Einleitung
Als sich die beiden deutschen Staaten im Jahre 1990 vereinten, gab es euphorische Einschätzungen über die wirtschaftlichen Perspektiven. Befreit von sozialistischen Fesseln und mit marktwirtschaftlichem Schwung schien ein "zweites deutsches Wirtschaftswunder" möglich, diesmal auf ostdeutschem Boden. Die Euphorie ist rasch verflogen. Zwölf Jahre nach der Vereinigung beider deutscher Staaten am 3. Oktober 1990 ist Ostdeutschland immer noch mit gravierenden Problemen konfrontiert. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Menschen wandern ab. Die wirtschaftliche Leistung je Einwohner erreicht nicht einmal zwei Drittel des westdeutschen Niveaus. Die neuen Länder sind auf Finanztransfers angewiesen.
Der Aufholprozess ist langwieriger und mühseliger, als man es sich ursprünglich vorstellte. Dennoch gelangen die Wirtschaftsforschungsinstitute zu der "Erkenntnis, dass die Lage in Ostdeutschland keineswegs so hoffnungslos ist, wie es in der Öffentlichkeit vielfach dargestellt wird".
Der vorliegende Beitrag ist auf die neuen Länder als Ganzes gerichtet. Eine Analyse der regionalen Unterschiede ist hier leider nicht möglich.
I. Herausforderungen
Die Ausgangslage der ostdeutschen Entwicklung war durch die prekäre wirtschaftliche Situation der DDR gekennzeichnet.
Der DDR schaffte es nicht, die Infrastruktur in Ordnung zu halten. Verkehrs- und Kommunikationssysteme waren marode. Wohnungen und Industriegebäude verfielen, weil es an den Mitteln zur Reparatur fehlte. Die Umwelt - Luft, Wasser, Boden - wurde durch die Produktion schwer belastet. Für nachhaltigen Umweltschutz fehlten der DDR die Mittel.
Die Mieten sowie die Preise für ausgewählte Konsumgüter, viele Nahrungsmittel, die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel usw. waren niedrig. Sie wurden durch hohe Subventionen und nicht durch niedrige (Produktions-)Kosten auf diesem Niveau gehalten. Auf die Dauer war das finanziell nicht durchzuhalten.
Es gab Vollbeschäftigung. Aber die hohe Erwerbstätigkeit war nicht der Ausdruck wirtschaftlicher Stärke, sondern des Gegenteils. Die DDR musste alle Arbeitskraftreserven mobilisieren, um ihre unwirtschaftlich arbeitenden Betriebe überhaupt am Laufen zu halten. Es wurde viel Arbeit verbraucht, weil die Arbeit nicht wirtschaftlich eingesetzt wurde - kein Grund für DDR-Nostalgie!
Die kritische Lage der DDR ist nicht den Menschen anzulasten, die in ihr arbeiteten. Sie war die Folge einer fehlleitenden Wirtschaftsordnung. Die DDR war eine sozialistische Planwirtschaft, in der das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft worden war. Freies Unternehmertum wurde unterbunden. Statt des Preismechanismus koordinierte staatliche Lenkung die Wirtschaft, dies immer schlechter und schließlich bis zum Zusammenbruch.
Die Herausforderung nach dem Scheitern der DDR war enorm. Es galt, die abgeschottete sozialistische Wirtschaft in eine offene, international konkurrenzfähige Marktwirtschaft zu transformieren. Das war leichter gesagt als getan. Das Rückgrat der Marktwirtschaft, das Unternehmertum, war in der DDR weggedrängt worden. Den in der sozialistischen Gesellschaftsordung sozialisierten Arbeitskräften fehlten Erfahrungen für eigenverantwortliche unternehmerische Betätigung. Die Regeln und Institutionen der Marktwirtschaft mussten einer Bevölkerung vermittelt werden, die mit der Planwirtschaft einen gänzlich anderen Erfahrungshintergrund hatte.
Die größte Bedrohung für die Transformation war der Verdrängungseffekt. Nach dem Fall der Mauer konnte Ostdeutschland sofort von Produzenten aus aller Welt beliefert werden. Es bestand die akute Gefahr, dass die ostdeutschen Betriebe von überlegenen auswärtigen Konkurrenten vom Markt verdrängt werden würden. Das war denn auch die strategische Herausforderung für die Wirtschaftspolitik: Produktion in den neuen Ländern gegen den internationalen Verdrängungsprozess zu halten und zu entwickeln. Das geschah mit Erfolg.
