausende von Palästinensern seit vielen Wochen. Über 1 800 Menschen haben ihr Leben verloren, über 40 000 sind verletzt worden, und Tausende sitzen seit Monaten in den Gefängnissen, in den meisten Fällen ohne Anklage oder Gerichtsverhandlung. Viele werden präventiv für Monate in so gennante Administrativhaft genommen. Ministerien, öffentliche Gebäude, auch von Hilfsorganisationen, Moscheen, Kirchen und nicht zuletzt Privathäuser werden beschossen oder zerstört. Auch Straßen, Bürgersteige, Kanalisationssysteme, private und öffentliche Radio- und Fernsehstationen werden im Krieg gegen "die Infrastruktur des Terrorismus" nicht verschont.

Von einem normalen Leben in Palästina kann man schon lange nicht mehr sprechen. Das Normale ist das Ungewisse und das Irreguläre geworden. Die Schulen, Universitäten und Ämter haben allein in den letzten drei Monaten knapp 60 Unterrichts-, Vorlesungs- und Arbeitstage verloren. Das akademische bzw. Schuljahr ist nicht mehr nachholbar und als verloren anzusehen. Die Versorgung der Menschen mit ihren Grundbedürfnissen ist nur auf dem einfachsten Niveau möglich. Selbst internationale Hilfsorganisationen, Journalisten und Diplomaten beklagen die großen Schwierigkeiten, die es zu überwinden gilt, um Hilfe leisten oder frei berichten zu können.

David Hally, Mitarbeiter von Amnesty International, der als unabhängiger Militärexperte eine AI-Delegation begleitete, schrieb in seinem Bericht: "The military operations we have investigated appear to be carried out not for military purposes, but instead to harass, humiliate, intimidate and harm the Palestinian population." Mustafa Barghouthi, bekannt als einer der führenden Persönlichkeiten der palästinensischen Zivilgesellschaft, beschrieb die letzte Invasion der israelischen Armee wie folgt: "The last invasion of Palestinian cities, towns and refugee camps is part of a systematic operation aiming at inflicting destruction of governmental and nongovernmental organizations to destroy the potential to establish an independent Palestinian State."

V. Die wirtschaftliche Lage

Die Wirtschaft der palästinensischen Gebiete durchläuft ihre schwierigste Phase seit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967. Sie hat sich zu einer regelrechten Wirtschaftskrise bisher ungekannter Dimensionen hinsichtlich ihrer Länge, tief greifenden Wirkung und ihrer menschlichen Tragik entwickelt.

Es ist in den neunziger Jahren, trotz aller Misswirtschaft und Korruptionsskandale, Beachtliches hinsichtlich des Lebensniveaus und wirtschaftlichen Aufschwungs erreicht worden. Straßen und öffentliche Gebäude wurden gebaut, Schulen und Kindergärten eröffnet; ebenso gründeten sich private Banken, und Dutzende von Nichtregierungsorganisationen sind entstanden. Viele Dörfer wurden zum ersten Mal an die Elektrizität- und Wasserversorgung angeschlossen. Bildungseinrichtungen und Gesundheitszentren gründeten sich neu. Internet-Cafés sind mit privatem Kapital selbst in entlegenen Dörfern eröffnet worden. Die palästinensischen Gebiete schienen nach 30-jähriger Vernachlässigung Anschluss an die Moderne zu finden. Mit dem Beginn des provozierten Aufstandes der Palästinenser im September 2000 fand diese Entwicklung ein plötzliches Ende.

Folgende signifikante Folgen für die palästinensische Wirtschaft sind festzuhalten:

- Die Infrastruktur der palästinensischen Wirtschaft wie Flughafen, Hafen, Straßen, Strom- und Wasserwerke ist systematisch und zielgerichtet zerstört worden.

- Die Handelsströme zwischen den palästinensischen Gebieten und den internationalen Handelspartnern sind entweder durch Sperrung der Außengrenzen oder Verbot von Export und Import über die israelischen Häfen und Flughäfen völlig zusammengebrochen. Selbst der Handel mit Israel ist in den letzten 18 Monaten deutlich zurückgegangen. Die Importe der Palästinenser aus Israel, die 86 Prozent der Einfuhren der Wirtschaft ausmachten, ihre Exporte nach Israel hatten einen Anteil von 64 Prozent an den gesamt Ausfuhren betragen, beschränken sich inzwischen fast ausschließlich auf lebensnotwendige Güter.

