Einleitung
Die Frage, welche Chancen das Internet für die Demokratie bietet und welche nicht, steht in Deutschland bereits seit einiger Zeit auf der politischen Tagesordnung. In diesem Beitrag sollen Möglichkeiten und Chancen elektronischer Demokratie diskutiert und anhand von normativen Anforderungen an die politische Öffentlichkeit und Kommunikation beurteilt werden. Folgende Vorgehensweise wurde gewählt: Aufgrund demokratietheoretischer Überlegungen wird ein normatives Modell politischer Öffentlichkeit dargestellt und diskutiert. Inwiefern die Internet-Öffentlichkeit diesen normativen Kriterien genügt, wird ebenso erörtert wie die Voraussetzungen analysiert werden, unter denen es durch das Internet zu einer Virtualisierung von Öffentlichkeit kommt.
Ausgehend von den verschiedenen Phasen der politischen Entscheidungsfindung wird diskutiert, wie das Internet in diese einbezogen werden kann. Dabei zeigt sich, dass es vor allem in der Phase der Information und Analyse bzw. Diskussion zahlreiche Möglichkeiten gibt, die neuen Technologien zu nutzen. Im letzten Abschnitt werden Chancen und Risiken elektronischer Demokratie herausgearbeitet.
I. Politische Öffentlichkeit und Internet
Die Frage, ob sich durch das Internet eine neue Form der Öffentlichkeit konstituiert, drängt sich geradezu auf - zum einen, weil von einigen Verfechtern der elektronischen Demokratie das Internet als elektronische Agora gepriesen wird, zum anderen, weil Öffentlichkeit ein hochpolitischer Topos ist, den bereits der athenische Marktplatz - jene jetzt wieder entdeckte Agora - mit dem Ideal der Demokratie verbunden hat.
Moderne Öffentlichkeit lässt sich definieren als "relativ frei zugängliches Kommunikationsfeld, in dem Sprecher mit bestimmten Thematisierungs- und Überzeugungstechniken versuchen, über die Vermittlung von Kommunikateuren bei einem Publikum Aufmerksamkeit und Zustimmung für bestimmte Themen und Meinungen zu finden"
Im Folgenden sollen bestimmte normative Forderungen aus den drei grundlegenden Strukturmerkmalen des idealen Modells politischer Öffentlichkeit - nämlich Gleichheit, Offenheit und Diskursivität - hergeleitet sowie eventuell bestehende Beschränkungen benannt werden.
1. Gleichheit
Gleichheit der kommunikativen Beziehungen impliziert die Forderung nach Reziprozität: Nicht nur die Möglichkeit, zuzuhören und sich selbst ein Urteil zu bilden, sondern auch die Möglichkeit, sich öffentlich zu äußern und Gehör zu finden, sollen gleich verteilt sein. Dabei ist einfache Gleichheit in Form gleicher Redezeit nur in sehr kleinen Gruppen möglich. In größeren Versammlungen ist es nicht nur typisch, sondern unvermeidlich, dass eine Minderheit von Diskutanten sich an eine Mehrheit von Zuhörern wendet. Durch moderne Kommunikationstechnologien sind sehr große Teilnehmerzahlen möglich geworden, diese erzwingen per se eine Asymmetrie von Sprecher- und Hörerrollen. Daran ändert prinzipiell auch das Internet nichts, da die Anzahl der aktiven Kommunikationsteilnehmer zwar bis zur vollständigen Gleichheit aller Teilnehmer ansteigen könnte, dann jedoch die Zeit, die der Empfängerkreis zum Verarbeiten jeder Botschaft aufwenden kann, bei gegebenem Zeitbudget entsprechend weniger würde, bzw. der durchschnittliche Empfängerkreis jeder Botschaft entsprechend kleiner. Diese Beschränkungen von Gleichheit und Reziprozität in der öffentlichen Kommunikation gehören zu den invarianten Grundmerkmalen moderner Gesellschaften: In großen Öffentlichkeiten ist der Anteil aktiver Sprecherrollen zwangsläufig klein - relativ zur Größe des Publikums.
