Einleitung
Die PISA-Studie hat die deutsche Bildungsnation auf die hinteren Ränge verwiesen und das Selbstbild unseres Bildungssystems erschüttert. In der seitdem entbrannten Debatte werden Auswege aus der Bildungskrise gesucht und die Reformbedürftigkeit unseres Schulsystems unter die Lupe genommen. Die PISA-Studie und die PISA-Ergänzungsstudie (PISA-E) liefern für die Bildungspolitik wie für die Schulpraxis wichtige Grundlagen und Impulse für Veränderungen und Innovationen, die - gemessen am internationalen Leistungsstandard - alle deutschen Bundesländer nötig haben.
Die beiden Studien enthalten neben den Ländervergleichen zur Lesekompetenz, der mathematischen und naturwissenschaftlichen Grundbildung sowie dem Gymnasialvergleich zusätzliche Informationen zum Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schulerfolg, sozialen Disparitäten hinsichtlich der Bildungsbeteiligung, der Stellung von Schülern aus Migrantenfamilien sowie zu den institutionellen Bedingungen des schulischen Lernens.
Die Abstände zwischen den einzelnen Ländern in Deutschland erweisen sich zwischen dem stärksten und dem schwächsten Land als erheblich. Zwar gelingt es Bayern, in der Lesekompetenz über den OECD-Durchschnitt hinauszukommen, aber selbst Bayern kann sich nicht mit der Spitzengruppe der anderen Staaten messen. Also ist das in diesem Bereich beste Bundesland nur erster in der "zweiten Liga"
Wegen des mangelhaften Gesamtergebnisses der deutschen Bildungsnation muss die Frage beantwortet werden, "warum ein Land mit der wirtschaftlichen und politischen Bedeutung und der kulturellen Tradition Deutschlands nicht in der internationalen Spitzengruppe mithält"
I. Die PISA-Studie
1. Ziele von PISA
PISA (Programme for International Student Assessment) verfolgt das Ziel, den Regierungen der teilnehmenden Staaten regelmäßig Indikatoren zur Verfügung zu stellen, die für politisch-administrative Entscheidungen zur Verbesserung der nationalen Bildungssysteme brauchbar sind. Dabei ist der Begriff der politisch-administrativen Entscheidung weit gefasst. Er bezieht alle Ebenen des Bildungssystems ein, auch die Entwicklung der Einzelschule sowie alle Unterstützungssysteme von der Lehrerausbildung bis zur Schulberatung.
2. Was versteht PISA unter Lesekompetenz?
Unter Lesekompetenz versteht PISA die Fähigkeit, geschriebene Texte unterschiedlicher Art in ihren Aussagen, ihren Absichten und ihrer formalen Struktur zu verstehen und in einen größeren Zusammenhang einzuordnen sowie in der Lage zu sein, Texte für verschiedene Zwecke sachgerecht zu nutzen. Nach diesem Verständnis ist Lesekompetenz nicht nur ein wichtiges Hilfsmittel für das Erreichen persönlicher Ziele, sondern eine Bedingung für die Weiterentwicklung des eigenen Wissens und der eigenen Fähigkeiten - also jeder Art selbstständigen Lernens - und eine Voraussetzung für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Jugendliche und Erwachsene begegnen in ihrem privaten oder beruflichen Alltag und im öffentlichen Leben verschiedensten Arten von Texten. In PISA wurde deshalb eine große Bandbreite an Textsorten verwendet, wie zum Beispiel literarische Texte, Argumentationen, Kommentare, Tabellen und Grafiken.
3. Kompetenzstufen
In der PISA-Studie werden fünf Stufen der Lesekompetenz unterschieden. Diese beschreiben die Fähigkeit, Aufgaben unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade lösen zu können. Der Schwierigkeitsgrad einer Aufgabe hängt unter anderem von der Komplexität des Textes ab, der Vertrautheit der Schülerinnen und Schüler mit dem Thema, der Deutlichkeit von Hinweisen auf die relevanten Informationen sowie der Anzahl und der Auffälligkeit von Elementen, die von den relevanten Informationen ablenken könnten.
