I. Abschnitt
Der Prozess zur Herstellung der deutschen Einheit, der sich vor mehr als zehn Jahren in atemberaubender Geschwindigkeit vollzog, traf die alte Bundesrepublik im Großen und Ganzen unvorbereitet. Die damit verbundenen Rationalitätsdefizite im Handeln der westdeutschen politischen Akteure veranlassen dazu, von der "Einheit als Improvisation" zu sprechen. Die Asymmetrien zwischen ost- und westdeutschem Landesteil haben dabei ebenso die Richtung der Verhandlungen zum Einigungsvertrag vorgegeben, wie sie bis heute die Chancen und Hindernisse auf dem Weg zur "inneren Einheit" beeinflussen.
Inzwischen liegt eine Reihe von Publikationen vor, die vor allem den zehnten Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung zum Anlass nahmen, um die Entwicklung in Gesamtdeutschland seit dem 3. Oktober 1990 aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu bilanzieren. Obwohl sich die Bestandsaufnahmen angesichts der überwiegend ambivalenten und zum Teil widersprüchlichen Befunde zwischen Optimismus und Skepsis bewegen, wird in den Analysen weitgehend übereinstimmend festgestellt, dass die mit der staatlichen Vereinigung ausgelösten Veränderungen die Bevölkerung im Osten Deutschlands mit größerer Intensität trafen als ihre Landsleute im Westen der Republik. Insbesondere die von der Mehrheit der DDR-Bevölkerung getroffene Entscheidung für den Beitritt ihres Landes zum Geltungsgebiet des Grundgesetzes und damit zugleich für eine rasche, per definitionem aber von westdeutscher Seite dominierte Vereinigung kann als wichtigste Ursache dafür gesehen werden, dass für die Menschen in den östlichen Bundesländern "nichts blieb wie es war" , während die Lebens- und Alltagswelt der meisten Westdeutschen davon nur am Rande berührt wurde.
Dies mag ein wesentlicher Grund dafür sein, dass in vielen politikwissenschaftlichen und soziologischen Untersuchungen zum Vereinigungsprozess besonderes Augenmerk auf die Folgen realer Anpassungszwänge und die subjektiven Hoffnungen, Ängste und Enttäuschungen der ostdeutschen Bevölkerung gelegt wird, um Friktionen und Konfliktpotenziale, Annäherungen und Gemeinsamkeiten zwischen Ost- und Westdeutschen zu analysieren. Doch mittlerweile mehren sich die zum Teil empirisch belegten Hinweise, dass mehr als zehn Jahre gemeinsamen Weges auch Spuren im westlichen Teil des Landes hinterlassen und die Bundesrepublik insgesamt verändert haben. Sowohl diese Beobachtungen als auch die Tatsache, dass Westdeutsche für das Zusammenwachsen Deutschlands ebenfalls Opfer gebracht haben, vor allem aber die für eine erfolgreiche Vereinigung entscheidende Einsicht, dass die mentalen, sozialen und ökonomischen Folgelasten der Wiedervereinigung letztlich von beiden Bevölkerungen verkraftet werden müssen, sollten die Frage nach der Wertschätzung der deutschen Einheit in den alten Bundesländern ausreichend rechtfertigen. Dies gilt umso mehr, als demoskopische Befunde im zeitlichen Vor- und Umfeld des Vereinigungsdatums deutlich machen, dass viele Bundesbürger der Einheit Deutschlands nicht nur mit Freude, sondern ebenso mit Ängsten und Sorge entgegensahen. Zudem muss davon ausgegangen werden, dass auch in absehbarer Zeit das finanzielle Hauptgewicht der deutschen Wiedervereinigung vom Westteil der Bundesrepublik getragen werden muss. Damit ist jedoch nicht allein eine belastbare Solidarität der westdeutschen Bevölkerung mit ihren Landsleuten östlich der Elbe gefragt. In gleichem Maße geht es um die damit verknüpfte Bereitschaft der Bürger in den westlichen Bundesländern, entsprechende politische Entscheidungen weiterhin zu akzeptieren und nicht mit Vertrauensentzug für die Verantwortlichen in Parlament und Regierung zu sanktionieren.
