Herr Frei, Herr Schanetzky, wie gut ist die Nachkriegsgeschichte der politischen Bildung in Deutschland erforscht?
Norbert Frei – In einem engeren institutionengeschichtlichen Sinne liegt einiges vor, für die Bundeszentrale für politische Bildung ist dabei in erster Linie die Arbeit von Gudrun Hentges zu nennen. Aber wir wissen immer noch verhältnismäßig wenig über die Motivationen der Akteure im Feld der politischen Bildung, kaum etwas über ihre praktische Arbeit und fast gar nichts über die Wirkung und Bedeutung dieser Initiativen – wobei Letzteres methodisch allerdings auch nur schwer in den Griff zu kriegen ist.
Ihr Forschungsprojekt trägt den Titel "Politische Bildung. Ideen und Praktiken der Demokratisierung nach 1945". Warum haben Sie sich dazu entschieden, den Titel breiter zu formulieren und nicht nur auf die Bundeszentrale für Heimatdienst und die spätere Bundeszentrale für politische Bildung zuzuschneiden?
Norbert Frei – Wir wollen tatsächlich weg von einer isolierten Betrachtung der Institutionen der politischen Bildung, wir wollen das Thema in den gesellschafts- und ideengeschichtlichen Zusammenhang stellen, in den es aus unserer Sicht gehört: also in die Geschichte der Demokratiebegründung in der jungen Bundesrepublik. Da sind, so glauben wir, noch manche Entdeckungen zu machen und Zusammenhänge herzustellen, die bisher nur wenig beachtet wurden – etwa im Sinne einer Erfahrungsverarbeitung der Geschichte der Weimarer Republik, die doch von einer ganzen Reihe von Persönlichkeiten aus Politik, Medien und Kultur vorangetrieben wurde, aber auch hinsichtlich der materiellen und ideellen Unterstützung durch die westlichen Alliierten.
Tim Schanetzky – Und wir wollen neben der Institutionenforschung die konkrete Praxis der politischen Bildung und auch ihre Inhalte nicht zu kurz kommen lassen. Deshalb schauen wir uns zwei regionale Kontexte genauer an. In West-Berlin gab es eine besondere Konstellation schon durch die symbolische Bedeutung der Stadt im Kalten Krieg und durch den ganz alltäglichen Umgang mit der Systemalternative. Und in Baden-Württemberg verwiesen die Akteure immer wieder auf die liberale Demokratietradition. Wir glauben, dass wir das Thema nur so in seiner ganzen Breite fassen können. Um nur ein Beispiel zu nennen: In Baden-Württemberg war politische Bildung nicht nur das, was in Stuttgart erdacht oder von Politikwissenschaftlern wie Theodor Eschenburg in Tübingen oder Arnold Bergstraesser in Freiburg dafür erklärt wurde. Sondern dazu gehörte auch das Engagement von Praktikern wie dem Grafikdesigner Otl Aicher und seiner Frau Inge Aicher-Scholl. Deren intellektuelle Suchbewegungen führten in Ulm zunächst zur Gründung einer Volkshochschule und dann zum Versuch, das Bauhaus – angepasst an neue Bedingungen – wiederaufleben zu lassen.
Wie genau sieht Ihr Forschungsprojekt aus?
Tim Schanetzky – Wir haben uns im vorigen Jahr mit einem Konzeptpapier auf eine Ausschreibung der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien beworben. Das Projekt wird von dort aus bis Ende 2020 gefördert, und es umfasst drei Einzelstudien. Diese schauen aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf die Zeit von 1945 bis Mitte der 1970er Jahre. Wir untersuchen die Geschichte der Bundeszentrale, fragen daneben aber auch, welche Bedeutung die politische Bildung für wissenschaftliche Disziplinen wie die Politikwissenschaft und die entstehende Zeitgeschichtsschreibung hatte. Im Mittelpunkt des Projekts steht damit ausdrücklich jener Bereich der politischen Bildung, der Erwachsene ansprechen will. Das schließt wichtige Aspekte aus, etwa den Schulunterricht, die Lehrplangestaltung und die entsprechende politische Koordinierung in der Kultusministerkonferenz. Letzteres wird aber ein Arbeitsschwerpunkt von Till Kössler und Phillip Wagner an der Universität Halle-Wittenberg sein – wir sind also nicht die einzigen Zeithistoriker, denen entsprechende Forschungslücken aufgefallen sind.
Welche Ergebnisse erwarten Sie und wo könnten Überraschungen liegen?
