Bei der von Berliner Theaterschaffenden angemeldeten Demonstration für die in der DDR-Verfassung festgeschriebene Meinungs- und Versammlungsfreiheit am 4. November 1989 handelte es sich um die größte genehmigte, nicht-staatliche Demonstration in der DDR-Geschichte. Schätzungen gehen von rund 500000 Menschen aus, die sich an diesem Tag auf dem Berliner Alexanderplatz versammelten. Während ihres kurzen Redebeitrags auf dieser Demonstration skizzierte die Schauspielerin Steffi Spira ein Leben jenseits ideologischer Erziehungsbemühungen: "Ich wünsche für meine Urenkel, daß sie aufwachsen ohne Fahnenappell, ohne Staatsbürgerkunde und daß keine Blauhemden mit Fackeln an den hohen Leuten vorübergehen." Der Jubel und Beifall, die bereits nach dem Wunsch eines Lebens ohne Staatsbürgerkundeunterricht einsetzten, können als symbolischer Ausdruck der allgemeinen Unzufriedenheit breiter Bevölkerungsschichten mit dem gesamten Bildungssystem interpretiert werden, die im Herbst 1989 erstmals öffentlich artikuliert wurde. Der Wunsch nach einer Entideologisierung und Demokratisierung der Schule verdichtete sich hier in einer kollektiven Ablehnung des Staatsbürgerkundeunterrichts, der als das zentrale Instrument der politisch-ideologischen Erziehung im Sinne der SED galt.
Noch im Juni 1989 bezeichnete die Volksbildungsministerin Margot Honecker das Fach Staatsbürgerkunde in ihrem Referat auf dem IX. Pädagogischen Kongress als "ein in seiner Bedeutung für die sozialistische Erziehung, für die Vermittlung unserer Ideologie durch nichts zu ersetzendes Fach". Mit derartigen Verlautbarungen versuchte die Parteiführung, die immer offenkundiger werdende Krise des politischen Systems zu ignorieren. Sie wurde allerdings – ebenso wie die Akteur_innen auf der bildungspolitischen Ebene und die Vertreter_innen der Staatsbürgerkundemethodik – in den folgenden Monaten in regelmäßigen Abständen von der Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklungen eingeholt. Am 20. Oktober 1989 trat Margot Honecker schließlich nach 26 Jahren als Volksbildungsministerin zurück. Ihr Nachfolger, der bisherige stellvertretende Volksbildungsminister Günther Fuchs, setzte als eine seiner ersten Amtshandlungen am 6. November 1989 die Verbindlichkeit der Lehrplaninhalte für den Staatsbürgerkundeunterricht außer Kraft. Bereits zu Beginn des folgenden Jahres legte eine Kommission, die sich aus unterschiedlichen wissenschaftlichen, pädagogischen, politischen und kirchlichen Bereichen konstituierte, eine Übergangskonzeption für den gesellschafts- und sozialkundlichen Unterricht im zweiten Schulhalbjahr vor. Der Staatsbürgerkundeunterricht wurde somit nach und nach Teil einer DDR-Geschichte, die bis heute von Auseinandersetzungen um divergierende Erinnerungen und kontroverse bis umstrittene Deutungen begleitet ist.
Von der Gegenwarts- zur Staatsbürgerkunde
Als obligatorisches Schulfach wurde Staatsbürgerkunde 1957 eingeführt und trat an die Stelle der seit 1950 unterrichteten Gegenwartskunde. Die Einführung des Faches wurde von einer anhaltenden Diskussion über seine Aufgaben und Inhalte begleitet. Zunächst sollte das Fach mit je einer Wochenstunde ab der achten Jahrgangsstufe unterrichtet werden, 1959 wurde die Aufnahme des Staatsbürgerkundeunterrichts in die neunte Jahrgangsstufe verlegt. Die Einführung des Lehrplans im Schuljahr 1958/59 ging einher mit dem Rückzug fehlerhafter Versionen, auf den Übergangsregelungen und neue vorläufige Lehrpläne folgten. Der thematische Bezug zum Marxismus-Leninismus, der später charakteristisch für das Fach wurde, war in diesen Lehrplanfassungen bereits zu erkennen.
Mit der Einführung eines neu ausgearbeiteten Gesamtlehrplans 1964 wurden diese Bezugnahmen konkretisiert. Marxistisch-leninistische Auffassungen bestimmten fortan den Gegenstandsbereich des Faches; als zentrale Inhalte sollten Kenntnisse über ökonomische und gesellschaftspolitische Vorgänge in der DDR sowie über die diesen Vorgängen übergeordneten politisch-ideologischen Beschlüsse der SED vermittelt werden. Einen weiteren Ausbau erfuhr das Unterrichtsfach 1968 mit seiner Einführung in den Jahrgangsstufen sieben und acht. In seinen Grundzügen galt die konzeptionelle Ausrichtung des Unterrichtsfaches damit als abgeschlossen.