Wenn Antworten darauf gegeben werden sollen, welche Bedeutung der deutschen Vereinigung innerhalb der westdeutschen Bevölkerung verliehen wird, gilt es, sich zuvor zwei weiteren Fragen zu stellen: Inwieweit wurde - erstens - die deutsche Einheit im Westen Deutschlands überhaupt gewollt? In diesem Zusammenhang, dem anschließend mit einem Blick zurück in die Vergangenheit weit und unmittelbar vor dem 3. Oktober 1990 nachgegangen werden soll, interessiert nicht allein die Höhe der Zustimmungsraten gegenüber dem Ziel der deutschen Wiedervereinigung. Mindestens ebenso wichtig, wenn nicht bedeutsamer für die Loyalitätsbereitschaft gegenüber den Landsleuten im Osten sind die Substanz und Tragweite eines Vereinigungswunsches, wenn er sich völlig unerwartet in der Realität bewähren muss. Damit stellt sich in unmittelbarer Folge auch die nächste Frage: Woran lässt sich - zweitens - die Bedeutung der deutschen Einheit in den alten Bundesländern heute messen? Es wird sich zeigen, dass dies auf der Basis allgemeiner Bevölkerungsumfragen nur ansatzweise beantwortet werden kann.
II. Abschnitt
Heute kann als umfangreich nachgewiesen gelten, dass die Forderung nach Wiederherstellung der deutschen Einheit in der gesamten Geschichte der alten Bundesrepublik sowohl von der Politik als auch von der Gesellschaft getragen wurde. Obwohl die Unterstützung dafür in der Adenauer-Ära am stärksten ausgeprägt war, teilten noch bis zum Ende der achtziger Jahre je nach Befragungsinstrument durchschnittlich zwei Drittel bis zu drei Viertel aller Bundesbürger den Wunsch nach Überwindung der nationalstaatlichen Teilung. Demnach war das Grundgesetzgebot nicht nur im deutschlandpolitischen Zielkatalog aller amtierenden Bundesregierungen dieser Jahre verankert, sondern auch in den Auffassungen breiter Bevölkerungsmehrheiten. Gleichwohl verlangt diese Festsstellung nach wenigsten zwei Differenzierungen.
Erstens schien das relativ einhellige Ja der Bundesbürger zur deutschen Einheit bereits in den fünfziger Jahren in einem eigentümlichen Widerspruch zu der Feststellung damaliger Beobachter zu stehen, dass die Teilung Deutschlands "erstaunlich gleichmütig hingenommen wurde" . Darüber hinaus war das Ziel der Wiederherstellung der nationalstaatlichen Einheit von westdeutscher Seite an Bedingungen geknüpft. So verweigerte sich nicht nur die Regierung Konrad Adenauers einer deutschen Einheit um den Preis der Freiheit, auch die Bevölkerung zeigte wenig Bereitschaft, für die Wiedervereinigung ihre durch Westbindung neu gewonnene Sicherheit aufzugeben und mit substanziellen Einschnitten ihres bescheidenen, aber allmählich wachsenden Wohlstands zu bezahlen.