Norbert Frei – In vielen Forschungsprojekten zur NS-Vergangenheit von Ministerien, Behörden und Parlamenten ist konstatiert worden, dass es doch nach wie vor erklärungsbedürftig sei, wie es der jungen Bundesrepublik ungeachtet aller personellen Kontinuität so rasch gelingen konnte, stabile demokratische Verhältnisse zu etablieren. Wir gehen davon aus, dass politische Bildung ein Bereich ist, in dem diese komplizierten Aushandlungs- und Umdeutungsprozesse nicht nur greifbar werden, sondern dass hier die Akteure noch am ehesten gezwungen gewesen sind, darüber zu reflektieren, was Demokratie ist und wie eine demokratische Ordnung gelingen kann. Das unterscheidet die Erforschung der politischen Bildung von der sogenannten Behördenforschung, weil im Alltagsgeschäft von Spitzenbeamten nur höchst selten überhaupt Gelegenheit für solche Reflexionen war. Wenn es uns gelingen sollte, diesen intellektuellen Selbstfindungsprozess zu rekonstruieren und gleichzeitig deutlich zu machen, mit welchen Praktiken er verknüpft war, wie er in internationale Strömungen eingebettet war – dann wäre schon viel gewonnen.
Tim Schanetzky – Besonders interessiert uns ja auch die Umbruchszeit der 1960er und 1970er Jahre. Hier kommt vieles zusammen: Über die Geschichte der Institutionen in dieser Zeit ist bis dato noch gar nicht geforscht worden. Daneben sind viele Deutungen im Umlauf, die vor allem eine große Geschichte von Emanzipation, Professionalisierung und innerer Demokratisierung erzählen. Dafür spricht sicher sehr viel. Aber es handelt sich eben auch um eine Erzählung, die maßgeblich von den damaligen Akteuren mitgeprägt worden ist. Nach aller Erfahrung kann quellengestützte Forschung in einem solchen Zusammenhang zu produktiven Überraschungen führen.
Endzeitpunkt Ihres Forschungszeitraums ist der "Beutelsbacher Konsens" im Jahr 1976. War dies der Moment, in dem sich die politische Bildung in der BRD konsolidiert hat und der Streit über die inhaltliche und methodische Ausrichtung beigelegt oder zumindest eingehegt wurde?
Tim Schanetzky – Für uns ist dies zunächst einmal ein ganz pragmatisch gesetzter Endpunkt für unseren Untersuchungszeitraum, weil sich die Akteure damals auf professionelle Mindeststandards der politischen Bildung verständigt haben, die bis heute anerkannt sind. Das bedeutet aber nicht, dass danach nicht weiter um Inhalte und Bedeutung der politischen Bildung gerungen worden wäre: Es bleibt ja bis in die Gegenwart bei einem instrumentellen Verhältnis der Politik zur politischen Bildung – im Alltagsgeschäft ist die Bildungsarbeit offenbar nichts, mit dem sich politisches Renommee ernten ließe, aber in Krisenzeiten steht sie plötzlich ganz im Zentrum der Aufmerksamkeit. Das war 1959/1960 so, als die sogenannte "Schmierwelle" die internationale Öffentlichkeit auf den westdeutschen Antisemitismus aufmerksam machte …
Norbert Frei – … und es ist noch heute so, wenn man die hektischen Reaktionen auf zweistellige AfD-Wahlergebnisse und Pegida-Demonstrationen, etwa in Sachsen, betrachtet.
Die Gründung der bpb erfolgte ja nicht aus dem Nichts, sie wurde angekündigt als Nachfolger der Reichszentrale für Heimatdienst. Welche Rolle spielt in Ihrem Forschungsprojekt die Zeit vor 1945?
Norbert Frei – Auch hier ist das Reizvolle, dass die politische Bildung mit diesen Bezügen auf die Zeit vor 1933 gerade keine Ausnahme ist. Ganz gleich, ob bei den sich neu gründenden Parteien, in den Medien oder beim Verfassungskonvent in Herrenchiemsee: Überall wird an diese Erfahrung angeknüpft, personell und ideell, und als Vergleichshorizont bleibt Weimar auch weit über die Anfangsjahre der zweiten Republik hinaus immer präsent.