- Der Anstieg der Arbeitslosigkeit vor der totalen Besetzung der Westbank im März diesen Jahres unter der palästinensischen Bevölkerung beläuft sich auf ca. 53 Prozent. Von 651 000 Arbeitskräften sind 350 000 ohne Beschäftigung. In den letzten Monaten ist die Quote für die Westbank auf 78 Prozent angestiegen. Durch den Wegfall von 143 000 Arbeitsplätzen von Palästinensern, die bis zum Ausbruch der "Intifada" eine Beschäftigung in Israel fanden und durchschnittlich 118 Shekel (1 Shekel = 0,25 Euro) täglich verdienten, verlor die palästinensische Wirtschaft ca. 850 Mio. US-Dollar an Einnahmen im Jahre 2001.

- Der Lebensstandard der Bevölkerung ist auf ein bisher ungekanntes Niveau zurückgegangen. Inzwischen leben 64 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, die bei 360 Euro pro Jahr liegt. Zum Vergleich: Die Armutsgrenze in Israel liegt bei 1 100 Euro. Auch das durchschnittliche jährliche Pro-Kopf-Einkommen ist in der Westbank von 2 200 Euro auf 1 000 Euro gesunken. Im Gaza-Streifen sieht die Lage noch wesentlich dramatischer aus. Dort ist das jährliche Pro-Kopf-Einkommen von 1 700 Euro auf 800 gesunken. In Israel liegt das Jahreseinkommen pro Einwohner bei ca. 17 000 Euro.

- Die heimische Industrie arbeitet aus vielen Gründen - Straßensperren, fehlende Ersatzteile oder Grund- und Rohmaterialien sowie nicht zuletzt aufgrund der Schwierigkeiten, sowohl die Binnen- wie die Auslandsmärkte zu erreichen - nur noch mit 30 Prozent ihrer bisherigen Kapazität.

- Die PNA sieht sich zunehmend außerstande, die monatlichen Gehälter ihrer 132 000 "Staatsbediensteten" regelmäßig zu bezahlen. Einige Beamte und Angestellte haben seit Monaten entweder keine Gehälter erhalten oder sie bekommen sie in zwei- bis dreiwöchentlichen Raten. Die PNA benötigt monatlich ca. 90 Mio. US-Dollar, um ihre Gehälter zahlen zu können.

- Die internationalen finanziellen Aufbau- und Förderungsmittel für den öffentlichen und zivilen Sektor - speziell die der EU - sind um knapp 50 Prozent zurückgefahren worden, insbesondere weil viele Projekte in dem herrschenden Kriegszustand aus praktischen und technischen Gründen nicht ausgeführt werden können. Ein weiterer Grund ist in der Stagnation des Friedensprozesses zu suchen. Die EU ist neben den arabischen Staaten immer noch der Hauptfinanzier der PNA. Auf den letzten Gipfelkonferenzen der arabischen Liga in den Jahren 2000/2001 haben sich die Mitglieder verpflichtet, die PNA mit zwei Milliarden US-Dollar zu unterstützen. Inzwischen fliessen nur ca. 50 Mio. US-Dollar monatlich ab, um nur das Minimum an laufenden Kosten zu decken. Aber trotz all dieser Zuwendungen sah sich die PNA in den letzten Monaten gezwungen, Bankkredite aufzunehmen und ihre Beteiligungen an Firmen und Unternehmen zu verkaufen, um ihren Verpflichtungen gerecht werden zu können und um die Haushaltslöcher zu stopfen.

- Das öffentliche Leben ist in weiten Teilen des Landes zum Erliegen gekommen. Die Verbindungsstraßen zwischen den verschiedenen Landesteilen sind über Monate hinweg von den israelischen Besatzungstruppen blockiert. Viele Mitarbeiter von Ministerien und staatlichen Behörden können ihre Arbeitsplätze nicht erreichen.

- Der Tourismussektor, der als die Haupteinnahmequelle der palästinensischen Wirtschaft gilt, ist völlig zum Erliegen gekommen. Hunderte von diesem Sektor abhängige Dienstleistungsbetriebe sind zusammengebrochen. Tausende von Menschen, hauptsächlich in den Regionen von Jerusalem, Bethlehem und Jericho, sind arbeitslos geworden.