Kompetenzstufe I - oberflächliches Verständnis einfacher Texte: Schülerinnen und Schüler, die über Kompetenzstufe I nicht hinauskommen, können mit einfachen Texten umgehen, die ihnen in Inhalt und Form vertraut sind. Die zur Bewältigung der Leseaufgabe notwendige Information im Text muss deutlich erkennbar sein, und der Text darf nur wenige konkurrierende Elemente enthalten, die von der relevanten Information ablenken könnten. Es können nur offensichtliche Verbindungen zwischen dem Gelesenen und allgemein bekanntem Alltagswissen hergestellt werden. Kompetenzstufe I bezeichnet lediglich elementare Lesefähigkeiten. Die Leistungen dieser Schülerinnen und Schüler im PISA-Test legen nahe, dass sie beim Übergang ins Berufsleben Probleme haben werden.
Kompetenzstufe II - Herstellen einfacher Verknüpfungen: Schülerinnen und Schüler, die Kompetenzstufe II erreichen, sind in der Lage, einfache Verknüpfungen zwischen verschiedenen Teilen eines Textes herzustellen und mit einer begrenzten Anzahl von konkurrierenden Informationen umzugehen. Die gelesenen Informationen können mit dem Alltagswissen in Beziehung gesetzt und unter Bezugnahme auf persönliche Erfahrungen und Einstellungen beurteilt werden.
Kompetenzstufe III - Integration von Textelementen und Schlussfolgerungen: Schülerinnen und Schüler, deren Leistungen der Kompetenzstufe III entsprechen, sind in der Lage, verschiedene Teile eines Textes inhaltlich zu integrieren, auch wenn die einzubeziehende Information wenig offensichtlich ist, mehrere Kriterien zu erfüllen hat und ihre Bedeutung teilweise indirekt erschlossen werden muss. Sie können mit relativ auffälligen konkurrierenden Informationen umgehen.
Kompetenzstufe IV - detailliertes Verständnis komplexer Texte: Schülerinnen und Schüler dieser Kompetenzstufe IV können mit Texten umgehen, die ihnen im Hinblick auf Inhalt und Form relativ unvertraut sind. Sie sind in der Lage, Informationen zu nutzen und sie den Anforderungen der Aufgabe entsprechend zu organisieren. Sie erreichen ein genaues Verständnis komplexer, relativ langer Texte und beurteilen diese unter Rückgriff auf externes Wissen.
Kompetenzstufe V - flexible Nutzung unvertrauter, komplexer Texte: Bei Schülerinnen und Schülern, die sich auf dieser Kompetenzstufe befinden, handelt es sich um Expertenleser, die auch komplexe, unvertraute und lange Texte für verschiedene Zwecke flexibel nutzen können. Sie sind in der Lage, solche Texte vollständig und detailliert zu verstehen. Die Bedeutung sprachlicher Nuancen wird angemessen interpretiert. Sie sind in der Lage, das Gelesene in ihr Vorwissen aus verschiedenen Bereichen einzubetten und den Text auf dieser Grundlage kritisch zu bewerten.
Wenn man die Pisa-Aufgabenstellungen genauer betrachtet, wird deutlich, dass weniger auf Vorrats- und Faktenwissen, sondern stärker auf selektives Lesen, kombinatorisches Denken und das Anwenden von Wissen Wert gelegt wurde. Das Problem ist, dass diese Leistungen in unseren Schulen traditionell viel zu wenig gefordert und gefördert werden. Deshalb kommen die schlechten Ergebnisse nicht gänzlich unerwartet.
4. Resümee der Ergebnisse
- Hinsichtlich der Lesekompetenz wird Deutschland auf Rangplatz 21 verwiesen. "Es wird deutlich, dass die Leistungen in den meisten Ländern der Bundesrepublik unter dem OECD-Durchschnitt liegen."
- Bis auf Bayern befindet sich kein weiteres Land der Bundesrepublik im oberen Drittel der internationalen Rangreihe. Nur die Leistungen der 15-Jährigen in Baden-Württemberg und Sachsen entsprechen dem durchschnittlichen Leistungsniveau der Schüler aus den OECD-Staaten.