Trotzdem blieb die Überwindung der deutschen Teilung nach Ansicht der Bundesbürger zwischen Anfang der fünfziger bis Mitte der sechziger Jahre die wichtigste zu lösende Aufgabe auf der politischen Problemagenda. Allerdings setzte mit dem Bau der Mauer am 13. August 1961 ein grundlegender Einstellungswandel ein, der sich unter dem Eindruck der neuen Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition unter Führung von Willy Brandt festigte. Das bedeutete, zweitens, dass sich die Mehrheit der Bundesbürger zwar weiterhin zur deutschen Einheit bekannte, diese jedoch kaum noch für realisierbar hielt und daher anderen Problemen ihre Aufmerksamkeit schenkte. Exemplarisch lässt sich diese Entwicklung daran verdeutlichen, dass nach Daten des Politbarometers der Forschungsgruppe Wahlen im Jahr 1979 nur noch 21 Prozent der westdeutschen Bevölkerung an die Wiedervereinigung innerhalb der nächsten 30 Jahre glaubten, während sie 79 Prozent für unwahrscheinlich oder sogar unmöglich hielten. Sechs Jahre später waren 17 Prozent der Meinung, dass die deutsche Einheit in den kommenden drei Jahrzehnten ganz bestimmt hergestellt werde oder zumindest möglich wäre. Von inzwischen 83 Prozent wurde diese Perspektive als wenig realistisch betrachtet oder völlig ausgeschlossen.
Innenpolitische Akzentverschiebungen, aber auch ein allmählich einsetzender Gewöhnungseffekt an die staatliche Teilung trugen dazu bei, das Ziel der deutschen Wiedervereinigung trotz einer grundsätzlichen Befürwortung zunehmend "ins kollektive Unterbewusstsein der westdeutschen Gesellschaft" zu verdrängen. Dabei zeigten vor allem jüngere Generationen, die auch immer seltener persönliche Bindungen zu Verwandten, Bekannten oder Freunden in der DDR hatten, ab den siebziger Jahren zunehmend Distanz zum Wunschziel der deutschen Wiedervereinigung.
Obwohl sich die übergroße Mehrheit der Bundesbürger über die Jahre der Trennung hinweg für die deutsche Einheit aussprach, scheint sich dieser Wunsch nach den vorliegenden und von Manuela Glaab ausführlich dokumentierten demoskopischen Befunden im Laufe der Zeit zum "symbolischen Merkposten" entwickelt zu haben, dem kaum Bedeutung für das eigene Leben eingeräumt wurde. In einer Umfrage des Instituts für Demoskopie (IfD) Allensbach im Jahr 1986 nach den Gründen befragt, für die sich ein Einsatz zur Wiederherstellung der deutschen Einheit lohne, antworteten zwar 70 Prozent der Bundesbürger: "Weil wir alle Deutsche sind" sowie jeweils 73 Prozent: "Damit irgendwann die Mauer überflüssig wird" und: "Weil viele Menschen bei uns Verwandte in der DDR haben". Doch gleichzeitig wussten die Bundesbürger - ganz im Gegensatz zur Bevölkerung der DDR, von der die Bundesrepublik immer als Referenzgesellschaft gesehen wurde - nur sehr wenig über die Verhältnisse im anderen Teil Deutschlands und zeigten daran auch nur geringes Interesse.
Entsprechend wurde das zwar latent vorhandene, doch insgesamt diffuse Verbundenheitsgefühl der westdeutschen Bevölkerung mit den Bürgerinnen und Bürgern jenseits der innerdeutschen Grenzen während der rasanten Entwicklung zwischen dem Herbst 1989 und dem Tag der deutschen Einheit einer erheblichen Belastungsprobe ausgesetzt.
III. Abschnitt
Nach einer Erhebung der Forschungsgruppe Wahlen glaubte im Oktober 1989 nur ein gutes Drittel der westdeutschen Bevölkerung daran, dass die Wiedervereinigung in den nächsten Jahren kommen werde. Eine deutliche Mehrheit von 56 Prozent der Befragten hielt das auch noch ein Jahr vor dem Oktober 1990 für unmöglich. Im Dezember 1989 wollte zwar die Mehrheit der Bundesbürger (55 Prozent), dass DDR und Bundesrepublik in Zukunft einen gemeinsamen Staat bilden. Aber immerhin 45 Prozent waren der Meinung, dass die beiden Landesteile auch künftig voneinander unabhängig bleiben sollten. Nur wenige Wochen darauf, im Januar 1990, zeigten sich bereits 82 Prozent der Bundesbürger überzeugt davon, dass die Wiedervereinigung eine realistische Perspektive sei. Allerdings rechneten nur ganze zwei Prozent damit, dass die deutsche Einheit in weniger als einem Jahr erreicht sein werde, während die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung (51 Prozent) von einem Zeitraum zwischen einem und fünf Jahren ausging.