Die Gesamtverluste der palästinensischen Wirtschaft belaufen sich auf ca. sechs bis sieben Milliarden US-Dollar. Die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich von Tag zu Tag, und die humanitäre Situation von immer breiteren Bevölkerungsteilen wird ständig kritischer. Von einer normal funktionierenden Wirtschaft kann also nicht mehr gesprochen werden. Die Wirtschaft befindet sich in einem Prozess des Verfalls mit all den damit verbundenen Risiken der Verarmung von weiten Teilen der Bevölkerung und der damit einhergehenden Radikalisierung der Menschen, insbesondere der Jugendlichen.

VI. Reformen zwischen interner Notwendigkeit und externen Forderungen

Der Ruf nach politischen, wirtschaftlichen, administrativen und juristischen Reformen ist in den letzten Jahren immer lauter geworden. Sie sind auch ein palästinensisches Bedürfnis. Darin waren sich alle politischen Gruppierungen einschließlich maßgeblicher Strömungen innerhalb der Fatah-Bewegung von Jassir Arafat einig. Die Unzufriedenheit mit den Leistungen der PNA erreichte ihren Höhepunkt kurz vor der Zerstörung und Belagerung des Hauptquartiers der PNA in Ramallah. Die Bekämpfung der Korruption des Autonomieapparats, finanzielle Verantwortlichkeit und Transparenz auf allen Ebenen, Rechtsstaatlichkeit und regelmäßige Wahlen waren die Kernforderungen der meisten Menschen und Organisationen. Der palästinensische Legislativrat hat zusammen mit Nichtregierungsorganisationen sowie einer Koalition aus Bürgerinitiativen und politischen Organisationen durch Petitionen, Untersuchungsberichte und Demonstrationen die Frage der Reformen zu einem gesamtgesellschaftlichen Thema gemacht.

Nach langem Zaudern gab Arafat unter massivem Druck der Bevölkerung, der Volksvertreter, den Amerikanern und Europäern nach. Er unterzeichnete das Grundgesetz, das Dekret zur Abhaltung von Wahlen für die Präsidentschaft und den Legislativrat sowie das Gesetz zur Unabhängigkeit der Justiz. Außerdem folgte Arafat den Empfehlungen des parlamentarischen Wahlausschusses und legte die Wahlen für die Kommunalverwaltungen für März 2003 fest. Diese drei Grundpfeiler jeder demokratischen Grundordnung sind Teil eines umfassenden Generalumbaus, mit dem eine neue Phase des Staatsaufbaus begonnen hat. Sie dient nicht zuletzt der Demonstration von Handlungsfähigkeit der PNA und ihres Präsidenten. Zugleich könnte dieser Schritt den Delegitimierungsversuchen seiner Amtskompetenz entgegenwirken. Der Grundgesetzentwurf war seit 1994 Gegenstand von Diskussionen und Verbesserungsvorschlägen in allen Schichten der palästinensischen Gesellschaft. Viele mit Demokratiefragen befassten Nichtregierungsorganisationen haben Hunderte von Veranstaltungen, Seminaren und Workshops abgehalten, um an der Ausarbeitung eines Grundgesetzes mitzuwirken, dessen demokratischer Gehalt sich vom regionalen Durchschnitt eindeutig abhebt.

Das palästinensische System, als es noch existierte, wies deutliche Merkmale eines korrupten Systems auf, das die Mehrheit der Palästinenser ablehnten und verurteilten, lange bevor George W. Bush und Ariel Sharon ihre Vorliebe für das "Wohlergehen" der Palästinenser entdeckten. Es wird das Bild dieses Systems nicht in einem besseren Licht erscheinen lassen, wenn man feststellt, dass unzählige andere Staaten korrupter sind, ohne dass daran von den USA Anstoß genommen wird.