- In kaum einem PISA-Teilnehmerstaat bestehen so große Leistungsunterschiede zwischen den besten und den schwächsten Lesern wie in den Ländern der Bundesrepublik. In Finnland, Japan und Kanada findet sich ein hohes Niveau der Lesekompetenz und eine leistungsmäßig homogene Schülerschaft.
- Risikoschüler: Der Anteil an Risikoschülern (auf und unter Kompetenzstufe I) ist in allen Ländern der Bundesrepublik hoch, auch im Vergleich zum OECD-Durchschnitt.
- Freiwilliges Lesen: Im internationalen Vergleich ist der Bundesdurchschnitt von 42 Prozent der deutschen Schülerinnen und Schüler, die angeben, nicht zum Vergnügen zu lesen, hoch. Damit ist das "Land der Dichter und Denker" trauriger Spitzenreiter. Schüler, die nicht aus eigener Motivation heraus lesen, haben gegenüber ihren lesenden Mitschülern einen Nachteil beim Kompetenzerwerb.
- Auswirkungen der sozialen Herkunft: Der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Kompetenzerwerb ist in Deutschland besonders ausgeprägt: In keinem der 32 PISA-Länder sind die Unterschiede in der Lesekompetenz zwischen Jugendlichen aus höheren und niedrigeren Sozialschichten (Kinder aus bildungsfernen Familien bzw. mit Migrationshintergrund) so groß wie in Deutschland. "Anderen Staaten gelingt es wesentlich besser - trotz ähnlicher Sozialstruktur der Bevölkerung -, die Auswirkungen der sozialen Herkunft zu begrenzen und ein insgesamt höheres Kompetenzniveau zu erzielen."
- Mangelnde erfolgreiche Eingliederung: In allen Bundesländern mit höherem Ausländeranteil - das sind durchgehend die alten Bundesländer - fallen die Leistungen der ausländischen Schülerinnen und Schüler, besonders hinsichtlich der Lesekompetenz, aber auch in der Mathematik und der naturwissenschaftlichen Grundbildung, deutlich ab.
- Bildungsbeteiligung von Jugendlichen aus Migrationsfamilien: Ein zusätzliches Problem stellt die Bildungsbeteiligung von Jugendlichen aus Migrationsfamilien dar. Obwohl mehr als 70 Prozent der Schülerinnen und Schüler, deren Eltern nicht in Deutschland geboren wurden, bereits vom Kindergarten an Bildungseinrichtungen in Deutschland besucht haben, zeigt sich, dass deren Verteilung auf die Schularten deutlich schlechter ausfällt als bei ihren Mitschülern, deren Eltern in Deutschland geboren wurden. Ein hoher Urbanitätsgrad führt in strukturschwachen Gebieten notwendigerweise zu einer Akkumulation sozialer Probleme, sodass diese Schule mit ihren begrenzten Möglichkeiten sozialer Integration und individueller Förderung großen Belastungen ausgesetzt oder teilweise sogar überfordert ist. Die betreffenden Schulen in sozialen Brennpunkten sollten deshalb eine bessere Lehrerversorgung haben, damit notwendige Förderprogramme auch umgesetzt werden können.
- Mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenz: Im internationalen Vergleich sind auch die mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenz deutscher Schülerinnen und Schüler unterdurchschnittlich. Knapp 25 % der 15-Jährigen müssen laut PISA-Bericht zur Risikogruppe derjenigen gerechnet werden, deren Mathematikkenntnisse nur bedingt für eine erfolgreiche Berufsausbildung genügen. Dabei zeigt sich die Lesekompetenz auch als Basis mathematischer Kompetenz.
- Förderung mangelhaft: Innerhalb Deutschlands gibt es aber auch in Ländern mit unterdurchschnittlichem Niveau relativ große Gruppen leistungsstarker Schülerinnen und Schüler. Das PISA-Konsortium folgert daraus, dass es in Deutschland nicht wie in anderen Ländern gelingt, schwache Schüler und ebenso besonders begabte Schüler ausreichend zu fördern.
