I. Problemstellung
Die soziologische Gegenwartsanalyse hat für die alten Bundesländer einen Individualisierungstrend diagnostiziert. Nach Auffassung prominenter VertreterInnen dieser Forschungsrichtung wie Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim vollzieht sich seit Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts ein Prozess, in dem die Menschen aus traditionalen Sozialbeziehungen freigesetzt und zunehmend auf sich selbst und ihr individuelles Arbeitsmarktschicksal verwiesen werden.
Unmittelbar nach der Wende wurde die Individualisierungsthese auf die neuen Bundesländer übertragen; die Veränderungen im Zuge des gesellschaftlichen Transformationsprozesses wurden als Individualisierungsschub interpretiert.
Insofern wird von einer lang anhaltenden Unterschiedlichkeit ost- und westdeutscher Orientierungen ausgegangen und davon, dass die Menschen in den neuen Bundesländern anders als die in den alten auf die weitgehend angeglichenen institutionellen Rahmenbedingungen reagieren und sich die Inhalte der Freisetzungen in den neuen Bundesländern deutlich von denen in den alten unterscheiden.
In diesem Beitrag wird nach einer kurzen Erläuterung des methodischen Vorgehens ein Teilergebnis dieser zur Zeit noch andauernden Studie vorgestellt. Da die DDR eine stark auf das Kollektiv bezogene Gesellschaft war, stellt sich unter individualisierungstheoretischer Perspektive insbesondere die Frage, in welchem Umfang das mit den Arbeitskollektiven verbundene Gemeinschaftsideal nach der Wende noch wirksam ist. Nach der Beschreibung der Funktion der Arbeitskollektive wird untersucht, inwiefern nach der Wende eine Freisetzung aus den ehemaligen solidarischen Arbeitsbeziehungen stattgefunden hat (bzw. immer noch stattfindet), ob soziale Beziehungen außerhalb der Erwerbssphäre fortgesetzt werden und ob die Menschen in der Freisetzung aus den Arbeitskollektiven eine Chance für eine autonomere Lebensgestaltung sehen. Im Fazit werden die Befunde unter individualisierungstheoretischer Perspektive resümiert.
II. Methodisches Vorgehen
Zur Beantwortung der Forschungsfrage werden verschiedene methodische Zugänge genutzt: Neben der Aufarbeitung der zum Thema veröffentlichten Studien werden zu unterschiedlichen Zeiten erhobene Materialien aus früheren an der Universität Hannover durchgeführten Untersuchungen zum sozialen Transformationsprozess einer Re-Analyse unterzogen. Die vorliegenden Befunde basieren auf einer 1991 und 1993 durchgeführten qualitativen und quantitativen Wiederholungsbefragung in einer mittelgroßen thüringischen Stadt (Gotha) zu den lokalen Folgen des Transformationsprozesses
III. Zur Ausgangslage: Arbeitskollektive in der DDR
Für die Lebensverhältnisse in der DDR war es charakteristisch, in eine "sozialistische Brigade" bzw. ein "sozialistisches Arbeitskollektiv" eingebunden zu sein. Arbeitskollektive wurden von den MitarbeiterInnen gebildet, die in einer Produktionseinheit oder Abteilung zusammenarbeiteten und sich gemeinsam um den Titel "Kollektiv der sozialistischen Arbeit" bemühten.
Auch faktisch war der Erwerbsbereich in der DDR bei weitem nicht so stark wie in der alten Bundesrepublik auf Konkurrenz und Leistungsdruck ausgerichtet.
Die Arbeitskollektive hatten außerdem weitreichende Auswirkungen auf das Privatleben. Es bestand ein "gewisser Zwang oder eine Vorgabe, sich ab und zu miteinander zu beschäftigen", so ein fünfzigjähriger Angestellter (M./1997).
All das verdeutlicht, dass über die Institution der Arbeitskollektive im Erwerbsbereich Funktionen wahrgenommen wurden, die in westlichen Gesellschaften relativ exklusiv dem privaten Lebensbereich vorbehalten sind. Durch die enge Einbindung des Einzelnen in das Arbeitskollektiv wurde die Familie jedoch nicht nur emotional entlastet,
IV. Entsolidarisierung der Erwerbssphäre
Ende 1989 und im ersten Halbjahr 1990 fielen die sozialistischen Brigaden oder Arbeitskollektive in sich zusammen.
