"Die Zivilgesellschaft ist gespalten und den Spalt zu überwinden, ist schwierig. (…) Gewalttaten, Hasskampagnen und die Verrohung der politischen Debatten haben Brücken eingerissen", heißt es in der Studie "Die gespaltene Mitte. Feindselige Zustände".
Was bedeutet das für die politische Bildung? Bedarf es spezieller Angebote für die "besorgten Bürger*innen" oder eher für die Geflüchteten und Menschen mit Migrationserfahrungen, besonders muslimischen Glaubens, um sie mit dem politischen System Deutschlands vertraut zu machen? Um eine gespaltene Mitte wieder zu "einen", scheint das Gegenteil einer zielgruppenspezifischen politischen Bildung erforderlich zu sein. (Nicht nur) für den Kontext Migration und Diversität sind vielmehr inklusive Angebote erforderlich, in denen sich Teilnehmende möglichst kontrovers gemeinsam über Politik und Gesellschaft verständigen. Hier steht die politische Bildung vor verschiedenen gesellschaftlichen Herausforderungen, von einer gespaltenen Gesellschaft und der Sehnsucht nach gesellschaftlicher Homogenität über Diskursverschiebungen bis hin zu zunehmender Menschenfeindlichkeit und Gewalt. In diesem Beitrag werde ich die vielfältigen Herausforderungen einer gespaltenen Gesellschaft für die politische Bildung vorstellen und daraus zu ziehende Konsequenzen vorschlagen, die es ermöglichen, Zugänge für alle zu schaffen.
Herausforderung I: Polarisierung in der Gesellschaft
Während sich der größere Teil der Gesellschaft für die Gleichwertigkeit aller als Basis der Demokratie und für Vielfalt, Liberalität und Weltoffenheit ausspricht, gefährdet ein sich festigender und radikalisierender Teil all dies in Form von menschenfeindlichen Einstellungen und Handlungen. Als Indikatoren für eine Spaltung der Gesellschaft können das Ausmaß und die Entwicklung von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit,
Dabei haben diese Orientierungen nicht generell zugenommen, vielmehr sind Formen der (rechtspopulistischen) Ausgrenzung subtiler und anschlussfähiger geworden, wie das Einfordern von Etabliertenvorrechten. Ausgrenzungen beziehen sich fokussierter auf einzelne Gruppen wie Geflüchtete oder Menschen (zugeschriebenen) muslimischen Glaubens, aber auch auf Sinti und Roma. Als besonders beunruhigend gelten die zunehmende Polarisierung und Gewaltbereitschaft sowie ein anhaltendes Demokratiemisstrauen bei einem Teil der Befragten: Das politische System hat an Legitimation verloren, politischen Institutionen wird deutlich weniger Vertrauen entgegengebracht, die Akzeptanz von Gewalt wie auch die eigene Gewaltbereitschaft nehmen in diesem Milieu zu.
Über 50 Prozent aus diesem autoritären und vorurteilsbeladenen Milieu teilen menschenfeindliche und rechtsextreme Meinungen, über 80 Prozent neurechte Einstellungen.
Konsequenzen I: Wissen fördern und Emotionen Nutzen
Politisches Wissen bildet. Eine aktuelle Studie zum politischen Mindset von 14-Jährigen belegt: Je mehr politisches Wissen Schüler*innen in Europa haben, umso weniger neigen sie zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, umso stärker unterstützen sie die Rechte von Migrant*innen
Rechtspopulistische Gruppierungen suggerieren, dass es sich bei ihren Problemdiagnosen und Lösungsvorschlägen um den "eigentlichen Willen des Volkes" handelt, den sie als einzige zu wissen vorgeben. Dieser stilisierte "eigentliche Wille des Volkes" wird von etlichen Emotionen getragen. Die politische Bildung hat Emotionen lange Zeit vernachlässigt und stattdessen sowohl in ihrem Menschenbild als auch in ihrem Bildungsziel auf Rationalität gesetzt – zumindest für die schulische politische Bildung. Aber gerade Emotionen wie Ängste und Sorgen haben einen zentralen Beitrag zu den jüngsten Erfolgen der Rechtspopulisten geleistet. So gaben etwa zehn Prozent derer, die sich 2016 große Sorgen um Zuwanderung machten, an, dauerhaft mit der AfD zu sympathisieren, während dies aus der Gruppe derer, die sich keine Sorgen um die Zuwanderung machten, niemand angab. Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn nach den Sorgen um die Wirtschaftslage gefragt wird.
Seitdem heißt es: Die Sorgen der Menschen müssen ernst genommen werden. Für die politische Bildung ergeben sich damit unterschiedliche Herausforderungen hinsichtlich der jeweiligen "Beschaffenheit" der Ängste.