2. Offenheit
Offenheit bedeutet, dass die Relevanz von Themen und Beiträgen im öffentlichen Diskurs selbst zu prüfen ist. Diese Forderung fußt auf einer Kompetenzunterstellung: Der Öffentlichkeit wird da-mit eine hinreichende Sensibilität zugeschrieben, um die wichtigsten Probleme zu identifizieren, sowie die Kapazität, die als relevant erachteten Themen auch zu behandeln. Auch hier unterliegt die Forderung bestimmten Beschränkungen: "Die moderne Welt ist zu kompliziert, der Probleme sind zu viele, die Debatten werden zu lang, das Leben ist zu kurz, und die Probleme können nicht warten."
Was aber ist die Konsequenz für die Forderung nach Offenheit? Offenheit ist als Merkmal des Auswahlprozesses zu verstehen. Das Zirkulieren von Themen in vielen Teilöffentlichkeiten muss dazu führen, dass die "wichtigsten" Themen größere Aufmerksamkeit erfahren, dass nicht bestimmte "wichtige" Themen systematisch unterdrückt oder benachteiligt werden. Diese Erkenntnis Peters' wird von Donges/Jarren expliziert:
Da sich zwischen allen drei Ebenen Selektionsstufen befinden, lautet in demokratischen Gesellschaften die normative Forderung: In der politischen Öffentlichkeit soll Durchlässigkeit gewährleistet sein, sodass relevante Themen mittels "Anschlusskommunikation" alle drei Ebenen durchdringen. Kein Akteur darf verhindern können, dass ein Thema bis in die Medienöffentlichkeit vordringt (wie dies etwa beim politisch kontrollierten Staatsfernsehen in nichtdemokratischen Regimen der Fall ist, wo bestimmte Themen "totgeschwiegen" werden).
3. Diskursivität
An dieser Stelle muss zunächst auf den Unterschied zwischen diskursiver Kommunikation und reinen Verhandlungen (bargaining) hingewiesen werden. Bei Verhandlungen geht es darum, durch wechselseitige Angebote, Drohungen oder auch Manipulation zu einer Vereinbarung zu kommen. Einstellungen und Überzeugungen der Kontrahenten bleiben davon unberührt. Verhandlungen werden in vielen sozialen Kontexten als eine akzeptable Form des Interessenausgleichs betrachtet, meist verbunden mit Vorstellungen über faire Verhandlungsbedingungen.
Verständigungsorientierte, auf Argumentation aufbauende Interaktion ist dagegen für soziale und kulturelle Prozesse der Kommunikation kennzeichnend und an die Bedingung geknüpft, dass die Interaktionspartner ihre Interessen und Werte offen legen und durch Austausch von Argumenten eine gemeinsame Lösung anstreben. Auseinandersetzungen über Problemdefinitionen und Lösungsvorschläge werden dabei mit Argumenten ausgetragen, die Anspruch auf kollektive Akzeptanz erheben; die Akzeptanz wiederum beruht auf geteilter, zwanglos erzielter Überzeugung. Dabei muss die Prüfung der Überzeugungskraft von Argumenten getrennt werden von Vermutungen und Urteilen über verborgene Motive des Diskussionspartners.
Diese Eigenschaft einer diskursiven Auseinandersetzung - zugleich eine Forderung - impliziert, dass jemand, mit dem man in einer zur Diskussion stehenden Frage überhaupt nicht übereinstimmt, ein Argument vorbringen kann und dass dieses Argument dann von einem selbst auch als solches anerkannt werden muss. In gleicher Weise soll abgesehen werden von der Beanspruchung privilegierter Erkenntisquellen: Die Forderung lautet hier, von Persönlichkeits- oder Statusmerkmalen sowie von der Gruppenzugehörigkeit eines Diskutanten zu abstrahieren. Im Gegensatz zu den beiden anderen Strukturmerkmalen der "idealen" Öffentlichkeit - Gleichheit und Offenheit - müssen also weder bei der Forderung nach Diskursivität öffentlicher Debatten noch bei den genannten normativen Implikationen Einschränkungen vorgenommen werden.