II. Erfolge
Misst man die heutige wirtschaftliche Situation Ostdeutschlands an der desolaten Ausgangslage, ist der Transformation Erfolg zu bescheinigen. Die Menschen sind nicht mehr einer Mangelwirtschaft ausgeliefert. Die Unternehmen werden nicht mehr durch planwirtschaftliche Vorgaben und Materialengpässe beeinträchtigt. Die Infrastruktur ist in vielen Bereichen - Fernverkehrswege, Kommunikationssysteme, Krankenhäuser - modernisiert und saniert worden. Der Engpass bei Wohnungen ist beseitigt, deren Qualität auf ein zeitgemäßes Niveau gebracht worden. Die Umweltschäden sind weitgehend behoben. Heute werden internationale Umweltstandards eingehalten.
Bei den Wachstumsfaktoren war es in der vergangenen Dekade noch das leichteste, Investitionen zu mobilisieren, um den veralteten Produktionsapparat auf einen modernen Stand zu bringen. Engpässe beim Faktor Humankapital, die bei den in der DDR sozialisierten Arbeitskräften u. a. in mangelnden marktwirtschaftlichen Erfahrungen bestanden, sind durch Lernprozesse und Managementtransfers aus Westdeutschland abgebaut worden. Günstig war die Situation beim Faktor technisches Wissen, standen doch leistungsfähige Forscher zur Verfügung, die ihr Entwicklungspotenzial nun nicht mehr durch sozialistische Mangelerscheinungen beeinträchtigt sahen. Überdies wurde Technologietransfer aus dem Westen möglich. Das größte Hemmnis lag auf der Absatzseite. Die nach der Wende gegründeten oder privatisierten Unternehmen mussten in die für sie neuen westlichen Märkte eindringen. Doch unbekannt, wie sie dort anfänglich waren, ohne vorzeigbare Referenzen, zudem kapitalschwach, mit einer zunächst schmalen, gerade erst entwickelten und noch nicht bewährten Produktpalette erwies sich der Marktzugang oft als schwierig. Viele Unternehmen waren hier dennoch erfolgreich.
Das Ostdeutschland von heute hat die DDR von damals weit hinter sich gelassen. Das ist der größte Erfolg. Das größte Problem ist die hohe Arbeitslosigkeit.
III. Arbeitslosigkeit
In den neuen Ländern gibt es am ersten Arbeitsmarkt rund 5,6 Millionen Erwerbstätige.
Abbildung 1: Interner Link: Erwerbstätigkeit und Unterbeschäftigung in Ostdeutschland (ohne Berlin)
Die schwierige Arbeitsmarktlage hält seit Jahren an (Abbildung 1). Belastungen bringt der Beschäftigungsrückgang vor allen in der schrumpfenden Bauwirtschaft, aber auch der öffentliche Sektor muss aus finanziellen Gründen den bestehenden Überhang an Bediensteten abbauen. Ein gewisses Gegengewicht stellt der Beschäftigungsaufbau in der dynamischen Industrie dar. Dennoch bleibt der Arbeitsmarkt die Achillesferse der ostdeutschen Transformation, auch in den nächsten Jahren.
Um den Mangel zu mildern, hat die Bundesregierung frühzeitig arbeitsmarktpolitische Maßnahmen ergriffen. Doch die Hoffnung, Arbeitslosen zum Beispiel durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) den Übergang in reguläre Beschäftigung zu erleichtern, hat sich nicht erfüllt.
Auch "Lohnzurückhaltung" ist kein Allheilmittel. Nach kräftigen Lohnanhebungen bis Mitte der neunziger Jahre sind die Löhne danach unter dem Eindruck chronischer Arbeitslosigkeit nur noch um jährlich durchschnittlich 1,6 Prozent (1997 - 2001) gestiegen. Produktivitäts- und Preisanstieg summieren sich in der gleichen Zeit auf gut 3 Prozent. Die Lohnsteigerungen bleiben mithin deutlich hinter dem zurück, was mit der Faustformel einer "produktivitätsorientierten Lohnpolitik" (Lohnanstieg = Preisanstieg + Produktivitätsanstieg) vereinbar wäre. Bisher bleibt der positive Beschäftigungsimpuls aus. Strukturell bedingter Beschäftigungsabbau (zumal in der Bauwirtschaft) kann durch Lohnzurückhaltung nicht verhindert werden - was nicht ein Plädoyer für expansive Lohnpolitik ist: Die würde den Beschäftigungsdruck noch verstärken.
