I. Abschnitt
Missverständnisse und Verständigungsprobleme in der Ost-West-Kommunikation treten erst allmählich ins öffentliche Bewusstsein. Im Alltag schlagen sie sich in einem diffusen Unwohlsein, in achselzuckendem Ärger, in resigniertem Kopfschütteln oder abwertenden Vorurteilen nieder. Oder man geht sich einfach aus dem Weg. Wie sehr sich die unterschiedlichen kulturellen und mentalen Prägungen auch in unterschiedlichen Arten zu kommunizieren - in unterschiedlichen Kommunikationskulturen - niedergeschlagen haben, wird erst allmählich klar.
Wer die Ost-West-Kommunikation beobachtet, fragt sich natürlich, ob ein bestimmtes Kommunikationsproblem wirklich nur auf die Unterschiede in den ost- und westdeutschen Kommunikationskulturen zurückzuführen ist, oder ob es nicht auch andere Erklärungsmuster gibt. Wir sind ja nicht nur von einer - der westlichen oder der östlichen - Kommunikationskultur geprägt, sondern auch von verschiedenen anderen sprachlichen Subkulturen. Da gibt es das bekannte Nord-Süd-Gefälle innerhalb des Ostens und innerhalb des Westens, es gibt landschaftliche Besonderheiten, es gibt altersbedingte, politische oder religiöse Sprachkulturen.
Aus diesen Gründen spreche ich auch nicht von "den Ostlern" oder "den Westlern", die es so natürlich nicht gibt, sondern von einer ost- und einer westdeutschen Kommunikationskultur, deren prägende Kraft nicht zu unterschätzen ist.
II. Abschnitt
Hinter diesen wiederkehrenden Irritationen verbergen sich unterschiedliche kulturelle und mentale Prägungen, Erwartungen und Selbstverständlichkeiten. Sie schlagen sich nicht nur in den Inhalten der Gespräche, sondern vor allem auch in der Form nieder, wie miteinander kommuniziert wird. Diese Unterschiede betreffen Einstellungen und Haltungen: zu uns selbst, zum eigenen Körper, zu anderen Personen, zum Aufbau und zur Wertigkeit von Beziehungen, zum Phänomen der Zeit, zum Thema von Teilhabe und Abgrenzung, zum Verhältnis von Nähe und Distanz, zur Frage von Konsens oder Konflikt, um nur einige zu nennen. Was die Verständigung erschwert, sind nicht unbekannte Worte wie "Goldbroiler" oder "Datsche" auf der einen Seite oder Anglizismen auf der anderen. Zu einer "gemeinsamen Sprache" oder besser gesagt zu einer "gleichen Kommunikationskultur" gehören nicht nur übereinstimmende Vokabeln. Wichtig ist auch die übereinstimmende Deutung des Gesagten. Voraussetzung dafür, einander verstehen zu können, sind ähnliche Wertehierarchien (die normalerweise nicht mitkommuniziert werden), gleiche kulturelle Hintergründe (die in Ost und West als vorhanden vorausgesetzt werden) und die gleiche Interpretation der Körpersprache. In Ost- und Westdeutschland differieren die Wertehierarchien, sind die kulturellen Hintergründe nicht gleich, wird die Körpersprache jeweils anders gedeutet. Drei gravierende Unterschiede seien im Folgenden angeführt:
Da ist erstens das unterschiedliche Zusammenwirken von verbalen und nonverbalen Kommunikationsformen in Ost- und Westdeutschland zu beobachten. So lassen sich beispielsweise Unterschiede in der Länge des Blickkontaktes, in der Vorstellung von "normaler" körperlicher Nähe und Distanz, in der Bedeutung des Handgebens und in der Anzahl und Länge der Gesprächspausen feststellen. Diese nonverbalen Kommunikationsformen korrespondieren auf eine sehr spezielle Weise mit den jeweils gesprochenen Worten. Man kennt das Problem beim Flirten. Über Erfolg oder Misserfolg in der Kommunikation entscheidet, ob das Gegenüber das Zusammenspiel von Worten und Gesten so wahrnimmt und deutet, wie es gemeint war.
Zweitens gibt es eine Reihe von Verständigungsproblemen hinsichtlich dessen, was wir "sagen" und dessen, was wir "meinen". Was gemeint ist, ergibt sich in jeder Kommunikationskultur aus einer ganz speziellen Mischung dessen, was tatsächlich gesagt - dem eigentlichen Text -, und dessen, was beim Gegenüber als "selbstverständlich" vorausgesetzt wurde: dem so genannten Kontext. Dieser wird als bekannt und selbstverständlich vorausgesetzt. Ein Beispiel: In der westdeutschen Kommunikationskultur gibt es eine starke Trennung zwischen sachlich-öffentlichem und persönlich-privatem Lebensbereich. Sie gilt als selbstverständlich, muss also im Gespräch nicht eigens betont werden. In der ostdeutschen Kommunikationskultur sind beide Lebensbereiche viel stärker miteinander verzahnt. Aus diesem Grund bestehen die ostdeutschen Mitarbeiterinnen bei ihrer westdeutschen Chefin darauf, sie solle ihre Kritik als "rein sachlich" und "nicht persönlich gemeint" kennzeichnen, was aus deren Sicht vollkommen überflüssig ist.