Die Ereignisse indes überschlugen sich, und die meisten Westdeutschen fühlten sich von dieser Entwicklung offenbar überrollt. Im Politbarometer vom Februar 1990 fanden 70 Prozent der Bundesbürger, dass es mit der Wiedervereinigung zu rasch vorangehe. Nur ein knappes Fünftel hielt das Tempo der Entwicklung für angemessen. Der in der Bevölkerung vorherrschende Eindruck eines übereilten Prozesses schien sich in den kommenden Monaten zwar etwas zu legen, doch auch im Juni desselben Jahres waren nach Daten des IfD Allensbach noch immer 52 Prozent der Westdeutschen der Ansicht, dass die Wiedervereinigung zu schnell verlaufe. Daher überrascht es auch kaum, dass nur eine relative Mehrheit der Bundesbürger (47 Prozent) mit der Wiedervereinigungspolitik der damaligen Bundesregierung unter Helmut Kohl einverstanden war und fast ein Drittel dagegen - zumal das Thema deutsche Einheit zum kontroversen Gegenstand der Wahlkampfrhetorik im Vorfeld der Bundestagswahl 1990 wurde. Gut ein Viertel der Bevölkerung zeigte sich in dieser Frage allerdings unentschieden, was Ausdruck der Unsicherheiten, Ängste und Sorgen ist, mit denen die Bundesbürger vom Beginn des Einigungsprozesses an ihrer Zukunft im wieder vereinten Deutschland entgegensahen.
Abbildung: Interner Link: Freude und Sorge über die Wiedervereinigung in Westdeutschland 1990
Obwohl in den Monaten zwischen April und Oktober 1990 die Freude der Westdeutschen an der Wiedervereinigung ihre Sorgen überwog (vgl. Abbildung), zeigten sich die Bundesbürger im Vergleich zu ihren östlichen Nachbarn nicht nur weniger enthusiastisch, sondern teilweise auch etwas stärker verunsichert. Vom IfD Allensbach im Februar 1990 über standardisierte Antwortvorgaben nach den Chancen der Wiedervereinigung befragt, äußerte sich die westdeutsche Bevölkerung insgesamt eher zurückhaltend. Gut die Hälfte der Befragten erwartete ein wirtschaftlich erstarkendes Deutschland, doch nur 36 Prozent hofften auf einen Rückgang der Arbeitslosigkeit, und lediglich 28 Prozent glaubten an ein neues Wirtschaftswunder. Darüber hinaus erwarteten nach Daten des Politbarometers 1990 zwischen Februar und Oktober durchschnittlich 52 Prozent der Bundesbürger vor allem Nachteile für die westdeutsche Bevölkerung, und nur 12 Prozent rechneten mit Vorteilen. Zwar war die Mehrheit der Meinung, dass auf lange Sicht die Vorteile der Wiedervereinigung auch im Westen des Landes überwiegen würden. Dennoch wurden negative Folgen für den Arbeits- und Wohnungsmarkt, eine größere Belastung für die Wirtschaft und die Sozialversicherungssysteme sowie eine wachsende Staatsverschuldung vorausgesehen. An der Spitze der negativen Ahnungen stand jedoch die Befürchtung massiver Steuererhöhungen, die in einer offenen Frage 46 Prozent der Westdeutschen als wahrscheinliche Konsequenz nannten und nach standardisiert vorgegebenen Antwortmöglichkeiten sogar mehr als drei Viertel.