Die Unterbeschäftigung ist in den neuen Ländern mit einer Quote von 22,3 Prozent beträchtlich höher als in den alten (8,9 Prozent, auch dies weit ab von Vollbeschäftigung). In den ersten Jahren nach der Wende kam es zu der höheren Unterbeschäftigung, weil im Osten vergleichsweise mehr Menschen eine Erwerbstätigkeit anstrebten als im Westen. Inzwischen haben sich die West-Ost-Unterschiede in der Erwerbsbeteiligung nahezu eingeebnet.
Der entscheidende Grund für die höhere Arbeitslosigkeit ist heute der (größere) Mangel an verfügbaren Arbeitsplätzen. Kommen auf 1 000 Personen im erwerbsfähigen Alter im Westen 717 besetzte Arbeitsplätze, sind es im Osten - korrigiert um Unterschiede in der Arbeitszeit - nur 632 (im Jahr 2001).
IV. Unternehmenslücke
Den Kern für eine erfolgreiche Transformation bildet die Entfaltung des Unternehmertums. Hier ist einiges in Gang gekommen. Nachdem zu DDR-Zeiten freies Unternehmertum keine Chance hatte, ist es beachtlich, wie stark es sich nach der Wende etabliert hat. Heute gibt es in den neuen Ländern 522 000 Selbstständige.
- Es gibt im Osten weniger Unternehmen. So liegt die Unternehmensanzahl je 10 000 Einwohner in den neuen Ländern mit 366 um ein Fünftel unter dem Wert von 465 in den alten Ländern (IHK-zugehörige Unternehmen, Anfang 2001). Das wird auch durch den leicht höheren Betriebsbestand im Handwerk nicht kompensiert (91 Betriebe in den neuen zu 84 in den alten Ländern, jeweils je 10 000 Einwohner, 1999).
- Die ostdeutschen Unternehmen sind kleiner. Kommen in Westdeutschland durchscnittlich 142 Beschäftigte auf einen Betrieb, sind es in Ostdeutschland nur 80.
Beides zusammen markiert die "Unternehmenslücke". Ihre Folge ist der ausgeprägtere Mangel an Arbeitsplätzen. Wenn es in Ostdeutschland deutlich weniger und kleinere Unternehmen gibt als in Westdeutschland, ist es nicht überraschend, dass auch deutlich weniger Arbeitsplätze verfügbar sind. Zudem erzielen die ostdeutschen Unternehmen einen geringeren Umsatz je Beschäftigten (im Verarbeitenden Gewerbe betrug der Rückstand im Jahr 2000 rund ein Viertel). Dies und die Unternehmenslücke sind die hauptsächlichen Gründe dafür, dass die Wirtschaftsleistung des Ostens noch weit hinter der des Westens zurückbleibt, nämlich erst 61 Prozent beträgt (gemessen am insgesamt erwirtschafteten Einkommen, dem Bruttoinlandsprodukt, je Einwohner, vgl. Tabelle).
Tabelle: Interner Link: Eckdaten der ostdeutschen Wirtschaft im Vergleich
Mehr Beschäftigung und eine steigende Wirtschaftsleistung setzen eine breitere unternehmerische Basis voraus. Es kommt also darauf an, dass mehr Unternehmen entstehen, die vorhandenen wachsen (mehr Personal einstellen) und dass eine höhere Wertschöpfung je Erwerbstätigen erzielt wird.
Das kann nicht einfach verordnet werden. Die weitere Entfaltung des Unternehmertums hängt wesentlich von den Unternehmern selbst ab, ihren Managementqualitäten, ihrer Innovationsfähigkeit und ihrer Risikobereitschaft. Und sie braucht Zeit. Dass ostdeutsche Unternehmer erfolgreich agieren können, zeigt beispielhaft die dynamische Entwicklung der Industrie.
V. Industrie
Die ostdeutsche Industrie hatte es nach der Wende besonders schwer. Sie musste sich nach der Öffnung der Grenzen gegen internationalen Verdrängungswettbewerb durchsetzen. Zudem war die viel zu breit gefächerte Industrielandschaft der DDR durch eine tief greifende Strukturbereinigung zu überwinden.