Die verpflichtenden Lehrplanvorgaben galten als das zentrale Steuerungsinstrument des Unterrichts und der Abfolge der zu behandelnden Inhalte. Das Lehrbuch, das flächendeckend in der gesamten DDR zum Einsatz kam, wurde in enger Abstimmung mit den Lehrplanvorgaben entwickelt. Nicht zuletzt, weil die Möglichkeiten der Lehrer_innen, beispielsweise durch Kopien ergänzende Unterrichtsmaterialien zu erstellen, deutlich eingeschränkt waren, galt es als das am häufigsten eingesetzte und damit wichtigste Unterrichtsmittel. Ergänzend dazu wurden sogenannte Unterrichtshilfen herausgegeben, die Stundenentwürfe mit beispielhaften Aufgabenstellungen enthielten. Weitere Stundenentwürfe und Erfahrungsberichte wurden außerdem in der Fachzeitschrift "Geschichtsunterricht und Staatsbürgerkunde" veröffentlicht, in denen auch Aktualisierungen von Inhalten und Materialien in Bezug auf das aktuelle tagespolitische Geschehen vorgenommen werden konnten. Im Gegensatz zu den Lehrplanvorgaben galten die Entwürfe in den Unterrichtshilfen und Zeitschriftenbeiträgen nicht als gesetzlich verpflichtend. Entsprechend ihres empfehlenden Charakters können sie allerdings als offizielle Idealvorstellungen eines guten Unterrichts auf der Planungsebene interpretiert werden.
Die Grundzüge der Aufgabenstellung des Faches, seine Inhalte sowie die didaktisch-methodische Konzeption waren mit dem Abschluss der konzeptionellen Entwicklung des Gesamtlehrplanwerks Ende der 1960er Jahre weitestgehend festgelegt. Der Marxismus-Leninismus, der als Handlungsgrundlage für die Politik der SED galt, hatte sich als alleinige Bezugswissenschaft des Faches etabliert. Dem Staatsbürgerkundeunterricht kam demnach die Aufgabe zu, die gegenwärtige politisch-ideologische Strategie der Partei zu legitimieren beziehungsweise deren vergangene Entscheidungen und Maßnahmen im Sinne dieser Strategie zu interpretieren. Die Erziehung sozialistischer Staatsbürger_innen sollte dabei auf der Ebene des Denkens, Fühlens und Handelns der Jugend zu Parteilichkeit und gesellschaftlichem Engagement im Sinne der Politik der SED erfolgen.
Problemdiagnosen, Reformbemühungen und Kontinuität
Der Konzeption des Staatsbürgerkundeunterrichts wurde ein dichotomes Welt- und Gesellschaftsbild in Form eines unvereinbaren Gegensatzes von Sozialismus und Imperialismus beziehungsweise Kapitalismus zugrunde gelegt. Wie es 1969 als "Aufgabenstellung (…) der staatsbürgerlichen Jugend" formuliert wurde, galt es, diese "zur tiefen Liebe zur DDR, ihrem sozialistischen Staat, und zum leidenschaftlichem Haß gegen die imperialistischen Feinde unseres Volkes [zu] erziehen". Dabei wurde der Staatsbürgerkundeunterricht insbesondere hinsichtlich seiner Wirkung regelmäßig durch unterschiedliche Institutionen und Instanzen des Parteiapparats überprüft. Je nach Hintergrund und Motivlage lassen sich dabei unterschiedliche Konjunkturen solcher Bestandsaufnahmen beobachten. In den 1980er Jahren wurden ergänzend dazu interne, streng geheim gehaltene Untersuchungen des 1966 in Leipzig gegründeten Zentralinstituts für Jugendforschung (ZIJ) herangezogen.