Die lang erwartete Nahostrede von US-Präsident Bush verwirrte alle betroffenen Parteien bis auf die Extremisten in Palästina und das rechte Lager in Israel. Selbst die Verbündeten der USA wollten auf ihrem G-8-Treffen in Kanada die Forderungen Bushs nach einer Entmachtung Arafats nicht teilen. In Palästina kursiert zur Zeit ein Witz, der die völlige Übernahme der israelischen Sichtweise durch US-Präsident Bush zum Inhalt hat. "Wisst ihr, warum die Rede Bushs mehrmals verschoben werden musste? Ja, weil man in Washington eben lange brauchte, um sie vom Hebräischen ins Englische zu übersetzen." Diese Rede war unrealistisch, obwohl sie einige elementare Prinzipien einer zukünftigen Lösung, wie die Beendigung der Besetzung, die Einstellung der Besiedlungspolitik und die Gründung eines Staates Palästina, enthielt. Ihr fehlte ein Umsetzungsmechanismus und eine Zeitdimension. Der israelische Opposionspolitiker Jossi Sarid charakterisierte die Rede wie folgt: "Sie entspricht mehr einer amerikanischen Vision und weniger den nahöstlichen Realitäten. Sie ist unrealistisch, weil sie gerade Ramallah zur Zwillingsschwester von Westminster erhebt."

Das Problematischste an Bushs Rede ist, dass er die Schuld an dieser Krise allein den Palästinensern zuschiebt. Dass er die Gewalt der Palästinenser als den Grund des Konflikts ansieht und die 35-jährige israelische Besetzung völlig ignoriert. Äußerst bedenklich in diesem Zusammenhang ist, dass er den palästinensisch-israelischen Konflikt innerhalb seines Anti-Terror-Krieges sieht und das Moment der Emanzipation und Befreiung für die Palästinenser unberücksichtigt lässt. Bush legitimiert die brutale Politik Sharons und ermuntert ihn, damit fortzufahren, indem er keine praktischen Schritte von ihm verlangt, die zu einer Deeskalation der Situation führen, bevor die eingeschlossenen und weitgehend handlungsunfähig gemachten Palästinenser und Arafat seine Wunschliste erfüllt haben.

Es ist höchst fragwürdig, wenn Bush autoritäre und undemokratische Staaten wie Saudi-Arabien, Ägypten oder Jordanien mit dem Demokratisierungsprozess in Palästina beauftragen möchte. Dieser Ansatz kann mit Sicherheit den Erfolg der Reformen nicht gewährleisten. Die Zeit ist gekommen und die Bereitschaft der Palästinenser ist vorhanden, um den Prozess der Veränderung voranzutreiben. Die politischen Gruppen und Organisationen der Zivilgesellschaft sind bereit, politische Verantwortung zu übernehmen. Es bedarf allerdings der tatkräftigen politischen, moralischen und nicht zuletzt der technischen Unterstützung der Weltgemeinschaft, insbesondere Europas, um die existierende Chance nicht zu verpassen.

VII. Die palästinensische Zivilgesellschaft und ihre "Friedensvorstellungen"

Es ist prinzipiell problematisch, aus den Statuten von Nichtregierungsorganisationen (NGO), die sich a priori als professionelle und nicht politische Organisationen definieren, eine politische Position zu potenziellen Lösungsansätzen des Konfliktes abzuleiten. Die überwiegende Mehrheit der NGO sind in fünf großen Dachverbänden zusammengeschlossen. Drei davon vertreten mehrheitlich die im Gaza-Streifen befindlichen Organisationen. Die meisten von ihnen sind nach der Rückkehr der PLO aus dem Exil entstanden. Sie vertreten etwa 120 Organisationen. Ihre Hauptbetätigungsfelder sind der Friedensdienst, Dialogprojekte und Jugendaustausch mit Israelis und mit dem Ausland sowie Regionalprojekte im Tourismus- und Umweltbereich. Sie sind auf Betreiben der PNA entstanden und gelten als die "offiziellen" Nichtregierungsorganisationen wegen ihrer politischen Nähe zur PNA. Ihre Gründung sollte den Einfluss der PNA auf die internen Entwicklungen der NGO ermöglichen und ihre gesellschaftlichen Außenwirkungen in gewisser Form steuern. Aber auch die Teilhabe an den Zuwendungen dieser Organisationen stand im Mittelpunkt dieser Strategie. Allerdings blieb der Wirkungsgrad dieser Verbände, die seit fünf Jahren existieren, trotz der offiziellen Bevorzugung begrenzt.