Angesichts der heutigen Schwierigkeiten im Vereinigungsprozess hat die Voraussicht der westdeutschen Bevölkerung in der Retrospektive fast prophetischen Charakter und spricht neben einer grundsätzlich positiven Haltung gegenüber der deutschen Wiedervereinigung für eine gehörige Portion Realismus und skeptischer Zurückhaltung. Wichtigste Quelle dieser Grundstimmung war offensichtlich die antizipierte Notwendigkeit hoher Geldsummen zur Herstellung der deutschen Einheit, die 83 Prozent der westdeutschen Bevölkerung einen Monat vor dem Tag der deutschen Einheit auch für nicht bezifferbar hielten, weil sie sich erst im Laufe der Zeit herausstellen würden. Im Politbarometer vom Oktober 1990 gaben 84 Prozent an, dass die Kosten der deutschen Einheit für sie ein wichtiges oder sehr wichtiges Thema darstellten. Doch bereits im Februar 1990 waren zwei Drittel der Bundesbürger der Ansicht gewesen, dass jetzt vor allem an die Kosten der Wiedervereinigung gedacht werden müsse, während nur ein Fünftel meinte, dass es nicht die Zeit wäre, kleinkariert aufzurechnen. Obwohl sich die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung im Klaren darüber war, dass für die Herstellung der Einheit Opfer notwendig sein würden, war die persönliche Verzichtsbereitschaft nur wenig ausgeprägt. Vor allem die finanzielle Unterstützung der DDR betrachteten die meisten Bundesbürger als Angelegenheit der Bundesregierung bzw. des Staates (46 Prozent), während beispielsweise Solidarbeiträge zur Lohn- und Einkommenssteuer mehrheitlich abgelehnt wurden. Selbst in eigener Wahrnehmung schätzten im Oktober 1990 mehr als zwei Drittel der Westdeutschen die Opferbereitschaft im Westen des Landes als relativ gering ein, worin sie sich übrigens mit ihren Landsleuten in Ostdeutschland einig waren.
Man muss sicherlich nicht so weit gehen zu behaupten, dass die deutsche Einigung eher dem Westen als dem Osten "aufgezwungen" wurde, wie Klaus Schroeder in Auseinandersetzung mit prominent gewordenen Kolonialisierungsvorwürfen an die westdeutsche Adresse argumentiert. Dennoch belegen die demoskopischen Befunde im unmittelbaren Vorfeld der Wiedervereinigung, dass die Bürger im Westteil Deutschlands der Entwicklung nicht ohne Vorbehalte und Ängste begegneten und sich vom Tempo der Ereignisse zum Teil auch bedrängt und überfordert fühlten. Die Furcht vor negativen finanziellen Auswirkungen mag einerseits den Eindruck einer "kaufmännisch, unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten" vollzogenen Wiedervereinigung erhärten. Andererseits ist darin vielleicht neben den gefestigten demokratischen Grundüberzeugungen der westdeutschen Bevölkerungsmehrheit eine weitere Begründung dafür zu sehen, dass der von vielen ausländischen Beobachtern befürchtete nationale Taumel und ein Wiederaufleben deutscher Großmannssucht ausblieben.
In der Summe kann die Frage, ob die Wiedervereinigung in Westdeutschland überhaupt gewünscht war, jedenfalls mit einem klaren "Ja, aber" beantwortet werden. Der in der Bundesrepublik über Jahrzehnte konservierte Wunsch nach staatlicher Einheit war eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Gelegenheit der Geschichte genutzt werden konnte. Allerdings kann wohl kaum die Rede davon sein, dass mit dem Tag der deutschen Einheit für eine Mehrheit der Westdeutschen ein tief empfundener Herzenswunsch in Erfüllung gegangen ist. Damit stellt sich jedoch besonders dringend die Frage danach, welche Bedeutung der Wiedervereinigung von den Menschen im Westteil des Landes eingeräumt wird, seitdem der formelle Akt der staatlichen Einigung vollzogen ist.