Tim Schanetzky – Der Historiker Sebastian Ullrich hat das einmal treffend den "Weimar-Komplex" genannt. Dass es dabei auch darum ging, positive Demokratietradition zu stiften und den NS-Staat gewissermaßen als "Betriebsunfall" abzutun, wird uns ebenso interessieren wie wir natürlich den individuellen Erfahrungshintergrund der Akteure immer im Blick behalten müssen. Letzteres schließt die Wahrnehmung der Weimarer Zeit ebenso ein wie das "Dritte Reich", aber eben auch die Erfahrung des Exils und jener Aufbrüche und Experimente, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit vielerorts möglich waren.
Inwiefern sehen Sie "intellektuelle und personelle Kontinuitätslinien zum Nationalsozialismus", von denen in Herrn Gütles Beitrag in dieser Ausgabe die Rede ist?
Tim Schanetzky – Nach allem, was wir bisher über das Leitungspersonal der Bundeszentrale wissen, spielte die Wiederverwendung früherer NSDAP-Mitglieder dort eine geringere Rolle als in anderen Bundesbehörden. Mit "intellektueller Kontinuität" ist wohl auch nicht gemeint, dass die Inhalte der politischen Bildungsarbeit überwiegend in nationalsozialistischen Denkfiguren wurzelten. Aber es ist doch mit Händen zu greifen, dass die Idee der Propaganda im Kontext des Kalten Krieges noch lange aktuell blieb. Heute scheinen uns Propaganda und politische Bildung kaum mehr miteinander vereinbar zu sein – jedenfalls wenn man von der Idee ausgeht, dass politische Bildung selbstständige und kritische Bürger adressieren möchte. Aber anfangs galt Demokratie eben noch als eine Art Elitenprojekt, entsprechend staatsgläubig präsentierten sich zunächst auch viele Akteure der politischen Bildung. In Baden-Württemberg beispielsweise hieß der Verein, aus dem später die dortige Landeszentrale hervorgehen sollte, ganz programmatisch "Der Bürger im Staat".
In den vergangenen Jahren wurde und wird viel geforscht zur Vergangenheit deutscher Behörden. Auch Sie, Herr Frei, haben auf diesem Feld gearbeitet. Mit welchem Ziel und zu welchem Nutzen sollten wir uns heute noch mit der Institutionengeschichte der frühen Bundesrepublik beschäftigen?
Norbert Frei – In den letzten zehn, zwölf Jahren – die Unabhängige Historikerkommission zur Geschichte des Auswärtigen Amts nahm 2006 ihre Arbeit auf – ist in der Tat eine Menge passiert, und man kann sich kaum vorstellen, dass dies noch lange in dieser Intensität weitergeht. Zwar sind zuletzt noch große Projekte in Gang gesetzt worden, darunter Geschichte der Bundesbank, des Bundeskanzleramts und der Treuhandanstalt. Aber das geht inzwischen zum Teil schon über "Behördenforschung" im engeren Sinn hinaus. Dass es überhaupt zu dieser Konjunktur kam, erklärt sich nicht zuletzt aus der Genese der zeitgeschichtlichen Bundesrepublik-Erforschung: Die begann in den siebziger und achtziger Jahren ja noch in der Gegenwart der Zeitgenossen der NS-Zeit – und machte um Fragen nach personellen und institutionellen Kontinuitäten folglich einen diskreten Bogen. Insofern war und ist die "Behördenforschung" auch ein Stück nachgetragene historisch-politische Selbstaufklärung der deutschen Gesellschaft.
Denken Sie, dass sich aus der Vergangenheit der politischen Bildung und deren Erforschung Schlüsse für die Gegenwart ziehen lassen?
Norbert Frei – Gewiss sind viele Formen und Ansätze der politischen Bildung nach 1945 auf die Gegenwart eines Landes, das inzwischen eine siebzigjährige Demokratiegeschichte aufweist, nicht einfach übertragbar; vieles waren doch sehr spezifische Herausforderungen, die sich aus der Notwendigkeit der Verwandlung der Volksgenossen der NS-Zeit in die Bürger der Bundesrepublik ergaben. Aber Demokratieerziehung ist eine permanente Aufgabe, und dafür kann es nicht schaden, ein bisschen mehr darüber zu wissen, wie dies nach 1945 gelungen ist – nicht ohne Schwierigkeiten und Rückschläge, aufs Ganze gesehen jedoch relativ zügig. Das heißt freilich nicht, dass ich glaube, die Rezepte von damals ließen sich einfach auf die heutigen, vielleicht sogar größeren Herausforderungen – man denke nur an die Macht der sozialen Medien – übertragen.
Das Interview führte Christina Lotter im Februar 2018 per E-Mail.