Der größte und traditionsreichste Dachverband des Landes ist der Wohltätigkeitsverband. Er entstand noch unter jordanischer Herrschaft in den sechziger Jahren und umfasst knapp 450 Organisationen. Die überwiegend in der Frauen-, Kinder- und Jugendarbeit tätigen Organisationen gelten als Friedensbefürworter und unterstützen die offizielle Politik der PNA.

PNGO (Palestinian Non-Governmental Organisations Network) ist der Verband der so gennanten modernen und professionellen Organisationen; er umfasst etwa 80 Mitglieder. Er gilt als der schlagkräftigste und kreativste Verband. Dieses Netzwerk hat Mitglieder aus allen politischen Lagern und Sektoren des zivilen Lebens mit Ausnahme der Islamisten. Seine zum Teil kritische Begleitung der Leistungen der Autonomiebehörde machte ihn über die Grenzen Palästinas zum unabdingbaren Gesprächspartner vieler politischer und professioneller Besucher des Landes. Grundsätzlich gehen die meisten Mitglieder des Verbandes mit den Friedens- und Lösungsansätzen der PNA konform, trotz ihrer Bedenken bezüglich der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik der Regierung Arafat. Die Mitglieder des Verbands haben vielfältige Arbeitsbeziehungen mit behördlichen Stellen einschließlich des Legislativrats, insbesondere im Gesetzgebungsbereich.

Die Anfänge der Entstehung einer von der Staatsmacht unabhängigen modernen Zivilgesellschaft sind auf die britische Mandatszeit der zwanziger Jahre in Palästina zurückzuführen. In der Zeit der osmanischen Herrschaft beschränkten sich die zivilen Organisationen auf einige Wohltätigkeits- und familiäre Verbände. Die ersten Organisationen waren Gewerkschaften, Frauenverbände und politische Parteien in den Städten Jaffa, Haifa und Jerusalem. Die Arbeit dieser Organisationen hatte seit Beginn des Jahrhunderts auch eine national-politische Dimension, die u. a. die Auseinandersetzung zwischen Palästinensern und einwandernden Juden um die Zukunft Palästinas beinhaltete.

Die Rolle der zivilen Organisationen in der Herausbildung einer originären palästinensischen Zivilgesellschaft könnte in folgende Phasen aufgeteilt werden:

- 1917 bis 1948 konzentrierten sich die zivilen Organisationen auf die Organisierung der Aktionen und Forderungen nach staatlicher Unabhängigkeit, auf die Sicherstellung der Rechte der Arbeiter und die Emanzipierung der Frauen. Die Abwehr der bedrohlich gewordenen jüdischen Einwanderung und die Hilfeleistung für die land- bzw. wohnungslose palästinensische Bevölkerung stand im Vordergrund.

- 1948 bis 1967 durchliefen die noch existierenden Organisationen nach Verlust der Heimat und der Auflösung der traditionellen sozialen Strukturen der Gesellschaft eine Phase der Hoffnungslosigkeit, der Umorientierung und des Wiederaufbaus. Am Ende dieser Phase stand die Unterstützung für Hundertausende von Flüchtlingen im Mittelpunkt der Aktivitäten.

- 1967 bis 1982 wird als Periode der so genannten "Unmöglichen Entwicklung im Schatten der Besatzung" bezeichnet. Obwohl diese Phase eine wichtige Etappe in der Wiedererstarkung der zivilen Organisationen darstellt, insbesondere durch die Zunahme der Rolle der PLO als gesamtpalästinensische Vertretung, konzentrierten sich die Anstrengungen auf den Widerstand gegen die Besatzung. Die entstandenen Massenorganisationen wie Berufsverbände, Studentenvereine und Freiwilligenverbände blieben in ihren Aktivitäten auf das Exil fokussiert ohne signifikanten Einfluss auf die besetzten Gebiete. Man ging von der Annahme aus, dass jegliche Entwicklungsanstrengung durch die Besatzungspraktiken ohnehin durchkreuzt würde.