Auf den ersten Blick scheint das Internet alle erwähnten Kriterien zu erfüllen: Es ist prinzipiell teilnahmeoffen, wobei der Antagonismus zwischen faktischer und prinzipieller Offenheit aus demokratietheoretischer Perspektive nicht zufrieden stellen kann. Durch die verschiedenen Dienste (E-Mail, WWW, Newsgroups u. a.) wird theoretisch sowohl Reziprozität als auch Diskursivität möglich. Traditionelle Sender-Empfänger-Strukturen können aufgebrochen werden, jeder kann vergleichsweise günstig als Sender in Erscheinung treten. Statt bisher nur one-to-many-, wird nun auch many-to-many-, many-to-one- oder one-to-one-Kommunikation möglich. Dabei erlauben die dialogischen Möglichkeiten eine gleichwertige Kommunikation zwischen den Teilnehmern. Informationen, die zur Herstellung von Transparenz unabdingbar sind, können in großer Auswahl, leichter und schneller zugänglich gemacht werden. So ist es prinzipiell möglich, dass über das Internet eine demokratische "Gegenöffentlichkeit" hergestellt wird, durch die sich Interessen artikulieren können, die ansonsten kein Gehör finden würden.
Bei der Zusammenstellung der demokratischen Potenziale einer Internet-Öffentlichkeit fällt auf, wie häufig die Begriffe "möglich" oder "potenziell" verwendet werden. Die Potenziale für einen rationalitätsgeleiteten Diskurs sind beim Internet aufgrund der reziproken und anonymen Kommunikationsstruktur zwar höher als im Rahmen der von einseitiger Kommunikation dominierten Massenmedien, jedoch sind zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch weitreichende Einschränkungen vorzunehmen, die hier nur kurz genannt werden sollen:
- Technische Grenzen der Bandbreite.
- Internet-Nutzer bilden (noch) keinen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung.
- Die Art der Nutzung: Ob über Internet politische Kommunikation stattfindet, hängt davon ab, ob die "User" von den entsprechenden Angeboten Gebrauch machen.
- Dominanz der Massenkommunikation im Netz: Trotz der interaktiven Möglichkeiten dominieren im Netz one-to-many-Anwendungen, wozu auch Websites zählen.
- Mehr Information führt nicht automatisch zu mehr Transparenz. Relevante Informationen auszuwählen und kognitiv zu verarbeiten wird zur entscheidenden Herausforderung.
Als Fazit lässt sich festhalten, dass das Internet der massenmedialen Öffentlichkeit in einigen Punkten potenziell überlegen ist. Potenziale aktivieren sich aber nicht von selbst, erforderlich hierfür wären vor allem die Sicherstellung eines kostenlosen Zugangs für alle und die Vermittlung kritischer Medienkompetenz - fundamentale Voraussetzungen für die politische Partizipation über das Internet, die ebenso intuitiv einsichtig wie schwer zu erfüllen sind.
II. Das Internet im politischen Willensbildungsprozess
1. Agenda-Setting und Initiative
Die Probleme des Online-Agenda-Settings entsprechen den generellen Einwänden gegen eine Internet-Öffentlichkeit, wie sie im vorangegangenen Abschnitt diskutiert wurden: Es mag sein, dass sich durch das neue Medium fast jeder kostengünstig eine Homepage einrichten kann und dass theoretisch auf diese Weise eine Gegenöffentlichkeit entsteht, in der sich auch bisher unterrepräsentierte Interessen artikulieren können. Es muss sie nur jemand wahrnehmen. Und solange das Internet mehr distributiver denn interaktiver Natur ist, solange dominieren die bereits aus der massenmedialen Zeit bekannten one-to-many-Angebote.
Ein weiteres Hemmnis bei der Artikulation von Problemen liegt in der Größe des Netzes: Die Unendlichkeit macht den Vorgang der Auswahl der relevanten Probleme schwierig. Doch hier unterscheidet sich das Internet allenfalls in der Dimension, nicht aber in der Kategorie vom System der Massenmedien: Was in einem kleinen Lokalblatt steht, bleibt für die massenmediale Öffentlichkeit genauso verborgen wie eine Homepage, die keiner beachtet - es sei denn, ein landesweit rezipiertes Medium, sei es nun ein Print- oder ein Online-Erzeugnis, greift das Thema auf und erzeugt so die notwendige Öffentlichkeit.
Die Einschätzung von Donges/Jarren, das Internet werde "in der Problemartikulation nur eine untergeordnete Rolle spielen können"
Wie Agenda-Setting in Zukunft verstärkt aussehen könnte, zeigen die beiden Angebote "E-The People" und "Speakout"
Der Grund für die öffentliche Nichtbeachtung vieler Internetseiten ist indes keinesfalls immer Desinteresse, sondern die mangelnde Zuverlässigkeit von Suchmaschinen: So konnte bei einem Test von Computerwissenschaftlern des NEC-Forschungslabors die beste Suchmaschine nur 16 Prozent des WWW identifizieren. Die elf populärsten Suchmaschinen zusammen brachten es gerade einmal auf 42 Prozent.