Überdurchschnittlich wird ein Solidaritätsverlust von den über 45-Jährigen
Obwohl ostdeutsche Frauen vom Arbeitsplatzabbau stärker betroffen sind als Männer,
Abbildung 1: Interner Link: Wahrgenommener Solidaritätsverlust nach mtl. Pro-Kopf-Einkommen
Am stärksten differieren die Bewertungen nach den ökonomischen Ressourcen (vgl. Abbildung 1). So erleben nur 52 Prozent der Magdeburger Erwerbspersonen mit dem höchsten monatlichen Pro-Kopf-Einkommen (3 000 DM und mehr), aber 88 Prozent der Befragten mit dem niedrigsten (bis unter 1 000 DM) eine Entsolidarisierung. Arbeitslose und Befragte in prekären Beschäftigungssituationen nehmen den Entsolidarisierungsschub krasser wahr als Erwerbstätige. Diejenigen, die den Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt sowie dem damit verbundenen Konkurrenzkampf um Arbeitsplätze besonders ausgesetzt sind, erleben demnach auch die Entsolidarisierung extremer, während (Fach-)HochschulabsolventInnen, die "eine deutlich über dem Durchschnitt liegende Beschäftigungsquote"
Wenngleich Tendenzen zur Individualisierung vom Gros der Befragten beschrieben werden, geht doch die Auflösung der Arbeitskollektive nicht automatisch mit einem Zerfall traditionaler normativer Orientierungen einher (vgl. Kapitel VI.). Gerade vor dem Hintergrund der neuen Risikolagen und sozialstrukturellen Differenzierungen im Erwerbsbereich wird von vielen auch heute noch am Gemeinschaftsideal der Arbeitskollektive festgehalten,
Das Gemeinschaftsideal hat also nach wie vor eine hohe normative Verbindlichkeit, nur scheint es immer schwieriger zu sein, solidarische Beziehungen unter marktwirtschaftlichen Bedingungen zu verwirklichen. Dies belegen auch die Gründe, welche die Befragten für die Entsolidarisierung des Arbeitsklimas verantwortlich machen. Zentral sind dabei der zunehmende Rationalisierungsdruck in den Betrieben, die Betriebsschließungen, die Zunahme der Arbeitslosigkeit sowie die stärkere Orientierung des Arbeitsablaufs an Wirtschaftlichkeitskriterien. Mit zunehmender Durchsetzung des Arbeitsmarktes begreifen die Menschen ihre Erwerbsbiographie als selbstgemacht und sich selbst als Zentrum ihrer eigenen Lebensführung. Dabei lassen sich auf das Kollektiv bezogene Orientierungen nur noch schwer ver-wirklichen, während stärker selbstbezogene Verhaltensstrategien bedeutsamer werden. Die im Erwerbsbereich erfolgte Entsolidarisierung erweist sich nach den hier vorliegenden Befunden überwiegend als nicht intendierte Folge sozialen Handelns: Man schätzt zwar das kollegiale Miteinander früherer Zeiten, konkurriert aber mit KollegInnen, wenn es der wirtschaftliche Überlebenskampf erfordert: "Diesen Neid gab es früher nicht, weil keiner Angst haben brauchte, arbeitslos zu werden. Heute wird gesiebt, und wenn ich merke, es wird entlassen, dann versuche ich auch, mich zu behaupten" (48-jähriger Vorarbeiter, M./1997).
Die Folge ist, dass die Erfüllung von Ansprüchen nach Geborgenheit, Verlässlichkeit und Solidarität im Arbeitsbereich immer weniger gegeben ist. Die stärker solidarischen Aufgaben werden mehr und mehr in den privaten Lebensbereich verlagert. War es früher für Ehepartner selbstverständlich, am Arbeitsplatz einen Teil der beruflichen und privaten Probleme zu besprechen, so sind sie nach der Wende verstärkt aufeinander angewiesen. Während also der Erwerbsbereich immer zweckrationaler wird, wird das Privatleben stärker nach außen abgeschottet und erfährt eine Solidarisierung bzw. "Intensivierung nach innen" (René König): "Mund halten, arbeiten, bloß keinen Fehler machen. Mit niemandem kannste quatschen und am Wochenende schütteste dann dein Herz aus. Also mich trifft das besonders hart" (Wochenendpendler, 48 Jahre, G./1991) - heißt es nach der Wende. Oder: "Dann ist das nur der Familienkreis, wo eben der gezwungene Zusammenhalt besteht, und alles andere ist unsolidarisch" (Umschülerin, 27 Jahre, G./1991).