- Ungleiche Bildungschancen: Die PISA-E-Studie zeigt, dass die wesentlichen Zielsetzungen eines demokratischen Schulsystems von keinem Bundesland angemessen erreicht werden, nämlich allen Heranwachsenden gleich gute Bildungschancen zu geben, sie individuell optimal zu fördern und gleichzeitig soziale, ethnische und kulturelle Disparitäten der Bildungsbeteiligung und des Bildungserfolgs auszugleichen. Die soziale Herkunft entscheidet im hohen Maße über den Bildungserfolg der Schülerinnen und Schüler. Hier liegt eine zentrale bildungspolitische Herausforderung.
- Tendenz zur "Homogenisierung": Deutschlands Schulen haben offensichtlich grundsätzliche Schwierigkeiten damit, heterogene Gruppen von Schülern angemessen zu fördern und zu fordern. Dies belegen die hohen Zahlen der Rückstellungen, Wiederholer und - international einmalig - Absteiger aus weiterführenden Schularten in andere Schulformen. Einige Bundesländer müssen hier erheblich bessere Lösungen finden. Jedes Schulsystem bemüht sich um die Balance zwischen dem, was Kinder mitbringen, und dem, was Schule zu erreichen vermag. "Aber keines ist so zwanghaft auf den einen Pol fixiert wie das deutsche: das, was man hierzulande ,Eignung' nennt und angeblich schon früh festgestellt werden kann. Soll in diesem Land die Qualität von Schule verbessert werden, wird nicht die Schule verbessert, sondern werden Versetzungsbestimmungen verschärft oder Querversetzungen erleichtert, damit endlich nur noch die ,richtigen Kinder auf der ,richtigen Schule oder in der ,richtigen Klasse sind . . . In den Ländern, von denen wir etwas lernen können, bestimmen die Schulen eine andere Logik: Sie konfrontieren sich zuerst mit der Frage, was sie selber besser machen können."
5. PISA- und Shell-Jugendstudie: ein Vergleich
In diesem Zusammenhang ist ein Blick auf die neue Shell-Jugendstudie aufschlussreich. Ein Fazit der 14. Shell-Jugendstudie lautet: Der Wille zur Leistung ersetzt das frühere "Null-Bock"-Gefühl. Sich "in die Politik einmischen" ist hingegen "out", was allerdings nicht heißt, dass die Jugendlichen nicht gesellschaftlich aktiv sind. Die Jugendlichen orientieren sich an konkreten, praktischen Problemen, die für sie mit persönlichen Chancen verbunden sind, und zeigen wieder in erhöhtem Maße persönliche Leistungsbereitschaft ("Aufsteigen statt Aussteigen").
Von zentraler Bedeutung für Lebensumstände, die aktuellen Ansichten sowie die späteren gesellschaftlichen Chancen ist das Bildungsniveau. Etwa die Hälfte der Schülerinnen und Schüler strebt heute das Abitur oder eine fachgebundene Hochschulreife an. Auffällig ist, dass inzwischen mehr Mädchen als Jungen eine höhere Bildung erreichen wollen. Die Mädchen haben zumindest im Bereich der Schulbildung die Jungen inzwischen sogar überholt. Deutlich benachteiligt sind hingegen Jugendliche, die ein geringeres Bildungsniveau aufweisen. Sie haben schlechtere Chancen, ihre beruflichen Wünsche einzulösen, und sie sind auch mit ihrer gegenwärtigen Lebenssituation weniger zufrieden.
Die Shell-Jugendstudie zeigt, dass das Bildungsniveau in Deutschland nach wie vor in hohem Maße "vererbt" wird.
II. Folgerungen für die Schul- und Bildungspolitik
Zentrales Anliegen der Schule ist, eine allgemeine Kultur der Anstrengung und Wertschätzung des Lernens fest zu verankern, die Unterrichtsqualität zu sichern und weiterzuentwickeln. Die PISA-Studie zeigt, dass im internationalen Wettbewerb Kreativität, Handlungsorientierung und problemlösender Anwendungsbezug gefordert sind - die Fähigkeit nämlich, gelerntes Wissen auch anwenden zu können. Das können nur selbstständige Schülerinnen und Schüler. Die Paukschule ist passé.