Mit der Privatisierung volkseigener Betriebe durch die Treuhandanstalt und durch staatlich massiv geförderte Unternehmensansiedlungen wurde die erfolgreiche Entwicklung der Industrie eingeleitet. Nach dem Transformationsschock 1990/91/92 ging sie auf Wachstumskurs. Die durchschnittliche Wachstumsrate der Produktion von acht Prozent zwischen 1992 und 2001 (früheres Bundesgebiet seit 1993: 2,4 Prozent) ist beachtlich (Abbildung 2).
Abbildung 2: Interner Link: Neue Bundesländer und Berlin-Ost: Index der Nettoproduktion
Dies gelang, weil die Industrie den Zugang zu den Weltmärkten fand. Die Auftragseingänge aus dem Ausland weisen seit 1994 mit einer durchschnittlichen Steigerungsrate von 20 Prozent eine starke Dynamik auf (zum Vergleich Auftragseingang aus dem Inland seit 1992: durchschnittlich knapp 8 Prozent). Dies ist ein wichtiger Beleg dafür, dass die ostdeutsche Industrie weltmarktfähig geworden ist.
Der industrielle Wachstumsprozess ist mit einem Strukturwandel verbunden. Zu den expansivsten Branchen zählen Büromaschinenbau, Rundfunktechnik, Medizintechnik, also Branchen mit hohem Innovationspotenzial. Hingegen mussten Bereiche wie die Schmuck- und Bekleidungsindustrie oder der Schienenfahrzeugbau eine massive Schrumpfung hinnehmen. Der Strukturwandel reflektiert den überfälligen Prozess, Ostdeutschlands Industrie in die internationale Arbeitsteilung einzuklinken.
In der erfolgreichen Entwicklung der Industrie kommt die marktwirtschaftliche Neuorientierung Ostdeutschlands augenfällig zum Ausdruck. Gleichwohl ist der Industriesektor noch "klein". Sowohl in der Beschäftigung als auch in den Wertschöpfungsanteilen liegt er hinter westdeutschen Werten zurück. Die industrielle Basis bedarf der Ausweitung. Dies ist eine Voraussetzung dafür, dass die Stagnation des Aufholprozesses überwunden wird.
VI. Aufholprozess
Nach anfänglich fulminanter Dynamik hat das Wachstum der gesamten Wirtschaft in Ostdeutschland stark nachgelassen (Abbildung 3). In der ersten Hälfte der neunziger Jahre (bis 1996) realisierte die Region eine Wachstumsrate von durchschnittlich 7,7 Prozent (Westdeutschland 0,5 Prozent), seither liegt sie mit durchschnittlich 1,1 Prozent (bis 2001) nur halb so hoch wie die westdeutsche (2 Prozent). Was wie ein krisenhaftes Erlahmen der Wachstumskraft aussieht, ist vor allem Resultat eines notwendigen Strukturwandels, der mit divergenten sektoralen Entwicklungen verbunden ist. Während die Industrie, wie gezeigt, ein hohes Wachstum aufweist, schrumpft die Produktion im Bausektor seit 1996 (Abbildung 2). Der Dienstleistungssektor liegt mit seinem Wachstum dazwischen.
Abbildung 3: Interner Link: Bruttoinlandsprodukt in Preisen von 1995: Wachstumsratenund Ost-West-Vergleich
Der Rückgang im Bausektor ist eine unvermeidbare Strukturbereinigung. Nach der Vereinigung erforderten Sanierung und Neuaufbau des von der DDR vernachlässigten Wohnungsbestands, der maroden Industriebauten und der unzureichenden Infrastruktur eine nachholende Bautätigkeit. Der Wachstumsimpuls war enorm. Inzwischen ist der Nachholbedarf an Bauinvestitionen weitgehend abgearbeitet. Die Bauproduktion sinkt auf ein "normales" Niveau. Solange sich die Schrumpfung fortsetzt (noch zwei, drei Jahre?), bleibt die gesamtwirtschaftliche Wachstumsrate niedrig.
Als Folge stockt der Aufholprozess. Die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung Ostdeutschlands war im Vergleich zur westdeutschen von 33 Prozent (1991) auf 61 Prozent im Jahr 1996 gestiegen; auf diesem Wert stagniert sie seither (vgl. Abbildung 3).