Als Fazit ist festzuhalten, dass aus Sicht der Mehrzahl der Befragten mit der Einführung der Arbeitsmarktgesellschaft im Erwerbsbereich solidarische Beziehungen schwächer werden. Die Arbeitsbeziehungen, die sich in der DDR durch stärkere Rücksichtnahme, Kooperation und Kommunikation zwischen den KollegInnen auszeichneten, haben sich zwar zu Gunsten von Konkurrenz und Ellenbogenmentalität verändert, aber auf der Ebene normativer Orientierungen wird dennoch am sozialistischen Gemeinschaftsideal festgehalten. Solidarität hat also nach wie vor eine hohe Bedeutung, lässt sich aber unter marktwirtschaftlichen Bedingungen immer weniger verwirklichen. Im Ganzen sind die von den Befragten genannten Gründe für die Entsolidarisierung der Erwerbssphäre ein deutlicher Beleg für die von Ulrich Beck unterstellte Marktabhängigkeit der Lebensführung
V. Entkoppelung von Erwerbs- und Freizeitsphäre
Eine weitere zentrale Veränderung im Zuge des Individualisierungsprozesses betrifft die Entkoppelung von Erwerbs- und Freizeitfunktionen. Dieser Trend, der schon zu Beginn der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts einsetzte,
Die Abschwächung der Freizeitkontakte unter KollegInnen ist Teil eines allgemeinen Trends der Verringerung geselliger Kontakte, die unmittelbar nach der Wende besonders drastisch ausfiel,
Der Rückgang der Kontakte zu KollegInnen wird von den Befragten - wie die Entsolildarisierung - maßgeblich auf die Einführung marktwirtschaftlicher Bedingungen zurückgeführt. Weil eine Leistungsverdichtung stattfand, hätte sich der Erholungsbedarf zu Lasten einer aktiven Freizeitgestaltung erhöht. "Die, die Arbeit haben" - so ein Bauleiter (M./1997) - "haben Stress und wollen abends weiter nichts als ihre Ruhe." Zu einem ähnlichen Befund kommen Peter Franz und Ulfert Herlyn in der Gotha-Studie: "Der alltägliche Kampf ums Dasein zwingt viele dazu, die Kräfte auf die berufliche Existenzsicherung zu konzentrieren (... und lässt, d. V.) für weniger zweckorientierte Beziehungen kaum noch Zeit."
Im Unterschied zur Entsolidarisierung wird die Verringerung der Freizeitkontakte mit KollegInnen aber nicht so stark als Verlust erlebt,
Auch wenn die traditionalen Formen der Beziehungsvorgabe durch die Arbeitskollektive nicht mehr bestehen, so bedeutet die Wende nicht automatisch einen Verlust an Gemeinschaft oder gar eine Vereinzelung. Die Auflösung der Kollektive wird partiell über neue, selbst gewählte Freizeitkontakte aufgefangen. Der zentrale Wandel besteht darin, dass Gemeinschaftsbildung nicht mehr quasi verordnet ist, sondern zu einer individuell zu erbringenden Leistung wurde. "Die Freizeit müssen wir uns jetzt selbst besorgen", so bringt es ein 48-jähriger Arbeiter (G./1993) auf den Punkt. Im Ganzen besteht auf Grund der zu verschiedenen Zeiten durchgeführten Interviews der Eindruck, dass sich die Menschen heute wieder mehr auf die Freizeittradition der Arbeitskollektive besinnen und sich verstärkt dafür einsetzen, "dass man sich wieder regelmäßig und zu bestimmten Gelegenheiten mit Kollegen trifft" (leit. Angestellter, M./2002). Im Unterschied zur Beziehungsvorgabe
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Erwerbsbereich seine Freizeitfunktion weitgehend eingebüßt hat und verordnete Beziehungen zu KollegInnen zu Gunsten selbst gewählter FreizeitpartnerInnen an Bedeutung verloren haben. Maßgeblich dafür war neben der Entpolitisierung der Erwerbssphäre, d. h., dass Freizeitkontakte nicht mehr angeordnet werden, die Durchsetzung der Marktgesellschaft mit allen ihren Chancen und Risiken. Zum einen verändern sich unter marktwirtschaftlichen Bedingungen die Rahmenbedingungen für Arbeitskontakte. Der Anstieg berufsbezogener Mobilität, insbesondere aber die Zunahme von Arbeitsbelastungen und Konkurrenz sind zentrale Ursachen für das veränderte Freizeitverhalten unter KollegInnen. Zum anderen wird unter marktwirtschaftlichen Bedingungen die Finanzierung betrieblicher Freizeitaktivitäten unrentabel. Insgesamt ist also auch die Erfüllung von Freizeitfunktionen im Erwerbsbereich immer weniger gewährleistet.