2. Information und Deliberation
Mehr Möglichkeiten als beim Agenda-Setting gibt es beim nächsten Schritt im politischen Willensbildungsprozess: der Information und Deliberation, also der zwanglosen, ausführlichen und abwägenden Diskussion. Möglich und wünschenswert wäre es, wenn Organisationen und Parlamente jeder politischen Ebene die neuen Technologien nutzen und umfassende Informationen ins Netz stellen würden: über Mitglieder, Tagesordnungen, Gesetzentwürfe, Reden, Änderungsanträge und Beschlüsse. Auch kann in einem moderierten Chat-Raum über anstehende Fragen in Form eines Electronic Town Meeting diskutiert werden. Hier sind verschiedene Formen der diskursiven Beteiligung am politischen Prozess denkbar. Das Internet bietet dabei die Möglichkeit, bestimmte Verfahren der Beteiligung erheblich zu vereinfachen und auch Menschen anzusprechen, denen konventionelle Teilhabe - aus welchen Gründen auch immer - nicht möglich ist. Das Instrument der "Bürgerforen" könnte online simuliert bzw. nachgebildet werden.
Dem Internet-Angebot deutscher Kommunen nach zu urteilen stecken solche Ansätze jedoch noch in den Kinderschuhen: Eine Untersuchung der Webseiten hessischer Kommunen mit einer Einwohnerzahl von über 20 000 ergab im August 2002, dass 20 Prozent der untersuchten Städte auf ihren Hompages ein Online-Forum eingerichtet haben, in dem über politische Themen diskutiert werden kann (reine Gästebücher ohne Antwortmöglichkeit wurden nicht gewertet). Lediglich oder immerhin 20 Prozent - das ist hier die Frage. Bei der Beantwortung hilft ein Vergleich zu den Ergebnissen der gleichen Untersuchung vom Dezember 2001 - damals waren es nur 16 Prozent.
Bürgernetzwerke als Mediatoren auf lokaler Ebene
Unter dem Stichwort "Bürgernetzwerke" können zum einen Bürgerinformationssysteme der lokalen Administration, zum anderen lokal ausgerichtete Webseiten unabhängiger Anbieter mit Informationen und Diskussionen verstanden werden. Bürgerinformationssysteme im Sinne virtueller Rathäuser befinden sich in vielen Städten derzeit im Aufbau. Erwähnenswert sind diese Ansätze im Hinblick auf das partizipatorische Potenzial aus folgendem Grund: Je bürgerfreundlicher eine Stadt mit ihren "Kunden" umgeht, je transparenter verwaltungsinterne Abläufe werden, je mehr Bürger einen einfachen, unkomplizierten und nicht an Öffnungszeiten gebundenen Kontakt zu ihrer Verwaltung herstellen und halten können, desto weniger droht die Entstehung von "Stadtverdrossenheit" und desto häufiger werden sich Bürger in ihrer Kommune engagieren - zumindest lassen erste Erfahrungen wie etwa im amerikanischen Blackburg (Virginia) dies vermuten: "Mehr als die Hälfte der Angeschlossenen gibt an, sich jetzt viel eher als früher einmischen zu wollen."
Das Stadtnetz "Publikom" in Münster hat bereits einen festen Platz in der kommunalen Öffentlichkeit.
Information und Kommunikation zwischen Abgeordneten und Verwaltung
Ende 1997 hat in Stuttgart der Regelbetrieb der Computergestützten Parlamentsarbeit (CUPARLA) begonnen: ein Informations- und Kommunikationssystem, das theoretisch für alle Bürger geöffnet werden könnte. Jedem Gemeinderat wird ein Notebook und ein ISDN-Anschluss zur Verfügung gestellt; auf einer Lotus-Notes-Oberfläche ist ein virtuelles Rathaus abgebildet. Dort gibt es für jede Fraktion einen nur für Mitglieder zugänglichen Raum, in dem etwa Mitteilungen hinterlassen oder Online-Konferenzen abgehalten werden können. Für Bürger dürfte der Bereich "Verwaltung" am interessantesten sein, wo die Stadträte Zugriff auf verschiedene Dokumente wie Vorlagen, Protokolle oder Bauanträge haben.