IV. Abschnitt
Entsprechend einer Allensbach-Umfrage vom Oktober 1990 versicherten 58 Prozent der Westdeutschen, dass sie der Tag der deutschen Einheit mit besonderer Freude erfüllt hat. Allerdings traf das überdurchschnittlich oft für ältere Befragte zu, die den Mauerbau noch bewusst erlebt haben. Angesichts der verbreiteten Sorgen und Unsicherheiten überrascht es nicht, dass die unverhoffte Wiedervereinigung in Westdeutschland mit einer gewissen Nüchternheit begrüßt wurde. Obwohl die Einheit von der Mehrheit der Bundesbürger gewünscht oder als unvermeidlich hingenommen wurde, schien sie in den Augen vieler Westdeutscher vor allem für die Menschen im Osten der Republik ein bedeutsames Ereignis darzustellen. Dies spiegelt sich gewissermaßen auch darin wider, dass die Wiedervereinigung seit 1990 für die Bevölkerung in den neuen Bundesländern durchweg häufiger einen Anlass zur Freude darstellt als für ihre Landsleute im Westen. Abgesehen von einem Stimmungshoch zum Vereinigungsdatum und ungeachtet weniger Ausnahmen 1994 und 1995 sowie in der zweiten Jahreshälfte 2000 konnten sich in mehr als einem Jahrzehnt deutscher Einheit durchschnittlich nicht einmal die Hälfte aller Westdeutschen zur Freude über dieses Ereignis bekennen. Obwohl die größten Herausforderungen und gravierendsten Anpassungsschwierigkeiten von den Menschen in Ostdeutschland bewältigt werden mussten, wurde in den alten Bundesländern vergleichsweise häufiger Sorge über die Entwicklung geäußert als im Osten des Landes.
Ob die deutsche Einheit im Westen der Republik für kostbar und wertvoll erachtet wird, bemisst sich jedoch nicht allein daran, ob Freude über die Wiedervereinigung empfunden wird. Im Gegenteil, die Sorge über die Entwicklung der Wiedervereinigung kann sogar Ausdruck von Wertschätzung sein, wenn diese Besorgnis mit der Bereitschaft einhergeht, in die Gemeinsamkeit zu investieren. Will man dafür nur finanzielle Opferbereitschaft zum Maßstab nehmen, stimmen die Daten des IfD Allensbach zunächst pessimistisch.
Nachdem die Einführung des Solidarbeitrages bereits im Politbarometer 1991 von der Hälfte der westdeutschen Bevölkerung als nicht gerechtfertigt angesehen wurde, verlangen in einer Allensbach-Umfrage vom September 2000 61 Prozent der Westdeutschen seine Abschaffung. Ein Jahr zuvor waren knapp zwei Drittel in den westlichen Bundesländern außerdem der Auffassung, dass für die Vereinigung zu viel Geld ausgegeben werde. Etwas positiver stimmt hingegen die Tatsache, dass wenige Monate darauf, im Januar 2000, eine knappe Mehrheit (52 Prozent) in Westdeutschland der Auffassung war, dass der Osten der Republik auch künftig finanziell unterstützt werden müsse, während 47 Prozent eine deutliche Kürzung der Zahlungen verlangten. Obwohl unter den Westdeutschen also von Anfang an wenig Neigung vorhanden war, für die Überwindung der Teilung persönliche Einkommenseinbußen zu akzeptieren, werden diese - wenn auch zähneknirschend - in Kauf genommen. Dabei mag helfen, dass die Mehrheit der Westdeutschen in eigener Wahrnehmung mit der Wiedervereinigung keine gravierenden Wohlstandseinbußen in Kauf nehmen musste, wenngleich ihre subjektive Lebenszufriedenheit in unterschiedlichen Bereichen zwischen 1993 und 1998 zurückgegangen ist oder stagnierte. Im gleichen Zeitraum ist übrigens der Anteil der Westbürger, die sich nach eigener Auffassung mit dem Osten Deutschlands solidarisch fühlen, von 50 auf 52 Prozent gewachsen.