Dies führt zur Kernfrage: Gelingt es Ostdeutschland, den Aufholprozess wieder aufzunehmen? Oder bleibt es bei dem Rückstand an Wirtschaftsleistung (was Ostdeutschland zu einem dauerhaft rückständigen Wirtschaftsgebiet machen würde)? Zur Fortsetzung des Aufholprozesses muss die ostdeutsche Wachstumsrate wieder deutlich über die westdeutsche steigen. Das ist erst nach einem Ende der Schrumpfung im Bausektor zu erwarten. Zugleich müsste die Industrie ihre bisherige, im Vergleich zu Westdeutschland hohe Dynamik beibehalten. Ein solches Szenario erscheint in den nächsten Jahren durchaus möglich.
Aber wohin führt der Aufholprozess? Eine hypothetische Rechnung vermittelt einige Vorstellungen: Angenommen, die Wachstumsrate liegt im Osten mit vier Prozent doppelt so hoch wie im Westen und die Preise steigen mit zwei Prozent, dann wird die ostdeutsche Wirtschaftsleistung pro Kopf in zehn Jahren bei rund 75 Prozent der westdeutschen liegen - mehr als die heutigen 61 Prozent, aber immer noch ein Rückstand!
Das ist keine Prognose, sondern eben nur eine hypothetische Rechnung (die zudem mögliche Änderungen in der Bevölkerungsgröße ausblendet). Sie zeigt gleichwohl, dass die Angleichung der ostdeutschen Wirtschaftskraft an westdeutsches Niveau auch ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung nicht erreicht sein wird.
Ein pessimistisches Ergebnis? So sollte es nicht gelesen werden. Regionale Unterschiede in der Wirtschaftskraft sind die Regel. So erreicht Rheinland-Pfalz nur 74 Prozent der Leistung von Hessen. Wenn es dauerhaft bei einem West-Ost-Gefälle an wirtschaftlicher Leistung bleibt (freilich einem geringeren als heute), muss dies keinen politischen oder sozialen Sprengstoff beinhalten. Freilich: Es werden weiterhin Transfers nach Ostdeutschland fließen (müssen).
VII. Transfers
Einkommensumverteilungen von wirtschaftlich starken zu schwachen Regionen sind Element der deutschen Verfassung, und sie greifen seit der Vereinigung vor allem zugunsten Ostdeutschlands. Im Rahmen der Sozialversicherung werden Leistungen in Ostdeutschland aus westdeutschen Beiträgen mitfinanziert. Im Länderfinanzausgleich und durch Bundesergänzungszuweisungen erhalten die finanzschwachen ostdeutschen Länder Zuwendungen aus westdeutschem Steueraufkommen. Für die Sanierung und den Ausbau der Infrastruktur wie für die Beseitigung der Umweltschäden werden Transfers eingesetzt.
Die Transfers, praktisch ein Geldstrom von West nach Ost, bewirken, dass der Lebensstandard in Ostdeutschland über das Niveau des dort selbst erwirtschafteten Einkommens steigen kann. Im Ergebnis erreicht der private Verbrauch je Einwohner 82 Prozent (1999) des westdeutschen Wertes, während die Wirtschaftskraft nur 61 Prozent ausmacht.
Propagiert wird "Wettbewerbsföderalismus", der jeder Region belässt, was sie selbst insgesamt an Einkommen oder - in der schwächeren Variante - was sie an zusätzlichem Einkommen erwirtschaftet. Wettbewerbsföderalismus, soweit er auf eine Absenkung des Transferniveaus zielt, würde Ostdeutschland noch nicht gerecht. Der Lebensstandard würde drastisch absinken mit unabsehbaren Folgen (anschwellenden Abwanderungen, Rückschlägen in der Unternehmensentwicklung, letztlich Schwächung der ostdeutschen Wirtschaftskraft).
Transfers muss (und wird) es weiter geben. Das ist aber kein Freibrief. Das Ziel, von Transfers unabhängiger zu werden, muss ernsthaft angestrebt werden. Damit ist die Wirtschaftsförderung in den neuen Ländern angesprochen.
VIII. Wirtschaftsförderung
Die Transformation wurde von Anbeginn an maßgeblich durch den Staat geprägt. Viele Maßnahmen waren umstritten. Bis heute hält eine Diskussion an, was man hätte besser machen können.