Selbstverständlich müsste hier zwischen öffentlichen und nichtöffentlichen Informationen unterschieden werden; da die Daten jedoch ohnehin digital vorliegen, wäre die Öffnung für alle Bürger vermutlich relativ kostengünstig. Da die Ziele - zeitliche und örtliche Flexibilität bei der Arbeit als Stadtrat, besserer Zugang zu Informationen, verbesserte Kommunikation durch E-Mail - im Wesentlichen erreicht worden sind, möchten die meisten Anwender CUPARLA nicht mehr missen.
Unabhängige Informationsdienste
Bereits seit 1994 existiert in den USA der Dienst "Vote Smart".
Die Liste der abgefragten Themen wird dabei erst nach einer repräsentativen Umfrage und nach einer quantitativen Themenkonjunkturanalyse der wichtigsten Reden im Kongress festgesetzt, wiederum mit dem Ziel, die eigene Unabhängigkeit zu demonstrieren und keiner Seite im Hinblick auf das Agenda-Setting Vorteile zu verschaffen.
In einer weiteren Datenbank finden sich ratings der Abgeordneten aus Sicht verschiedener Interessengruppen. So wird ersichtlich, welcher Kandidat welche Interessen bedient - seien es nun Umweltschutz- oder Bürgerrechtsgruppen oder aber die Waffenlobby. Auch das konkrete Abstimmungsverhalten eines jeden Abgeordneten kann nach Themen gegliedert vollständig abgefragt werden, genauso wie ein ausführlicher Lebenslauf und die Quellen der Wahlkampffinanzierung.
Als Durchbruch hinsichtlich der Nutzung des Internets gilt der US-Präsidentschaftswahlkampf von 1996 vor allem auch deshalb, weil am 7. Oktober 1996 erstmals ein politisches Großereignis im World Wide Web direkt übertragen wurde: die Debatte zwischen Dole und Clinton. Zusätzlich zur Live-Übertragung wurde mit nur dreißigminütiger Verzögerung eine Mitschrift ins Netz gestellt, des Weiteren konnten bisherige Statements der Diskutanten zu gerade besprochenen Themenbereichen eingesehen oder anhand aktueller Statistiken der Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen überprüft werden.
Auf den ersten Blick sieht dies nach einer enormen Verbesserung im Hinblick auf den Willensbildungsprozess aus: keine Streitereien um vermeintliche Fakten, kein opportunistischer Meinungswechsel, allein der Sieg des besseren Arguments. Bei näherer Betrachtung hängt auch hier vieles, wenn nicht alles, von der Glaubwürdigkeit der "richtenden Instanz" ab: Wer wählt die aktuellen Statistiken aus? Wer entscheidet, welche bisherigen Statements das gerade Gesagte kontrastieren? 3. Abstimmung und Wahl
Glaubt man einer TNS-Emnid-Umfrage im Auftrag der "Wirtschaftswoche", so stünde durch die Online-Wahl ein nahezu ideales Instrument zur Verfügung, die Bürger wieder zur intensiveren Ausübung ihres Wahlrechts zu animieren. Zwar antworteten auf die Frage: "Sind Sie dafür, dass man bei Wahlen künftig die Stimme ,online' (d. h. mittels Computer und Internet) abgeben kann, sofern die technischen Voraussetzungen bestehen?" nur 50 Prozent mit "Ja", während 46 Prozent dies ablehnen. Interessanterweise bejahten aber 43 Prozent der befragten Nichtwähler die Frage: "Würden Sie regelmäßiger wählen, wenn dies online möglich wäre?"; 13 Prozent antworteten mit "vielleicht" und 44 Prozent waren sich sicher, auch dann nicht häufiger zu wählen, wenn dies online möglich wäre.
Da bei der Diskussion über die digitale Stimmabgabe eine Vielzahl technischer und verfassungsrechtlicher Aspekte zu beachten ist, soll dieser Punkt hier nicht weiter vertieft werden.