Ausdruck von Solidarität und Verbundenheit der Westbevölkerung mit den Menschen im Osten sind jedoch nicht allein finanzielle Opfer, ob sie nun bereitwillig gezahlt werden oder nicht. Für das Zusammenwachsen beider Bevölkerungen nach vier Jahrzehnten aufgezwungener Trennung scheint langfristig bedeutsamer, inwiefern der Prozess der Wiedervereinigung eine emotionale Bindung an das geeinte Land und die gemeinsame Bevölkerung zu schaffen vermag. Denn aus westdeutscher Sicht dürfte das die Grundlage dafür sein, die Hilfe für den anderen Landesteil trotz eigener Einschränkungen auch künftig als legitime Unterstützungsleistung anzuerkennen. In dieser Frage, die meist mit dem Begriff der "inneren Einheit" umschrieben wird, bestehen die markantesten Differenzen innerhalb der Forschung und die größten Widersprüche in der öffentlichen Wahrnehmung. Trotz der Tatsache, dass es sich bei der "inneren Vereinigung" um einen facettenreichen Prozess mit ganz unterschiedlichen Problemdimensionen handelt, dürfte es als eine ermutigende Entwicklung gelten, dass die westdeutsche Bevölkerung inzwischen seltener Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen entdecken mag. Zwar ist auch noch im Jahr 2000 eine relative Mehrheit von 35 Prozent der Ansicht, dass die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen überwiegen, doch 1992 waren mit 52 Prozent noch die meisten Befragten in den alten Bundesländern dieser Ansicht. Darüber hinaus wächst in beiden Landesteilen die Überzeugung, ein Volk zu sein: Hielten 1997 nur 45 Prozent der Westdeutschen den Ausspruch "Wir sind ein Volk" für zutreffend, waren es im September 2001 bereits 52 Prozent und damit die Mehrheit der Bürger. Und in den persönlichen Begegnungen der Menschen aus beiden Landesteilen scheint die "innere Mauer" als Haupthindernis der "inneren Vereinigung" nie eine große Rolle gespielt zu haben. Denn trotz der Anerkennung von Mentalitätsunterschieden und beharrlich vorgetragener Negativstereotype zwischen Ost- und Westbevölkerung ist die überwältigende Mehrheit der Westdeutschen, die mit Menschen aus den östlichen Bundesländern zusammengetroffen sind, immer schon der Auffassung gewesen, dass man sich gut verstehe. Obwohl Missverständnisse aufgrund unterschiedlicher Kommunikationskulturen damit keinesfalls ausgeschlossen sind, zeigen die Allensbacher Umfrageergebnisse zwischen 1991 und 2000, dass persönliche Begegnungen eine positive Entwicklung in der gegenseitigen Wahrnehmung stimulieren können.
Dies erscheint auch plausibel, wenn davon ausgegangen werden kann, dass zwischenmenschliche Beziehungen eine wesentliche Voraussetzung dafür bilden, sowohl Neugier und Interesse als auch Empathie und Verständnis für den anderen zu entwickeln. Die Bereitschaft dazu darf ebenfalls als ein Maß der allgemeinen Wertschätzung für den gemeinsamen Weg betrachtet werden. Allerdings zeigen Westdeutsche diesbezüglich noch größere Zurückhaltung, die hier nur impressionistisch illustriert werden kann. Die im vergangenen Jahr heftig diskutierte Diagnose von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, dass die wirtschaftliche und soziale Lage in Ostdeutschland auf der Kippe stehe, wollte nach einer Allensbach-Umfrage im August 2001 im Vergleich zu 65 Prozent der Ostdeutschen nur ein Drittel der Befragten in den alten Bundesländern unterstützen. Bezeichnenderweise traute sich jedoch eine relative Mehrheit der Westdeutschen (39 Prozent) ein Urteil in dieser Frage gar nicht erst zu. Noch im Mai 2001, mehr als ein Jahrzehnt nach der deutschen Vereinigung, war nicht einmal jeder Fünfte der Westdeutschen von sich überzeugt, die Verhältnisse im Osten der Republik gut oder sehr gut zu kennen (19 Prozent). Eine deutliche Mehrheit (59 Prozent) äußerte sich diesbezüglich vorsichtig, indem sie meinte, die Lage in Ostdeutschland etwas zu kennen. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb konnten sich fast 80 Prozent der Befragten nicht vorstellen, in die neuen Bundesländern umzuziehen, um dort zu leben und zu arbeiten.