Irrationale Ängste, das heißt Verschwörungsmythen wie die "Islamisierung des Abendlandes" oder die "Abschaffung Deutschlands", können nur mit Blick auf reale Begebenheiten (und Hoffnung auf ein gewisses Maß an Realitätssinn) demaskiert werden. Bei Ängsten vor sozialen und globalen Veränderungen wie der Digitalisierung oder der Globalisierung kann politische Bildung Adressaten nicht nur unterstützen, diese Prozesse besser zu verstehen. Sie kann auch die Handlungskompetenzen mündiger Bürger*innen fördern und ausbauen, damit diese die Prozesse mitgestalten können, indem sie zum Beispiel Forderungen wie das Einführen und Durchsetzen von globalen Sozial- oder Umweltstandards an politische Akteure stellen. Um den gesellschaftlichen Trend zum Nationalismus zu überwinden, muss politische Bildung, verstanden als global citizenship education, verstärkt über den nationalstaatlichen Tellerrand blicken. Prozesse wie Globalisierung und Digitalisierung sind nicht umkehrbar, aber autoritäre Politik suggeriert, sie aufhalten oder gar zurückdrehen zu können.
Auch realen Ängsten vor Arbeitslosigkeit, sozialem Abstieg oder Wohnungslosigkeit kann nur mit der Förderung von Handlungs- und Partizipationskompetenzen, teils schon mit Bezügen zur sozialen Arbeit und Lebenshilfe begegnet werden. Politische Bildung kann ebenfalls verdeutlichen, dass diese realen Ängste nicht durch generalisierende und irrationale Schuldzuweisungen zum Beispiel an Geflüchtete abzubauen sind. Aber: Sie kann in Bezug auf die soziale Frage in Deutschland oft nur so stark sein, wie die Angebote der politischen Akteure es ihr ermöglichen.
Jedoch sind nicht nur Ängste und Sorgen, sondern auch Freude, Überraschung und Interesse für die politische Bildung zentrale Bezugspunkte. Denn Emotionen können Indikatoren oder Warnsignale für einen bestimmten Zustand sein, als Kommunikationsmittel im Austausch mit anderen fungieren, und nicht zuletzt haben sie motivierende Funktionen.
Herausforderung II: Menschenfeindliche Fokussierung
Vor allem gegenüber Geflüchteten und Menschen (zugeschriebenen) muslimischen Glaubens haben gruppenbezogene Ressentiments zugenommen. 2016 gab im Rahmen einer Studie die Hälfte der Befragten an, sich "wie ein Fremder im eigenen Land" zu fühlen, über 40 Prozent wollen Menschen muslimischen Glaubens die Zuwanderung nach Deutschland untersagen. Und obwohl in Deutschland lediglich 5–7 Prozent der Bevölkerung muslimischen Glaubens leben, von denen nur ein Teil besonders religiös ist, glauben 40 Prozent an den Verschwörungsmythos, dass die Gesellschaft durch den Islam unterwandert werde.
Für eine von Diversität geprägte Gesellschaft sind solche Einstellungen auch insofern bedenklich, da sie häufig mit antisemitischen, homophoben, frauenfeindlichen und anderen Abwertungen einhergehen und zur Ausgrenzung all derjenigen führen kann, die nicht in ein konstruiertes homogenes Gesellschaftsbild passen. Insbesondere im Kontext von Flucht, Migration und Islam überlagern sich dabei – recht undifferenziert – die Migrations- und die Islamdebatte, und Menschen mit Migrationsbezügen werden mit Menschen muslimischen Glaubens gleichgesetzt. In diesem Duktus werden soziale und politische Probleme kulturalisiert und sammeln sich in Zuschreibungen wie kriminell, bildungsfern, segregiert bis hin zu demokratiefern und radikalisiert. Für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die sich selbst als muslimisch beschreiben und über Fluchterfahrungen und/oder Migrationsgeschichten verfügen, können solche Zuschreibungen nicht nur zu Barrieren für die Teilhabe an politischer Bildung führen, sondern generell der Teilhabe an Gesellschaft und Demokratie im Weg stehen.
Konsequenzen II: Kontakte herstellen
"Wer bestimmte Menschengruppen hasst, der ist nicht mehr zugänglich für Erklärungen und andere Sichtweisen. Er verschließt sich, lässt nichts Anderes gelten und findet seine Genugtuung nur im Ausagieren seines Hasses."