- 1982 bis 1988 entstanden die meisten z. Z. noch existierenden Organisationen und Komitees. Das Zentrum der zivilen Arbeit verlagerte sich vom Exil ins Kernland Palästina. Sie übernahmen quasi staatliche Aufgaben in fast allen Lebensbereichen von Gesundheit, Bildung, Landwirtschaft, Entwicklung bis hin zu Kultur und Information. Viele Organisationen waren zwar verlängerte Arme der PLO-Gruppen, dennoch konnten sie eine alternative Entwicklungsstrategie herausbilden, die sich wesentlich von den traditionellen Formen unterschied. Sie etablierten demokratische Organisatiosstrukturen, die bürgernah waren und eine große Anzahl von Mitgliedern aufwiesen. Sie lösten sich von ihrem elitären Selbstverständnis und haben ihre gesellschaftlischen Aufgaben vom Primat der Politik befreien können, wodurch sie mehr an Ansehen und Professionalität gewannen.

- 1988 bis 1992 war während der ersten Intifada das vorherrschende Ziel der Arbeit der zivilen Organisationen die Gewährleistung der Standhaftigkeit der Bevölkerung. Darüber hinaus war man bemüht, eine internationale Öffentlichkeit für die Belange der Palästinenser herzustellen. Deswegen entstanden viele Forschungs- und Medieneinrichtungen, Umwelt-, Trainings- und Kreditinstitutionen. Man war von der Hoffnung auf die baldige Ausrufung eines Staates beflügelt.

- Die Phase nach den Osloer Verträgen brachte die tatsächliche Wende in der Arbeit der zivilen Gesellschaft. Sie wurden inzwischen zu Konkurrenten der neu entstandenen Autonomiestrukturen. Ein Kampf um die ausländischen Fördermittel setzte ein. Die PNA begann, die Arbeit einiger Organisationen beschränken und kontrollieren zu wollen. Während die PNA die Arbeit einiger Organisationen allmählich tolerierte, weil sie zur Übernahme ihrer Aufgaben nicht imstande war, versuchte sie andere wie Demokratie-, Frauen- und Menschenrechtsorganisationen zu behindern und zu drangsalieren. Nichtsdestoweniger haben insbesondere NGO-Netzwerke enormen gesellschaftlichen Druck zugunsten von inneren Reformen und Demokratisierung erzeugt. Selbst die Volksvertreter machten sich das NGO-Know-how zu Eigen, um bestimmte Gesetzesvorhaben mit dem notwendigen Fachwissen auszustatten.

In der palästinensischen Realität - wie in anderen Staaten auch - kann man hinsichlich der Zielsetzung von Nichtregierungsorganisationen zwei Hauptmerkmale unterscheiden:

Zur ersten Kategorie gehören die politischen Parteien mit ausschließlich politischen Zielen, die zur Machtergreifung im Staat führen können. Sie haben einen festen Mitgliederstamm und sind mehrheitlich abgewandelte Kampforganisationen aus alten PLO-Zeiten. Ihre Struktur weist erhebliche Demokratiedefizite auf, und sie sind mit demokratischen Parteien im westlichen Verständnis nicht vergleichbar, trotz ernsthafter Bemühungen einiger, westliche Standards zu erreichen. In den palästinensischen Gebieten und im syrischen Exil existieren 15 solcher Parteien und Gruppen.

Zur zweiten Gruppe zählen alle die anderen NGO, die keine direkten politischen Ziele verfolgen und deren Aufgaben in der Entwicklung und Förderung aller gesellschaflichen Schichten in vielen Lebensbereichen liegen. Ihre Mitgliedschaft folgt weniger festen Strukturen und basiert auf freiwilliger Arbeit und spezifischen Fachkenntnissen. Davon gibt es in Palästina etwa 800 Organisationen von unterschiedlicher Größe und unterschiedlichem Wirkungsgrad. Einige sind landesweit tätig, wohingegen andere lokalen Charakter haben.

Eine Klassifikation der palästinensischen NGO-Szene ergibt folgendes Bild:

Karitative Gesellschaften und Genossenschaften: Sie sind die ältesten Formen der Selbstorganisation in Palästina. Dazu zählen sowohl die moslemischen als auch die christlichen Organisationen.