1. Eckpunkte einer Bildungsreform
Für alle Bundesländer liegt die Herausforderung darin, den durch PISA-E initiierten föderalen Wettbewerb produktiv für die Weiterentwicklung des Schulsystems zu nutzen. Die bereits bestehenden Ansätze sollten meines Erachtens verstärkt werden, insbesondere:
- Der Ausbau schulischer Ganztagsangebote, die zusätzliche Möglichkeiten zu einer intensiveren Förderung und Forderung der Schülerinnen und Schüler bieten. Ganztagsangebote sind insbesondere für die Kinder wichtig, bei denen häusliche Defizite in der Schule kompensiert werden müssen. In enger Kooperation mit den externen Partnern der Schule wird das schulische Ganztagsangebot organisiert. Die Schule mit ihrem lokalen Umfeld wird zum Lern- und Lebensraum, in dem sich Schüler und Lehrer auch außerhalb des Unterrichts begegnen und sich gegenseitig als Lernende erfahren.
- Eine Verstärkung der Sprachförderung im vorschulischen Bereich und in den Grundschulen sowie die gezielte Förderung der "Risikogruppe" schwacher Schülerinnen und Schüler, insbesondere bildungsbenachteiligter Kinder von Migranten, in den weiterführenden Schulen.
- Die Stärkung schulischer Selbstständigkeit und Eigenverantwortung in pädagogischen, finanziellen und personellen Fragen. Wenn wir die Qualität unserer Schulen verbessern wollen, müssen wir ihnen mehr Freiheit geben. Die Verantwortung für die Lern- und Bildungsprozesse muss in der Schule bleiben. Schulen brauchen ein hohes Maß an pädagogischer Freiheit und Flexibilität - also weniger zentrale Regulierung. Eine Bildungsverwaltung, die alles und jedes auf Punkt und Komma zu regeln versucht, ist nicht mehr zeitgemäß. "Schulen brauchen statt dessen mehr Freiräume und mehr Entscheidungsfreiheit, damit sie schneller auf den gesellschaftlichen Wandel antworten und angemessen auf veränderte Anforderungen in ihrem Umfeld reagieren können."
- Die Einführung klar definierter, bundesweit geltender Standards und Verfahren zur geeigneten Qualitätssicherung in Form von Vergleichsarbeiten und Aufgabenpools für Beispielaufgaben. Nicht jedoch eine zentral organisierte Test-Inflation, die weder effektiveren Unterricht noch bessere Schülerleistungen bringt. Wichtig sind Qualifizierungsangebote, die den Lehrerinnen und Lehrern helfen, das eigene Methodenrepertoire weiterzuentwickeln.
- Schüler individuell fördern und fordern. Eine Bildungsreform muss zum Ziel haben, Leistung zu fördern und Chancengleichheit zu sichern. PISA zeigt: Die fehlende Lesekompetenz sowie die wenig ausgeprägte mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenz beruhen z. T. auf der mangelnden Förderung durch die Schule. Die Schul- und Bildungssysteme anderer Länder - z. B. Finnland, Schweden und Kanada - schaffen es besser, diese Kompetenzen früh zu fördern, Schwächen der Schüler zu erkennen und sie unabhängig von der Herkunft der Schüler auszugleichen. Sie schaffen es außerdem, mehr Spitzenleistung zu fördern. Daher muss die individuelle Förderung aller Kinder und Jugendlichen - der bildungsbenachteiligten, der so genannten "normal begabten" und der besonders leistungsstarken - verstärkt Ausgangspunkt und Zielsetzung eines Bildungssystems sein, das sich seiner Aufgabe stellt: die Kinder und Jugendlichen so zu erziehen und zu bilden, dass sie als aktive Bürgerinnen und Bürger in einer demokratischen Gesellschaft ihr persönliches, berufliches und das gesellschaftliche Leben verantwortungsbewusst gestalten können.