Vielfalt aber wirkt sich positiv auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt aus: So ist der Zusammenhalt und die Akzeptanz von Vielfalt dort besonders groß, wo viele Menschen mit Migrationsbezügen leben, auch wenn dies verstärkt mit dem konflikthaften Aushandeln von Interessen einhergeht. Politische Bildung ist ein zentraler Ort, um konkrete (Wert-)Konflikte in von Diversität geprägten Gruppen zum einen aufzuspüren und zum anderen auszudiskutieren und auszuhandeln. Kontroversität, auch aufgrund von Diversität, ist gewollt: So kann transparent gemacht werden, dass Konfliktlinien nicht zwingend entlang von Differenzkategorien wie Religion, Kultur, Geschlecht, Migration etc. verlaufen, sondern Wertemilieus transnational und global quer zu nationalen Gesellschaften verbreitet sind. Viele deutsche Akademiker*innen fühlen sich womöglich eher mit einer Akademikerin aus einem muslimisch geprägten Land verbunden als mit dem deutschen Nachbarn aus dem "konsumorientierten Arbeitermilieu".
Politische Bildung verfügt darüber hinaus über die Expertise, um geschlossene Islam- und Demokratievorstellungen zum Beispiel von jugendlichen Muslim*innen infrage zu stellen,
Dass das Themenfeld "Politische Bildung und Religion" eine neue und starke Bedeutung hat und viele politische Bildner*innen vor zahlreiche Fragen stellt, zeigen etliche Veranstaltungen und Fachtagungen der jüngeren Zeit. Für die politische Bildung ergeben sich damit aber auch unterschiedliche Themen als Zugänge, die für viele Teilnehmende aus verschiedenen Gründen bedeutungsvoll sind: Werte, Religion, Gesellschaft, Teilhabe, Identitäten, Diskriminierung, Migration, Flucht, internationale Konflikte wie der Syrien- und Nahostkonflikt. Der Bedarf an Antworten und Deutungen ist für junge Menschen enorm. Gerade hier können Zugänge auch über Musik, Sport, Kunst, Kultur, soziale Medien als lebensweltliche Anknüpfungspunkte geschaffen werden, zum Beispiel wenn sprachliche Hürden in der politischen Bildung mit Geflüchteten Barrieren darstellen. Schließlich steht im Mittelpunkt die Frage: wie wollen wir zusammen leben und die Gesellschaft gestalten?
Herausforderung III: Kulturessenzialismus
Die Sehnsucht nach einer homogenen Gesellschaft ist dem Soziologen Andreas Reckwitz zufolge Teil eines globalen Widerstreits zweier kultureller Orientierungen, der sich analog zur beschriebenen gesellschaftlichen Polarisierung verhält. Die eine wird von Individualisierung, Selbstentfaltung und Kosmopolitisierung getragen und geht einher mit einer Öffnung und Ausdifferenzierung der Lebensformen, Geschlechterrollen und -normen. Die andere ist geprägt von der kulturellen, kollektivistisch-identitären Schließung von Gesellschaft und Lebensformen. Nationalismus und Rechtspopulismus ebenso wie religiöser Fundamentalismus verbunden mit einer Hierarchisierung von "Kulturen" lassen sich zu diesem Trend des Kulturessenzialismus zählen.
Konsequenzen III: Für Pluralismus "fit machen"
Die Vorstellung, Deutschland sei jemals "kulturell homogen" gewesen, trifft jedoch nicht einmal auf die Bundesrepublik der 1950er Jahre zu. Die Werte(wandel-)Forschung belegt, dass Deutschland zum Beispiel durch Individualisierungs-, Emanzipations- und Globalisierungsprozesse von einem umfassenden Wertepluralismus geprägt ist – unabhängig von Migrationsprozessen.
Dies gilt zum Beispiel auch für die sogenannten Integrationskurse. Nicht Institutionenkunde macht Demokratie erfahrbar, sondern die Möglichkeiten (und auch Grenzen) sich selbst ein politisches Urteil zu bilden und sich zu beteiligen. Geflüchtete zeigen bei der Zustimmung zu demokratischen Grundwerten eine hohe Übereinstimmung mit der deutschen Bevölkerung, wie eine Umfrage des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge belegt: 96 Prozent der Geflüchteten (deutsche Bevölkerung: 95 Prozent) halten demnach die Demokratie für die beste Staatsform. Als Zuzugsgrund nach Deutschland geben 73 Prozent der Geflüchteten die Achtung der Menschenrechte an.
Herausforderung IV: Diskursverschiebung
Die Zunahme abwertender Einstellungen spaltet die Gesellschaft nicht nur mental, sondern führt zu mehr offener rassistischer Gewalt, zu Übergriffen auf Unterkünfte, zu Hass im digitalen Raum und wird in rechtspopulistischen Kreisen zunehmend als legitim erachtet.