Massenorganisationen: Dazu zählen Gewerkschaften, Frauenverbände, Flüchtlingslagerkomitees, Jugendklubs und die Bewegung der Freiwilligen. Ihre Defizite lagen in ihrer Politisierung, die zu Lasten der Befriedigung der Bedürfnisse ihrer Mitglieder ging. Diese wie einige der nachfolgenden Organisationen dienten u. a. der Rekrutierung von Mitgliedern für ihnen nahe stehende Parteien. Man kann sie aber als die Basisschulen der später gegründeten Institutionen der Zivilgesellschaft klassifizieren.

Die professionellen Entwicklungshilfeorganisationen sind im Gesundheitswesen und in der Landwirtschaft angesiedelt. Ihre Organisationsformen sind den Konzepten der ehemaligen kommunistischen Parteien entliehen und wirkten hauptsächlich in den Flüchlingslagern und den ländlichen Gebieten.

Zentren für Forschung, Information und Kommunikation, Demokratie, Umwelt und Menschenrechte: Diese haben eine beschränkte Massenbasis, dafür aber eine wichtige Funktion in der Volksbildung und Mobilisierung. Sie sind in den letzten Jahren zu den Hauptempfängern der Finanzmittel aus den Geberländern geworden. Ihre kritische Haltung gegenüber der PNA führte zunehmend zu Spannungen zwischen beiden Seiten.

Institutionen zum Schutz der Rechte spezifischer Gruppen und Minderheiten: Sie sind die jüngste Form der Vertretung von Interessengruppen wie z. B. von körperlich Behinderten, Gefangenen und Internierten. Bürger- und Dorfinitiativen werden zunehmend zu einer allgemeinen Erscheinung in der Gesellschaft.

Die politischen Parteien wie die Organisationen der Zivilgesellschaft lassen sich generell in Befürworter und Gegner des Friedensprozesses einteilen. Einige sind aufgrund ihrer religiös-ideologischen Positionen grundsätzlich dagegen, wie die islamische Hamas-Bewegung, die Al-Jihad Al-Islami und andere kleinere Abspaltungen der islamischen Bewegung. Sie erziehen ihre Anhänger im selben Sinne bis hin zu der Organisierung des bewaffneten Widerstandes. Sie verfolgen das Ziel eines islamischen Palästina zwischen Jordan und Mittelmeer. Die Gesellschaft muss nach der islamischen Gesetzlichkeit gestaltet werden, in der allerdings Juden und Christen unbehelligt leben können. Es liegt aber durchaus im realistischen Bereich, dass diese Organisationen ihre Standpunkte ändern würden, wenn Israel die besezten Gebiete räumen würde. Weil dies das Ziel jedes palästinensischen Nationalisten ist und der Nationalismus dieser Islamisten ausgeprägter ist als ihr religiöser Eifer, ist die Einnahme einer pragmatischen Haltung durchaus vorstellbar.

Die anderen Parteien, die dem Ablehnungslager zuzurechnen und hauptsächlich in Syrien beheimatet sind - mit Ablegern in Palästina -, sind entweder säkular-nationalistisch oder sozialistisch orientiert. Sie akzeptieren eine Koexistenz mit Israel nur auf der Basis des totalen Rückzugs aus den 1967 besetzten Gebieten ohne Einschränkung irgendwelcher Souveränitätrechte einer palästinensischen Staatlichkeit, wie von Israel gefordert wird. Für sie muss es eine Gesamtlösung für alle umstrittenen Fragen zwischen Israel und der arabischen Seite geben. Außerdem halten sie die Fortsetzung des bewaffneten Kampfs für ein legitimes Mittel zur Durchsetzung ihrer nationalen Ziele.