War die Einführung der D-Mark in der DDR im Juli 1990 richtig? Rein ökonomisch: nein. Denn damit wurden die wechselkurspolitischen Optionen zur Stimulierung des ostdeutschen Exports aufgegeben. Aber ohne die Währungsunion wären noch mehr Menschen aus der DDR abgewandert, zum Nachteil des Neuaufbaus.
War die Übertragung des westdeutschen Regelwerks auf Ostdeutschland richtig? Nein, denn das war schon lange reformbedürftig. Nun wurde es, unzulänglich wie es war, den Ostdeutschen übergestülpt. Aber der Handlungsdruck war 1990 enorm. Da die meisten DDR-Regulierungen nicht mehr fortzuführen waren, mussten rasch neue her. Zeit für Reformen gab es nicht.
War die Privatisierungsstrategie der Treuhandanstalt richtig? Kritiker warfen ihr vor, Betriebe "platt gemacht" oder zu billig veräußert zu haben. Aber zur Konzeption der Treuhandanstalt (Sanierung durch Privatisierung oder Schließung) gab es nur die abschreckende Alternative, Betriebe weiter in subventionierender staatlicher Obhut zu halten.
War die massive staatliche Förderung der Bautätigkeit sinnvoll? Nachträglich betrachtet nein, wie der heutige Wohnungsleerstand zeigt. Aber die Wohnungsnot war 1990 eklatant, der Bedarf an gewerblichen Bauten enorm. Die Förderung hat beide Probleme rasch gelöst, wenn sie auch übers Ziel hinausgeschossen ist.
War die staatliche Förderung der Investitionen sinnvoll? Puristisch gesehen nein: Manche Investoren haben Subventionen ohne Not kassiert (Mitnahmeeffekt), sich an sie gewöhnt (Subventionsmentalität), manche unrentable Investition rechnete sich durch staatliche Förderung doch noch, aber nicht auf Dauer. Aber ohne die Subventionierung wären kaum Investoren in den Osten gegangen; besondere Standortvorteile hatte Ostdeutschland ja nicht. Subventionen glichen diesen Nachteil aus.
Zwölf Jahre nach der Vereinigung kann "Nachteilsausgleich" nicht mehr angeführt werden. Zielrichtung der Wirtschaftsförderung ist heute nicht mehr die flächendeckende Subventionierung von Investitionen, sondern die Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Wirtschaft im Ganzen. Dazu gehören:
- die weitere Sanierung der Infrastruktur, insbesondere im kommunalen Bereich (kommunale Verkehrswege und Versorgungssysteme). Mittel hierfür werden im Rahmen des Solidarpakts II bis 2019 bereitgestellt. Noch fehlen aber weitgehend Konzepte für die Umsetzung des Sanierungsprogramms;
- die Aufrechterhaltung einer konkurrenzfähigen Hochschul- und Forschungslandschaft;
- die Herstellung wirtschaftsfreundlicher Bürokratien;
- die Förderung von Existenzgründungen;
- die Sanierung der öffentlichen Haushalte (Stärkung der öffentlichen Investitionen, Rückführung von Defiziten);
- schließlich auch die Förderung strukturschwacher Regionen nach deutschlandweit einheitlichen Kriterien und nicht mit der Gießkanne, sondern so, dass Wachstumspole an Kraft gewinnen.
Das alles ist notwendig, aber allein nicht ausreichend. Wenn Deutschland als Ganzes mit seinem Wirtschaftswachstum so schwach bleibt wie im letzten Jahrzehnt, fehlt den Investitionen jeder Schwung, Investitionen, die dann auch im Osten unterbleiben. Wenn der gesamtdeutsche Arbeitsmarkt mit immer neuen Regulierungen überzogen wird, welche die Kosten der Beschäftigung erhöhen, ohne den Unternehmen auch nur einen Euro mehr Umsatz zu bringen, fehlt dort der Schwung, der mehr Arbeitsplätze bringt. Daher ist es gerade aus ostdeutscher Sicht dringlich, dass die deutsche Wirtschaftspolitik auf einen Kurs geht, der Deutschland als Ganzem zu mehr Dynamik verhilft. Letztlich kann nur in einem dynamisch wachsenden Deutschland die ökonomische Transformation der neuen Länder gut vorankommen.