Drittens ist der Bereich der Irritationen zu nennen, der mit der Sprachökonomie zusammenhängt. Man lässt alles "Überflüssige" weg, von dem man glaubt, dass es sowieso klar sei. Auch hier sei zur Verdeutlichung ein Beispiel angeführt: Eine Person sagt zu einer anderen: "Bringen Sie mir doch bitte ein Glas Wasser." Wenn das Wasser lauwarm oder heiß ist, wenn nur ein paar Tropfen im Glas sind, wenn das Wasserglas schmutzig ist oder erst zwei Stunden später gebracht wird, ist schnell klar, dass die Kommunikation nicht ganz so vollständig war, wie man gedacht hatte.
Wie in diesem Fall wird in der Kommunikation das meiste nicht ausformuliert, sondern weggelassen bzw. vom Gegenüber unbewusst ergänzt. Solange es den unausgesprochenen Kontext kennt, gibt es keine Probleme. Die beginnen jedoch, wenn der gegenständliche Bereich verlassen wird. Beim Ausdrücken von Nähe oder Distanz, von Höflichkeit oder Schroffheit, von Interesse oder Desinteresse, von Zuneigung oder Ablehnung, von Anerkennung oder Kritik, bei der Deutung von Blicken, Gesten und Bewegungen ist der vorausgesetzte Kontext wesentlich schwieriger zu entschlüsseln und die Anzahl der möglichen Übertragungs- und Deutungsfehler ist entsprechend größer. Außerdem sind die Auswirkungen meist nicht sofort, sondern erst mit einer zeitlichen Verzögerung für beide Seiten zu spüren.
In der ost-west-deutschen Kommunikation ist in den oben genannten Bereichen von unterschiedlichen Voraussetzungen und Deutungen auszugehen. Dessen ungeachtet werden im Gespräch jeweils gleiche Kontexte unterstellt. Irritationen und Frustrationen, die sich die Beteiligten oft nicht wirklich erklären können, sind die Folge.
Zum Wesen des Kontextes gehört, dass sich die Sprechenden des Kontextes des Gesagten oft kaum bewusst sind (weil er in Fleisch und Blut übergegangen ist). Da - wie bei Ost- und Westdeutschen - die Kontexte differieren, muss das zu Problemen führen. Wenn man selbst die besten Absichten hat und dennoch Kommunikationsprobleme auftreten, liegt es nahe, die "Schuld" beim Gegenüber zu suchen. Das hilft aber nicht weiter, weil die Ursache dafür nicht nur ein individuelles, sondern auch ein kulturelles Phänomen ist.
III. Abschnitt
In welchen Bereichen mit Unterschieden - mit Irritationen, Missverständnissen oder sogar Kommunikationsschocks - zu rechnen ist, lässt sich hier nur summarisch zusammenfassen:
1. Im nonverbalen Bereich gibt es Unterschiede in der Länge des als "normal" empfundenen Blickkontaktes. Wenn man im Stehen miteinander spricht, wird ein jeweils unterschiedlicher körperlicher Abstand als "angemessen" empfunden. Die Art und Weise, "Raum einzunehmen" oder "Raum zu geben", ist kulturell anders verankert. Schließlich gibt es unterschiedliche Anlässe und Empfindungen beim "Handgeben". Auch die Länge der Sprechpausen, die für das Gespräch eklatante Auswirkungen hat, differiert in Ost und West.
2. Wenn man nicht schon im nonverbalen Bereich gestrauchelt ist, sind die ersten Worte die nächste Klippe. Es lassen sich gänzlich andere Strategien bei der Gesprächseröffnung Ost- und Westdeutscher nachweisen. Ob zuerst der Status oder die persönliche Beziehung zum Gegenüber in den Blick genommen wird, ist in Ost und West genau gespiegelt. Und bei der Selbstpräsentation liegen zwischen Ost und West Welten.
3. Zu den häufigsten Konflikten kommt es, wenn das Schweigen des Gegenübers von der einen Seite "ganz selbstverständlich" als Zustimmung, von der anderen als Ablehnung interpretiert wird. Dann treffen bei Entscheidungsprozessen ganz unvermittelt Mehrheits- und Konsenskonzepte aufeinander und führen zu merkwürdigen Unterstellungen. Bei der einmal eher direkten und einmal eher indirekten Art der Auseinandersetzung geraten beide Seiten oft in eine Pattsituation. Und wenn etwa Ost- und Westdeutsche Verabredungen treffen, sind Überraschungen und Irritationen auf beiden Seiten vorprogrammiert.