- Begabtenförderung: Die Förderung besonderer Begabungen ist neben der Breiten- und der Benachteiligtenförderung ein wichtiges Ziel der Bildungspolitik. Auch hochbegabte Kinder brauchen günstige Entwicklungsbedingungen, um ihr Begabungspotenzial voll entfalten zu können.
2. Kontextbedingungen des schulischen Lernens
Die PISA-E Studie betont zu Recht, dass auch die "zentralen Kontextbedingungen des schulischen Lernens"
Auch müssten einige langsam verlotternde Schulgebäude dringend von den Schulträgern renoviert werden, damit auch die Lernumgebung - so zeigt das Beispiel Schweden - motivierend wirken kann.
In manchen Elternhäusern sind Erziehungsunfähigkeit, Resignation und Ratlosigkeit festzustellen. Die pädagogischen und erzieherischen Anforderungen an die Schule steigen, weil Erziehungsprobleme u. a. mitverursacht werden durch
- die negativen Auswirkungen von Dauerarbeitslosigkeit der Väter und auch der Mütter auf die Familien sowie die wachsende Armut in unserer Gesellschaft;
- die immer größere Anzahl der Kinder aus gescheiterten Ehen, aus Familien von getrennt lebenden Eheleuten bzw. von Alleinerziehenden;
- den immer stärkeren und unkontrollierteren Einfluss der Medien auf Kinder und Jugendliche;
- die Defizite in der außerschulischen Sozialisation.
Diese Entwicklungen und Begleiterscheinungen verstärken die psychischen und physischen Stressfaktoren in der Schule. Gerade engagierte und hochmotivierte Lehrerinnen und Lehrer stoßen häufig an die Grenze ihrer Belastbarkeit. Hinzu kommt, dass wegen der vergleichsweise geringen Zahl der Neueinstellungen an den Schulen die Lehrkräfte immer älter werden. Seit 1996 ist das durchschnittliche Alter der Lehrer stark gestiegen - von 45,9 auf 47,3 Jahre. In Nordrhein-Westfalen sind 43,1 Prozent der Lehrer älter als 50. Schon bald droht eine Pensionierungswelle die Schulkollegien drastisch zu verkleinern. Die nachrückenden Lehramtsstudenten werden die Lücken nicht schließen können.
Die Erwartungen der Gesellschaft an die Schule - d. h. die Erfüllung des Bildungs- und Erziehungsauftrags - einerseits und die Schwierigkeiten, diesen Erwartungen gerecht zu werden, andererseits können Gefühle der Überforderung, Selbstüberlastung, Spannungen und Konflikte auslösen. Denn niemals ist der Pädagoge - gemessen an pädagogischen Idealansprüchen - gut genug. Mangelndes Ansehen des Berufsstandes in der Öffentlichkeit ("Faule Säcke") bei gleichzeitiger Schuldzuweisung an die Lehrer für alle schulischen Missstände tun ihr Übriges, die Motivation in den Lehrerkollegien zu mindern. Bei vielen Pädagogen sind zudem die Leistungsreserven erschöpft. Demotivation, innere Kündigung, Burnout und Frühpensionierungen sind teilweise die fatalen Folgen. Dennoch gibt es in vielen Kollegien viel Elan, Motivation, Engagement, gutes Teamwork und gemeinsam entwickelte Innovationen, die die Schulentwicklung unterstützen. Hier zeichnet sich die Schulleitung durch einen kommunikativen, integrativen und demokratischen Führungsstil aus. Eine "gute" Schule legt auf eine kooperative Führungsstruktur viel Wert. Personalführung ist von der Grundhaltung des Vertrauens, von Teamarbeit, nicht von Hierarchie und Weisung gekennzeichnet.