Unternehmerische Aktivität im Verbund mit staatlicher Förderpolitik und einer auf Dynamisierung setzenden gesamtdeutschen Wirtschaftspolitik wird Ostdeutschland voranbringen, allerdings nur, wenn die Menschen dort eine positive Einstellung zur ostdeutschen Transformation bewahren oder wieder gewinnen.
IX. Einstellungen
Das ist vielleicht der heikelste Punkt: das negative Bild, das nicht wenige Ostdeutsche von ihrer Wirtschaft (nicht unbedingt von ihrer persönlichen wirtschaftlichen Lage) haben. In den Leserbriefspalten der Zeitungen und in politischen und wirtschaftlichen Diskussionen artikuliert sich Missbehagen.
Besonders greifbar ist dies in der Lohnfrage. Auch nach zwölf Jahren erreichen die Löhne erst 78 Prozent des westdeutschen Niveaus. Viele Arbeitnehmer fordern "gleichen Lohn für gleiche Arbeit". Ökonomen wenden ein, dass die Produktivität (Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen) erst bei 70 Prozent des westdeutschen Niveaus liegt (das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner liegt - wie bereits berichtet - sogar nur bei 61 Prozent). Der Grund: Die überwiegend jungen ostdeutschen Unternehmen sind an den Märkten noch nicht so erfolgreich wie die seit langem etablierten westdeutschen.
Sorge um die Zukunft verbindet sich mit Abwanderungen. Noch zeigt sich kein bedrohliches Ausmaß. Im Jahr 2000 haben zwar 214 500 Menschen den Osten in Richtung Westen verlassen. Im gleichen Jahr sind aber 153 200 Menschen zugezogen (und aus dem Ausland per Saldo 13 400). Trotz des wirtschaftlichen Vorsprungs der alten Länder bieten die neuen für viele Menschen attraktive Lebens- und Arbeitsbedingungen. Auch müssen ostdeutsche Unternehmen bisher nicht die Pforten schließen, weil ihnen die Arbeitnehmer abwandern. Aber richtig ist, dass attraktive Jobs, wie sie große Firmen in München oder Frankfurt bieten - ein Anreiz für ehrgeizige junge Leute, dorthin zu gehen -, im Osten Mangelware sind. Noch kann man die Wanderungen als normale Mobilität bewerten (die viele Ostdeutsche dennoch irritiert, weil derartige Mobilität in der DDR nicht stattfand). Kritisch würde es, wenn schließlich die Unternehmen der Region den Rücken kehrten. Kritisch ist freilich schon jetzt der Bevölkerungsrückgang zu sehen (zwischen 1990 und 1999 um 1,2 Millionen Personen). Dies ist zu rund einem Drittel durch Abwanderungen, zu zwei Dritteln aber durch das Geburtendefizit verursacht. Ostdeutschland ist schon heute mit den Anpassungslasten bei schrumpfender Bevölkerung konfrontiert.
Missbehagen speist sich schließlich aus der Selbsteinschätzung mancher Ostdeutscher, "Bürger zweiter Klasse" in Deutschland zu sein. Es ist richtig, dass an den entscheidenden Schaltstellen - Bundesregierung, Bundesbehörden, Gewerkschaften, Unternehmensverbänden, Kirchen, Wissenschaftsorganisationen - Ostdeutsche unterrepräsentiert sind. Da die großen tonangebenden Unternehmen ihren Firmensitz fast ausschließlich in Westdeutschland haben, da auch die Redaktionen der wichtigen überregionalen Zeitungen dort residieren, können sich Ostdeutsche leicht ausrechnen, dass die "westdeutsche Perspektive" im gesellschaftlichen Prozess weiterhin bestimmend sein wird.
Missbehagen und negative Einstellungen, begründet oder nicht, beeinträchtigen die Wiederaufnahme des Aufholprozesses. Sie bergen die Gefahr der Resignation mit negativen Auswirkungen: Sie würde lähmen, Investoren abschrecken, jungen Leuten das Signal geben, ihre Zukunft doch lieber anderenorts zu suchen. Das Handicap Ostdeutschlands ist die verbreitete Unwilligkeit, sich über das bisher Erreichte zu freuen und daraus Selbstbewusstsein für die Fortführung des Transformationsprozesses zu schöpfen.
Internetverweise des Autors:
Externer Link: Umfangreiche empirische Studien zur ostdeutschen Wirtschaftsentwicklung
Externer Link: Statistische Daten über die gesamtwirtschaftliche Entwicklung aller Bundesländer