III. Würdigung der demokratischen Potenziale des Internets
1. Gleichheit und Reziprozität im Diskurs
Bezüglich der beiden geforderten Eigenschaften Gleichheit und Reziprozität wird von optimistischer Seite angeführt, in einem virtuellen Plenum könnten die bislang nur unzureichend eingelösten normativen Attribute parlamentarischer Öffentlichkeit wie Gleichheit, Diskursivität und Reziprozität erfüllt werden. Vor dem Hintergrund des Entstehens neuer und teilweise auch verlagsunabhängiger Informationsdienste wird hier aber die Ansicht vertreten, dass die herkömmlichen Meinungsmonopole zwar nicht zerschlagen, in ihrer Filter- und gatekeeper-Funktion aber immerhin geschwächt wurden.
2. Rationalität und Sachlichkeit im Diskurs
Anders sieht es mit den beiden anderen diskursiven Merkmalen aus. Zwar betonen Internet-Optimisten, die verzögerte Schriftlichkeit in Diskussionsforen müsse zu sensiblerer, rationaler und reflektierender Kommunikation führen. Doch sind auch Berichte darüber zu finden, dass der Schleier der Unwissenheit aggressive Umgangsweisen fördere und zu einer Polarisierung der Teilnehmer und Teilnehmerinnen von Online-Diskussionen beitrage, sodass die politischen Gegensätze dort mit derselben Grobschlächtigkeit ausgetragen würden wie in der Offline-Welt. So hat Barber festgestellt, dass die "politischen Hänseleien in den Diskussionsforen des Internet ... genauso polarisiert und rüde sind, wie das, was man in den Talkshows zu hören bekommt"
Dieser Gefahr könnte entgegengewirkt werden, wenn politische Online-Foren analog zu Produktbörsen aufgebaut würden, bei denen jeder Teilnehmer mit nur einem Pseudonym registriert wird und sich durch sein Handeln in der community nach kurzer Zeit ein gewisses Ansehen erwirbt. Dazu liegen zwar noch keine empirischen Erkenntnisse vor, es kann jedoch vermutet werden, dass die Teilnehmer nach kurzer Zeit lernen, mit welchen Äußerungen sie ihre Reputation erhöhen und mit welchen sie ihr schaden.
3. Deliberation total: Die Illusion vom aktiven Bürger
Deliberation als zentraler Begriff der partizipatorischen Demokratietheorien steht auch im Mittelpunkt vieler Konzepte zur elektronischen Demokratie. Leider scheint der aktive, diskussionsfähige, also zur deliberativen Partizipation bereite Bürger weitgehend eine Illusion zu sein. So weist Leggewie zu Recht darauf hin, dass die Zahl der Bürger, die sich in einer elektronischen Demokratie einbringen würden, begrenzt sein wird, was aber in pluralistischen, nach Gruppeninteressen organisierten Demokratien weder neu noch illegitim sei.
Es steht außer Zweifel, dass die Zahl der aktiven Bürger stets gering war und seit den siebziger Jahren in fast allen westlichen Demokratien gesunken ist. Es gibt keinerlei empirisch untermauerte Hinweise darauf, dass sich diese Zahl durch den verstärkten Einsatz von computervermittelter Kommunikation erhöhen würde. Vielmehr deuten alle Erkenntnisse der empirischen Partizipationsforschung darauf hin, dass es einen Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Lage und der Bereitschaft zur politischen Partizipation gibt: je höher die individuelle Ressourcenausstattung (Einkommen, Bildungsstand), desto höher das Interesse an politischen Fragen und desto stärker auch die Überzeugung von der Wirksamkeit des eigenen Engagements.
Alle drei Faktoren zusammengenommen erzeugen der Tendenz nach ein höheres Maß politischer Partizipation
4. Zwei-Klassen-Gesellschaft als Resultat von Elitenbildung und Stratifikation
Gemessen am Anspruch einer Demokratie, für alle Bürger offen zu sein, müssten eigentlich alle Elemente einer elektronischen Demokratie abgelehnt werden. Die Vorstellung von einem universellen, globalen Netzwerk in einer Welt, in der nur ein Fünftel über ein Telefon verfügt, ist "im besten Fall lächerlich"
Bemerkenswert ist jedoch folgende Beobachtung: Die Gefahr einer durch Online-Medien derartig verbreiterten Wissenskluft zwischen Gut- und Schlechtinformierten, "dass sie zur zentralen gesellschaftlichen Cleavage des einundzwanzigsten Jahrhunderts wird"
5. Fehlendes Vertrauen als Folge des Aufbrechens "kommunikativer Knoten"
Als einen "kommunikativen Knoten" bezeichnet Buchstein die Korrespondenz von Erfahrung und Vertrautheit, welche den Menschen mit traditionellen Medien verbindet und ihm hilft, bei der Verarbeitung der auf ihn einströmenden Datenmenge zwischen Unsinn und Information zu unterscheiden.