Die ihnen nahe stehenden NGO, die in Palästina arbeiten, haben eine pragmatischere Haltung als ihre Mitglieder im Exil. Insbeondere die NGO aus diesem Lager haben sich der Gesetzlichkeit der von ihnen abgelehnten PNA völlig untergeordnet und leisten einen wichtigen Aufbaubeitrag. Die Mitarbeiter dieser NGO könnten die Keimzellen der Annäherung der politischen Positionen dieser Gruppen an die der Fatah-Bewegung und der PNA sein. Dies ist umso wichtiger, weil sie an der Basis der Gesellschaft wirken und somit die Volksmeinung beeinflussen können. Da ihre politischen Auffassungen mit denen aus dem Osloer Lager - ein Staat Palästina neben Israel in den Grenzen von 1967 - nicht weit auseinander liegen, könnten sie als Verbündete eine realistische Konkurrenz zu den Islamisten an der Basis darstellen. Ihre Forderungen nach Demokratisierung, Rechtsstaatlichkeit, Transparenz und Menschenrechten, verbunden mit einer Kritik an den Missständen in der PNA, teilen sie mit allen NGO und Parteien einschließlich der islamischen Organisationen. Die Nichtregierungorganisationen, die dem Osloer Block (Fatah, Fida und Volkspartei) nahe stehen, unterstützen eine friedliche Regelung des Konflikts auf der Basis von zwei Staaten. Die Akzeptanz eines Staates Palästina auf nur 22 Prozent der ursprünglichen Heimat (Westbank und Gaza-Streifen) ist die Mindestforderung.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Shamai Leibowitz, Ein israelischer Offizier antwortet Präsident Bush, in: Znet vom 27. Juni 2002.

  2. Vgl. Jossi Alpher, Eine israelische Sicht. Die Rechnung für die Gewaltanwendung, zit. in: (www.bitterlemons.org) vom 3. Juli 2002.

  3. Vgl. Salim Tamari, Eine palästinensische Sicht. Welche Form des Widerstandes? (arabisch), in: (www. bitterlemons.org) vom 3. Juli 2002.

  4. Vgl. Victor Kocher, in: Neue Zürcher Zeitung vom 30. Mai 2002.

  5. Vgl. Ghassan Khatib, Eine palästinensische Sicht. Die Botschaft des israelischen Volkes (arabisch), in: (www.bitterlemons.org/Arabic/issue) vom 3. Juli 2002.

  6. S. Leibowitz (Anm. 1).

  7. Vgl. Defence for Children International, 2002 Siege on Palestine. DCI/PS Updates on the Siege.

  8. Vgl. Amnesty International, 2002. Israel and the occupied territories, the heavy price of Israeli incursions, Al-index: MDE 15/042/2002, MDE 15/058/2002.

  9. Moshe Zuckermann, Nahosten: Die Logik der Okkupation, in: IZ3W, (2002) 261.

  10. Vgl. Gideon Levy, Eine Million Menschen unter Ausgangsperre, in: Haaretz vom 30. 6. 2002.

  11. Vgl. JMCC, Besieged go hungry and wounded deteriorate inside the presidential compound, Israeli military, tanks besiege Bethlehem's Chuch of Nativity vom 25. April 2002.

  12. Vgl. Addameer Prisoner support and Human Rights Association, Thousands of Palestinians blindfolded, handcuffed and tortured (2002).

  13. Vgl. Teacher Creativity Center/Ramallah, Israeli Occupation Forces Assault on the Palestinian Community, Mai 2002.

  14. Ebd.

  15. Ebd.

  16. Vgl. George Giacaman, A Palestinian View: President'Bush's Speech: A Failure of Leadership, in: (www.bitterlemons.org) vom Juni 2002.

  17. Vgl. Victor Kocher, Unterzeichnung eines Grundgesetzes für Palästina, in: Neue Zürcher Zeitung vom 2. Juni 2002.

  18. Vgl. ders, in: Neue Zürcher Zeitung vom 30. Mai 2002.

  19. Vgl. Ghassan Khatib, A Palestinian View. Putting conditions on a stalled peace, in: (www.bitterlemons.org) vom 1. Juli 2002.

  20. Jossi Sarid, Vorsitzende der oppositionellen Meretz Partei, Offener Brief an den Amerikanischen Präsidenten, in: (www.ynet.co.il) vom 27. Juni 2002.

  21. Vgl. zur Geschichte im Folgenden: Bisan Center for Development and Research Ramallah, Juli 2001 (arabisch).

  22. Vgl. Mustafa Barghouti, Organisationen der Zivilgesellschaft und ihre Rolle in der Zukunft (arabisch), Ramallah 1995.

M.A., geb. 1956; seit 1994 Mitarbeiter der Friedrich-Naumann-Stiftung in Jerusalem; Lehrbeauftragter an der Universität Bethlehem.

Anschrift: P.O. Box 217, Beit Jala, Palästina.
E-Mail: khouloud@p-ol.com

Zahlreiche Veröffentlichungen zur politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Palästina.