VI. Die Freisetzung aus dem Kollektiv als Befreiung?
Um abschließend zu prüfen, ob sich die Menschen ohne die Einbindung in das Arbeitskollektiv freier fühlen und mehr Gestaltungsspielräume wahrnehmen, wurde den Magdeburger Befragten das folgende Statement vorgelegt mit der Bitte, zu sagen, ob sie dem voll und ganz, eher, teils, teils, eher weniger oder überhaupt nicht zustimmen: "Auch wenn mir der soziale Zusammenhang im Arbeitskollektiv manchmal fehlt, so fühle ich mich doch ohne die Einbindung ins Kollektiv freier." Angesichts der mit dem Arbeitskollektiv verbundenen, weit in den privaten Lebensbereich hineinreichenden Kontrollfunktionen erstaunt es, dass das Arbeitskollektiv nach der Wende vom Gros der befragten Erwerbspersonen nicht als einengende und die persönliche Selbstverwirklichung behindernde Institution empfunden wird (vgl. Abbildung 2).
Abbildung 2: Interner Link: Freisetzung aus dem Kollektiv als Befreiung?
So sieht nur jeder Fünfte in der Auflösung der Arbeitskollektive eine Chance für mehr Autonomie sowie eine Befreiung von Gruppenzwängen. Bei jedem Vierten ist das zum Teil der Fall. Immerhin 46 Prozent erleben die Freisetzung aus dem Arbeitskollektiv nicht als Befreiung.
VII. Zusammenfassung
Insgesamt ist die skizzierte Abschwächung solidarischer Arbeitsbeziehungen sowie die Auflösung verordneter Freizeitkontakte im Kollegenkreis ein deutlicher Beleg für den von Ulrich Beck beschriebenen Freisetzungsprozess aus traditionalen Sozialbeziehungen. Dieser Prozess ist spezifisch ostdeutsch und hat in den alten Bundesländern kein Pendant. Dabei bestätigt sich auch für die neuen Bundesländer Becks These,
Im Unterschied zu Beck, der einen linearen und universellen Individualisierungstrend unterstellt, zeigen die vorliegenden Befunde, dass Individualisierung ein partielles Phänomen ist.
Erstens weist der Prozess der Freisetzung aus kollektiven Fixierungen sozialgruppenspezifische Unterschiede auf. So wird die Entsolidarisierung überdurchschnittlich häufig von Angehörigen mit niedrigem Sozialstatus empfunden, die auch real viel stärker als Angehörige höherer Sozialstatuslagen von Arbeitslosigkeit und Konkurrenzkampf betroffen waren.
Zweitens ist in Bezug auf die Freisetzung aus den Arbeitskollektiven zu konstatieren, dass Individualisierung nicht alle Lebensbereiche in gleicher Weise erfasst. Für die neuen Bundesländer konnte gezeigt werden, dass mit der Auslagerung von solidarischen und Freizeitfunktionen aus dem Erwerbsbereich sowie der damit verbundenen Spezialisierung des Erwerbsbereichs auf berufliches Handeln die Bedeutung der Familie als Solidaritäts- und Freizeitverbund wächst und im Bereich der privaten Lebensformen eine Traditionalisierung der Gemeinschaftsbezüge bewirkt wird. Individualisierung und Traditionalisierung stehen somit in einem Verhältnis des "Sowohl-als-auch".
Drittens konnte nachgewiesen werden, dass die Freisetzung aus den traditionalen Sozialbeziehungen nicht automatisch mit einer Abschwächung der entsprechenden normativen Orientierungen einhergehen muss und der Individualisierungsprozess auf der Ebene realen Verhaltens weiter fortgeschritten sein kann als auf der Einstellungsebene. So sind die solidarischen Prinzipien der Brigaden für viele Menschen noch heute als moralische Verpflichtung verbindlich, auch wenn sie selbst den Druck verspüren, sich unter marktwirtschaftlichen Bedingungen unsolidarisch zu verhalten und damit einen Prozess forcieren, den sie selbst nicht wünschen. Auf Grund dieser Einschränkungen muss also die Allgemeingültigkeit der von Ulrich Beck unterstellten "Zusammenbruchsindividualisierung"