Von den bislang präsentierten demoskopischen Befunden einmal abgesehen, dürfte sich die Bedeutung der Wiedervereinigung für die westdeutsche Bevölkerung aber nicht allein danach bemessen, was man zu geben bereit ist. Vielmehr muss auch danach gefragt werden, was man glaubt, mit der deutschen Einheit gewonnen zu haben. Oder, wie Johannes Kuppe in dieser Zeitschrift einmal fragte: "Hat ...die Vereinigung uns Deutsche glücklicher oder unglücklicher gemacht?"
Angesichts der Forschungslage stehen empirisch gestützte Antworten darauf jedoch noch weitgehend aus. Wohlstandsgewinne trafen für die große Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung nicht ein, wurden aber auch nicht erwartet. Als "Geschenk" der deutschen Einheit sah sie einer Untersuchung Mitte der neunziger Jahre zufolge vor allem Freiheit, Demokratie und das Ende des Kalten Krieges. Das sind jedoch allgemein gehaltene Bewertungen, die sich zum Teil auch weniger auf den eigenen Landesteil als auf die ostdeutsche Bevölkerung beziehen. Die spärlichen empirisch gestützten Informationen über mögliche Gründe, warum die Bevölkerung der alten Länder der deutschen Einheit auch aus persönlicher und emotionaler Sicht Wertschätzung entgegenbringen sollte, scheint eher zu bestätigen, dass "die historische Zäsur der staatlichen Vereinigung zum schnell konsumierten Alltag wurde" .
Dafür spricht auch, dass im November 2000 trotz möglicher Mehrfachnennungen nur 14 Prozent der Westdeutschen im Vergleich zu 22 Prozent der Ostdeutschen die deutsche Wiedervereinigung als ein erinnerungswürdiges Datum der deutschen Historie betrachteten; nur 13 Prozent (Ost: 29 Prozent) wählten unter mehreren Antwortvorgaben die deutsche Einheit als den für die deutsche Gegenwart bedeutungsvollsten Geschichtsabschnitt. Statt dessen dominieren im Geschichtsbewusstsein beider Bevölkerungsgruppen, vor allem jedoch im Westen der Bundesrepublik, mit der Erinnerung an den II. Weltkrieg und an die Verbrechen der Nazizeit die dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte.
Es lässt sich anhand dieser Ergebnisse nicht entscheiden, ob die Vereinigung für die Bevölkerung in den alten Bundesländern nur wenig Grund für Stolz und Dankbarkeit bietet, obwohl sie so lange gewollt und angestrebt wurde. Es könnte auch sein, dass sich dahinter wiederum die Tatsache eines von mehrfachen Asymmetrien gekennzeichneten deutschen Vereinigungsweges verbirgt, der die Welt der Ostdeutschen über Nacht aus den Fugen hob, während die der Westdeutschen vom Sturm der Ereignisse mehr oder weniger unberührt blieb und sich erst ganz allmählich in die Veränderung schickt.
Doch bei allen Problemen, mit denen die Folgelasten der Wiedervereinigung das vereinte Deutschland konfrontierte und die laut Politbarometer vom September 2000 drei Viertel der Westdeutschen auch noch für größtenteils ungelöst halten, wurde die Einheit Deutschlands von der Westbevölkerung zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt. Selbst als der Pessimismus überwog und im September 1992 mehr als die Hälfte der Westdeutschen der Meinung war, dass es mit der Einheit schlechter als gedacht laufe, hielten 82 Prozent die Wiedervereinigung nach wie vor für richtig, acht Jahre später sogar 90 Prozent. Was kann größerer Ausdruck von Wertschätzung sein als das Festhalten an der einmal getroffenen Entscheidung, die Zukunft fortan gemeinsam zu gestalten?