Konsequenzen IV: Sprachsensibilität
Die politische Bildung ist hinsichtlich Sprachsensibilität und antirassistischer Arbeit gefordert. Ein wesentlicher Schritt ist es, sich der subtilen Diskursverschiebung nach rechts zu entziehen, Begriffe wie "Lügenpresse" oder "Volksverräter" nicht unkommentiert zu lassen, Pauschalisierungen aufzuzeigen und Differenzierungen entgegenzuhalten. Das gilt für Medienvertreter*innen, Politiker*innen wie Akteur*innen der schulischen und außerschulischen politischen Bildung gleichermaßen.
Zumindest für die schulische politische Bildung beziehungsweise die Schulen insgesamt war der Umgang mit der AfD im Wahlkampf eine zentrale Frage. Etliche waren von der rechtspopulistischen Rhetorik überfordert, sodass viele Aulen in der Bundesrepublik der AfD oft ungewollt ein Forum boten. Die Diskursverschiebung in der Mitte der Gesellschaft, verbunden mit der Tatsache etlicher Ingenieure, Staatsanwälte, Anwälte und Richter als AfD-Abgeordnete im Bundestag, erfordert von politischen Bildner*innen an Schulen und anderen Institutionen nicht nur sprachlich Haltung zu zeigen, sondern auch, sich auf inhaltlicher Ebene mit den geäußerten Positionen auseinanderzusetzen und ihre rassistischen und diskriminierenden Elemente zu demaskieren.
Fazit: Licht und Schatten
Die Mehrheit erkennt nach wie vor und explizit demokratische Grundwerte als Grundlage für das Zusammenleben aller an. Die Hälfte der Befragten findet es gut, dass Deutschland viele Geflüchtete aufgenommen hat, und eine absolute Mehrheit von 85 Prozent hält am Asylrecht für Menschen, die vor Krieg flüchten, fest.
Das ist für die politische Bildung ein Lichtblick und zentraler Ansatzpunkt. Die dargestellten Herausforderungen legen nahe, dass nicht unbedingt "besondere Zielgruppen" wie besorgte Bürger*innen, neu nach Deutschland kommende Menschen oder "neue Deutsche" im Fokus der politischen Bildung und von "Förderprogrammen" stehen sollten. Vielmehr muss die gesellschaftliche Mitte für Demokratie, Weltoffenheit und Gleichwertigkeit "fit gemacht" beziehungsweise in ihren Orientierungen unterstützt werden. Die Autoren der Studie zum politischen Mindset von 14-Jährigen zum Beispiel können in dieser Gruppe keinen vergleichbaren Trend zu autoritären Einstellungen erkennen.
Obwohl politische Bildung im Kontext der diskutierten Polarisierung in der Gesellschaft von allen Akteuren als zentral eingeschätzt wird, entsprechen ihre institutionellen Strukturen dieser Aufgabe im schulischen und im außerschulischen Bereich nur bedingt. Bis auf wenige Ausnahmen kommt dem Fach Politische Bildung im Bundesländervergleich bei weitem nicht die bildungspolitische Wertschätzung zu, wie es Beteuerungen politischer Akteure suggerieren. Dabei liegt hier die Chance, fast alle zukünftig in Deutschland lebenden Menschen und Bürgerinnen und Bürger zu erreichen. Die vom Fachverband für politische Bildung, der Deutschen Vereinigung für politische Bildung (DVPB), mindestens geforderten zwei Stunden pro Woche sind nur in wenigen Bundesländern umgesetzt.
Dem gesellschaftlichen Phänomen von zunehmender politischer Ungleichheit entlang sozialer Ungleichheit kann von der schulischen politischen Bildung kaum begegnet werden, wenn im Schnitt an den nichtgymnasialen Schulformen weniger politische Bildung angeboten wird als am Gymnasium. Gerade hier kann (politische) Bildungsbenachteiligung institutionell ausgeglichen werden: "Wir dürfen nicht zulassen, dass sich ganze Stadtteile von der politischen Teilhabe abkoppeln. Wenn Politik am Küchentisch kein Thema mehr ist, muss politische Sozialisation mehr als zuvor in der Schule stattfinden."
Die außerschulische politische Bildung ist thematisch und methodisch häufig versierter aufgestellt, wovon die schulische politische Bildung in Kooperationen stark profitieren kann. Sie kämpft aber neben finanziellen Herausforderungen ebenfalls dauerhaft um nachhaltige Strukturen. Selbst Bundesprogramme wie "Demokratie leben" sind diesbezüglich Fluch und Segen. Das Programm setzt mit Modellprojekten ziemlich genau an Phänomenen der gespaltenen Gesellschaft an: gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, Demokratiestärkung im ländlichen Raum, Radikalisierungsprävention, Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft, Stärkung des Engagements gegen Hass im Netz.