4. Im Bereich der Arbeit unterscheiden sich ost- und westdeutsche Kommunikationskultur beträchtlich, so etwa bei Anweisungen. Auch sind die Erwartungshaltungen in Bezug auf Fehler, die man machen darf oder eben nicht, unterschiedlich. Große Differenzen gibt es zudem hinsichtlich des Umgangs mit Zeit. Schließlich haben auch das gesprochene und das geschriebene Wort unterschiedliche Verbindlichkeit und Gültigkeit. Wie unterschiedlich das Persönlichkeitsmodell in Ost und West ist, lässt sich am besten an empfundenen Grenzüberschreitungen zeigen: wenn die unterschiedlichen Vorstellungen von dem, was sachlich-öffentlich und was persönlich-privat ist, aufeinander treffen.
5. Ein spezielles Kapitel sind Ost-West-Paare: Die Erfahrungen reichen hier von einem "Du bist ja ganz anders, und das ist wunderbar" bis zu den kompliziertesten Doppelverwirrungen.
IV. Abschnitt
Es gibt drei Gründe, warum die Ost-West-Kommunikation oft als so schwierig empfunden wird:
Erstens werden das Ausmaß der Unterschiede und die damit einhergehenden Differenzen in den beiden Kommunikationskulturen nicht wahrgenommen.
Zweitens wird in der Ost-West-Kommunikation nicht auf eine gegenseitige Annäherung der beiden Kommunikationskulturen, sondern - bewusst oder unbewusst - auf die einseitige Anpassung der Ostdeutschen gesetzt. So wurde anfangs erwartet, dass sich die Unterschiede in der Kommunikationskultur durch einseitige Anpassung schnell abschleifen würden. Aber genau das ist nicht eingetreten.
Drittens schließlich wird die Kommunikation in Deutschland oft schwierig, weil es in Ost wie West keine ausgeprägte Kultur gibt, Differenzen positiv zu bewerten und kreativ mit ihnen umzugehen. Wer sich Unterschieden neugieriger und erwartungsvoller nähert, könnte auftretende Kommunikationsprobleme nicht nur als Infragestellung und Verunsicherung, sondern auch als unerwartete Bereicherung erfahren.
Es sollte also ein Bewusstsein entstehen, dass es in Ost- und Westdeutschland unterschiedliche Kommunikationskulturen gibt. Bei Gesprächen zwischen Ost- und Westdeutschen müssten daher die Prinzipien der interkulturellen Kommunikation angewendet werden. Bei verbalen, emotionalen oder körperlichen Irritationen sollte man nicht dem Gegenüber (oder sich selbst) die Schuld geben, sondern das Problem da verorten, wo es am wahrscheinlichsten seine Ursache hat: in den unterschiedlichen Kommunikationskulturen. Wenn beide Seiten mit Verständigungsproblemen rechnen, münden Kommunikationsprobleme nicht zwangsläufig in Frustrationen. Es gilt die Regel: Je größer die Erwartungshaltung in Bezug auf eine Übereinstimmung ist, desto frustrierender sind die Erfahrungen, die man macht, und umso schwerer ist der "Kommunikationsschock".
Mit einem "positiven Vorurteil" ausgerüstet, ist es leichter, auftretende Irritationen bewusst zu registrieren. Der nächste Schritt wäre: die Empfindungen auszusprechen, die das Gegenüber bei einem ausgelöst hat, indem nachgefragt wird, was er oder sie gemeint hat (statt spontan emotional zu reagieren). Außerdem die eigenen Hintergründe oder auch den Kontext mitzukommunizieren, wenn man registriert, dass der oder die andere eine nonverbale oder verbale Reaktion zeigt, die in krassem Gegensatz zu dem steht, was man eigentlich intendiert hat.
Leider ist der "blinde Fleck", an dem die eigene Kommunikation in einer ganz speziellen Situation scheitert, oft schwer zu erkennen. Das gilt vor allem, wenn jemand allein in der für ihn fremden Kommunikationskultur lebt und arbeitet. Aber auch bei Ost-West-Paaren münden Kommunikationsprobleme innerhalb der Beziehung oft in persönliche Schuldzuweisungen. Nicht zuletzt gilt das auch für angespannte Gruppensituationen. In solchen Fällen ist es gut, sich einen externen Berater zu suchen, der als Ansprechpartner, Übersetzer oder Trainer zur Verfügung steht.
Abschließend sei angemerkt, dass die gezielte Beobachtung und Verbesserung der eigenen kommunikativen Fähigkeiten - über die Ost-West-Kommunikation hinaus - wichtiger wird: In einer Zeit, in der Europa zusammenwächst, in der große Einwanderungsbewegungen vorherzusehen sind, kommt der interkulturellen Kommunikation immer größere Bedeutung zu. Zukünftig wird wesentlich mehr von dem, was dem Einzelnen innerhalb seiner Kommunikationskultur als "selbstverständlich" erscheint, mitkommuniziert und "ausgehandelt" werden müssen. Denn für den Gesprächspartner, der in einer ganz anderen kommunikativen Welt lebt, gibt es andere "Selbstverständlichkeiten" - wie in Ost und West.