Die Antwort aus demokratietheoretischer Sicht liegt nahe: Auch im Netz müssen Knoten etabliert werden, die mit den gleichen Merkmalen ausgestattet sind wie die traditionellen. Diese Knoten scheinen auch zu entstehen: Bereits aus dem Jahr 1999 stammt die Beobachtung, dass sich Internet-Surfer auf immer weniger Seiten konzentrieren:
Auch die erwähnten Produktbörsen sorgen durch das sich bildende "Web of Trust" dafür, dass kommunikative Knoten sowie zumindest innerhalb der community eine gewisse Art von Vertrauen entstehen. Mit der Zeit führt dieser Prozess zur Entstehung von Knotenpunkten, die dazu in der Lage sind, Glaubwürdigkeit und Seriosität auszubilden. In Konkurrenz zur Reputation durch Knoten steht die Vergabe von Domain-Namen: Reputation wird hier meist durch von außerhalb des Netzes bekannte Instanzen geliefert, die auf diese Weise Bedeutungen und Verdichtungen in das Netz hineintragen. Diese Erkenntnis gilt für die meisten traditionellen Medienangebote, die auch im Netz eine relevante Stellung einnehmen. Ihnen wird ein größeres Vertrauen entgegengebracht als neuen, noch unbekannten und damit nicht mit einer Netzreputation ausgestatteten Anbietern.
6. Segmentierte Teilöffentlichkeiten, die untereinander nicht mehr kommunikationsfähig sind
Teilöffentlichkeiten entstehen, wenn sich in bestimmten Bereichen ausschließlich Mitglieder einer bestimmten Gruppe aufhalten und in einem nur ihnen verständlichen Code kommunizieren. Unter bestimmten Bedingungen - wenn die Mitglieder einzelner Teilöffentlichkeiten sehr stark in diesen verwurzelt sind und es zudem kaum Überschneidungen zwischen den Bereichen gibt - ist es möglich, dass die Mitglieder verschiedener Partikularöffentlichkeiten nicht oder kaum mehr kommunikationsfähig sind. "Je mehr aber das, was ein Sprecher mit seiner Äußerung meint, von einem implizit bleibenden Hintergrundwissen abhängig gemacht wird, umso weiter kann sich die kontextspezifische Bedeutung der Äußerung von der wörtlichen Bedeutung des Gesagten unterscheiden."
Bereich kann dabei viel bedeuten. Es können reale Grenzen gemeint sein wie etwa Stadtviertel, bestimmte Läden und Lokale, oder aber medial bestimmte: Bis zur Einführung des Privatfernsehens wurden viele Sendungen landesweit gesehen und waren anderntags identitäts- und öffentlichkeitsbildender Gesprächsstoff. Mittlerweile gilt das allenfalls noch für das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft. Indem sich das Publikum in immer kleinere Zielgruppen differenziert, nimmt die Gefahr der Segmentierung zu. Einst gemeinsam für relevant gehaltene Themen und Wissenstatbestände nehmen ab, auch der Grundbestand an geteilten Werten und Orientierungen droht zu schrumpfen.
Die Entstehung von Teilöffentlichkeiten ist also kein Phänomen des Internets, allerdings wird sie durch das weltweite Computernetz begünstigt. Gerade die als Folge der Digitalisierung und Vernetzung abermals beschleunigte Medienentwicklung habe eine Vervielfachung und Ausdifferenzierung der Medienangebote und eine damit einhergehende Zielgruppenorientierung bewirkt, so eine These, wodurch es zur Fragmentierung des Publikums, zur Auflösung von Öffentlichkeit und zu gesellschaftlicher Desintegration komme.