Deshalb die Forderungen an die Schul- und Bildungspolitiker: Die sächlichen, personellen und schulorganisatorischen Rahmenbedingungen müssen verbessert, die Klassenfrequenzen deutlich gesenkt, die Wochenstundenzahl der Lehrkräfte verringert werden. Aufgrund der Altersstruktur und der steigenden Schülerzahlen in bestimmten Schulformen ist es dringend notwendig, jüngere Lehrkräfte einzustellen. Denn junge Lehrerinnen und Lehrer sind ein unverzichtbares Innovationspotenzial für eine ausgewogenere Zusammensetzung der Lehrerkollegien und für die Weiterentwicklung der Schule. Auch in Zeiten enger finanzieller Ressourcen sollte nicht ausschließlich der Spargedanke, sondern gerade die Verantwortung für die Zukunft unserer Kinder die politischen Entscheidungen bestimmen. Vor allem im Primar- und Sekundarstufe-I-Bereich muss investiert werden. Dort schneidet Deutschland im OECD-Vergleich besonders schlecht ab.
3. Reform der Lehrerausbildung
Wie können Lehrerinnen und Lehrer die (Selbst-) Motivation und Leistungsbereitschaft ihrer Schüler unterstützen? Indem sie Moderatoren von Lerngruppen sind, Tutoren ihrer Schüler, professionelle Gestalter anregender und motivierender Lernumwelten sowie verantwortliche Garanten für die Erreichung vielfältiger Lern- und Bildungsziele. Erfolgreich unterrichten zu können ist aber nicht nur eine Frage des guten Willens von Lehrern, ihrer intensiven Vorbereitung und der persönlichen Anstrengungsbereitschaft. Pädagogische und fachliche Fähigkeiten müssen in der Ausbildung erworben und in der persönlichen Weiterbildung ständig verbessert werden. Voraussetzungen dafür sind
- die verstärkte pädagogisch-psychologische Qualifizierung und praxisnahe Professionalisierung der Lehrerausbildung, in der neben fachwissenschaftlichen Lerninhalten auch die für eine spätere Berufstätigkeit notwendigen pädagogischen und didaktischen Kompetenzen erworben werden;
- eine systematische Weiterbildung und persönliche Weiterqualifizierung, die in Form von schulinternen oder schulnahen Arbeitsgruppen wechselseitige kollegiale Anregungen sowie Impulse für Innovationen ermöglicht;
- eine finanzielle Grundausstattung des gesamten Bildungswesens in Deutschland, die den öffentlichen Erwartungen an die zu erreichende Qualität von Schule und Unterricht gerecht wird;
- eine Schulorganisation, die sich durch Leistungen in internationalen und nationalen Vergleichsstudien bewähren muss.
Das Lehrerbild, das bislang der Lehreraus- und -fortbildung zu Grunde liegt, bringt in erster Linie Experten für die jeweiligen Fächer hervor. Diese Lehreraus- und -fortbildung muss daher grundsätzlich neu konzipiert werden. Die fachliche Ausbildung muss entscheidend ergänzt werden um eine didaktisch-methodische und schulpraxisnahe Ausbildung. Diese muss den umfangreichen Erwerb von Schlüsselkompetenzen für Lehrer - wie u. a. erzieherische Kompetenzen, Kooperationsfähigkeit, Konfliktfähigkeit und Medienkompetenz - ebenso ins Zentrum rücken wie den Erwerb eines umfassenden Methodenrepertoires für die abwechslungsreiche und anspruchsvolle Gestaltung von Lernprozessen für Schüler unterschiedlicher Leistungsstärke. Praktische Lernphasen in den Ausbildungsschulen müssen die Ausbildung ebenso prägen wie theoretische Abschnitte, in denen Praxis reflektiert und mit Theorie verknüpft wird. Die neue (ab dem Wintersemester 2002/03 startende) "konsekutive" Lehrerausbildung an den Universitäten Bielefeld und Bochum könnte hier ein zukunftsweisendes Modell mit einem hohen Praxisanteil darstellen.
Gute Lernleistungen der Schülerinnen und Schüler werden durch professionell gestaltete Lernarrangements erreicht, die die Selbst-Motivation der Schülerinnen und Schüler fördern. Die Vermittlung von Lern- und Arbeitstechniken unterstützt die Selbsttätigkeit und Selbstverantwortung. Ein lernförderndes Schul- und Arbeitsklima, mehr Handlungsorientierung, mehr Verantwortung fördern Motivation und verbessern die Lernleistung. Das Ziel ist, bei der nächsten PISA-Studie zu den Testsiegern der Spitzengruppe zu gehören.