In Zukunft laute die Frage der Rezipienten nicht mehr: Was steht in der Zeitung? Oder: Was kommt im Fernsehen? Sondern: Was will ich wissen? Was will ich sehen? Kleinsteuber/Thomass erwarten sogar einen doppelten Segmentierungsprozess: Neben der Verringerung des Zeitbudgets, welches der Rezipient für ein einzelnes Medium aufwendet und wodurch der "mosaikartige Charakter der Wahrnehmung von Politik" noch zunehmen werde, gebe es berechtigten Anlass zu der Annahme, dass die tatsächliche Nutzung von Politik vermittelnden Angeboten nachlässt, weil "politische Informationen im Meere globaler Unterhaltungsangebote nur noch einzelne Inseln darstellen, die zu umschiffen für den einzelnen Nutzer leicht möglich und wahrscheinlich ist".
Diese pessimistische Einstellung wird hier aus mehreren Gründen nicht geteilt. Erstens ist es möglich, sich während der Woche etwa die knapp gehaltene "Meine Allgemeine" und am Wochenende die ausführlichere "Meine ZEIT" zusammenstellen zu lassen. Auch lässt sich aus mancher Klage über die Fragmentierung des Publikums die implizite Prämisse herauslesen, gesellschaftliche Integration bestehe in hundertprozentigen Reichweiten für die "tagesschau". Zweitens ist nicht das Internet Ursache für die Entstehung von Teilöffentlichkeiten, sondern die verschiedenen Präferenzen der Bürger. Das Internet führt zudem zur Entstehung von neuen Öffentlichkeiten, die zwar auch Teilöffentlichkeiten sind und stark von den gemeinsamen Interessen der Teilnehmer abhängen, aber möglicherweise einen neuen weltumspannenden Öffentlichkeitsraum konstituieren.
Empirische Erkenntnisse, dass gerade das Internet zu einem abnehmenden kollektiven Identitätsgefühl führt und negative Auswirkungen auf die gesellschaftliche Konsensbildung hat, gibt es jedenfalls nicht. Weiterhin folgt allein aus der Tatsache, dass verschiedene Bevölkerungsgruppen bei ihrer Mediennutzung zunehmend unterschiedliche Akzente setzen, nicht zwangsläufig, dass sie als kommunikativ voneinander getrennte Teile der Bevölkerung angesehen werden können. Bei der Analyse auf der Empfängerseite wird deutlich, dass die Rezipienten "nicht Mitglieder des Publikums eines bestimmten Angebots und entsprechend, falls sie unterschiedliche Angebote nutzen, voneinander getrennt (sind), sondern die genutzten Angebote sind nur eine Facette der jeweiligen medialen Umgebung der Nutzer und deren alltagskultureller Milieus"
Als normative Forderung bleibt indes ergänzend anzumerken, dass bei aller Individualisierung und Differenzierung eine gemeinsam geteilte Basis nicht verloren gehen darf. Wenn die entscheidende Frage in Zukunft wirklich lautet: "Was will ich wissen?", dann muss hinzugefügt werden: "Was sollte ich wissen?" Eine gewisse Allgemeinbildung darf von jedem Bürger zumindest erwartet werden. Wenn es nun wirklich dazu kommen sollte, dass eine hinreichend große Anzahl an Bürgern sich in ihrem kommunikativen Handeln ausschließlich auf eine sehr eng abgegrenzte Teilöffentlichkeit bezieht, dann müsste in der Tat von segmentierten und untereinander nicht mehr kommunikationsfähigen Partikularöffentlichkeiten gesprochen werden. Dies könnte zum einen jedoch auch in einer internetfreien Welt geschehen, zum anderen gibt es aufgrund relativ seriöser Nachrichten auch im privaten Fernsehen sowie der unverändert hohen Zugriffszahlen auf die Internet-Angebote der klassischen Massenmedien auch empirisch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Gesellschaft in kommunikationsunfähige Fragmente zerbricht.
Das Fazit fällt nüchtern aus: Weder übertriebene Befürchtungen noch euphorische Begeisterung sind angebracht, wenn es darum geht, die Chancen des Internets für die Demokratie zu diskutieren - beides geht an der Realität vorbei. Nur weil jetzt auch online diskutiert werden kann, werden sich nicht plötzlich alle Bürger an der Debatte beteiligen. Ebenso wenig wird Vertrauen verloren gehen, ohne dass sich durch die Etablierung kommunikativer Knoten Neues bildet. Töricht wäre es, das noch junge Pflänzchen "elektronische Demokratie" mit zu viel partizipatorischem Eifer und Ungeduld zu gießen. Die Erwartungen wären zu hoch, die Frustration entsprechend groß - es würde eingehen.