Bereits in den 1970er Jahren zeichnete sich ein zunehmend heterogenes Bild der politisch-ideologischen Einstellungen der Jugendlichen ab, was sich im Verlauf der 1980er Jahre aus der Perspektive der SED brisant verschärfte. So identifizierten sich die Jugendlichen zwar durchaus mit der DDR und nannten in Bezug auf den Sozialismus auch positive Assoziationen wie Frieden und soziale Sicherheit. Deutliche Defizite wurden allerdings in der Bewertung der Politik der Bundesrepublik sowie des Verhältnisses der beiden deutschen Staaten zueinander konstatiert. Zurückgeführt wurde das vor allem darauf, dass bei den Schüler_innen zwar formales Wissen über die Gründungsgeschichte der DDR, das politische System und die der marxistisch-leninistischen Lehre entsprechenden Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung vorhanden sei, es aber an analytischen Fähigkeiten fehle, dieses Wissen auch eigenständig anzuwenden und daraus die gewünschte politisch-ideologische Haltung abzuleiten. Die Ursache dafür wurde in einer Formalisierung des Unterrichts gesehen, mit der die Lehrplaninhalte vorgabengemäß in methodischer Eintönigkeit bearbeitet wurden. Die Schüler_innen reproduzierten im Unterricht zwar die gewünschten politisch-ideologischen Schlussfolgerungen, jedoch ohne von diesen überzeugt zu sein. Vielmehr ist von einer wachsenden Diskrepanz zwischen den Alltagserfahrungen der Jugendlichen und den vermittelten Unterrichtsinhalten auszugehen, denen die Schüler_innen zunehmend kritisch und distanziert gegenüberstanden.
Diesen Entwicklungen sollte mit einer Anfang der 1980er zentral eingeleiteten Reform des Staatsbürgerkundeunterrichts begegnet werden, in deren Zuge auch eine Überarbeitung der Lehrpläne, Schulbücher sowie Unterrichtshilfen erfolgte. Durch die Streichung redundanter Inhalte sollten die Lehrer_innen mehr Freiräume für selbst gewählte Schwerpunktsetzungen innerhalb der Lehrplanvorgaben erhalten. Der Akzent dieser Reformbemühungen wurde vor allem auf methodische Fragen der Unterrichtsgestaltung gelegt, in der auch die Erfahrungen der Schüler_innen eine dezidiertere Berücksichtigung finden sollten.
In der Unterrichtspraxis kollidierten diese Versuche einer methodisch offeneren Unterrichtsgestaltung allerdings mit den engen inhaltlichen Zielvorgaben der Überzeugungsbildung. Sichtbar wird diese Widersprüchlichkeit auch in Aufgabenstellungen in Lehrbüchern, die zwar zu Begründungen und Transferdenken auffordern, deren Ergebnisse und Lösungen allerdings an derselben Stelle bereits vorweggenommen werden (Abbildung). Die Bemühungen, die entsprechenden Inhalte im Sinne eines Reflexionsfaches zu vermitteln, sodass die Schüler_innen auf der Grundlage der eigenständigen Auseinandersetzung mit Inhalten und Erfahrungen zu einer begründeten Urteilsbildung gelangen, machten die Staatsbürgerkunde – so eine vielzitierte These – letztlich zum "unmögliche[n] Fach".
Wichtigstes Instrument im Erziehungssystem?
Die Beschreibungen von Aufgaben und Inhalten des Staatsbürgerkundeunterrichts durch Vertreter_innen der Bildungspolitik sowie Fachmethodiker_innen lassen erkennen, dass das Unterrichtsfach als ein zentrales Instrument zur politisch-ideologischen Erziehung der Schuljugend konzipiert wurde. Die lautstarke Reaktion der demonstrierenden Menschenmenge auf dem Alexanderplatz zeigt, dass sich die Ablehnung nicht nur gegen dieses Unterrichtsfach im Besonderen richtete, sondern es zugleich als ein Symbol der politischen Macht der SED im Allgemeinen aufgefasst wurde. Angesichts des quantitativ bemessen relativ geringen Stellenwerts des Faches innerhalb eines mit staatspolitischen Interessen verflochtenen Bildungswesens, in dem der staatliche Erziehungsanspruch auf die gesamte Gesellschaft ausgeweitet wurde, erscheinen solche Zuschreibungen erklärungsbedürftig.
Der von der SED ausgehende, die gesamte DDR-Gesellschaft adressierende Erziehungsanspruch spiegelt sich in begrifflichen Charakterisierungen der DDR als "Erziehungsstaat" oder "durchherrschte Gesellschaft" wider. Wie es bereits in den Worten Steffi Spiras zum Ausdruck kommt, blieb dieser Anspruch bei Weitem nicht auf den Staatsbürgerkundeunterricht in der Schule beschränkt. Durch die umfassende Präsenz von Parteiorganisationen im beruflichen sowie teilweise auch im privaten Alltag der DDR-Bürger_innen reichte der Erziehungsanspruch des Staates sogar über die Phasen des Kindes- und Jugendalters hinaus. Die klassischen Sozialisationsagenten in diesen Phasen, Familie und Schule, erfuhren durch die enge Verflechtung gesellschaftlicher Erziehungsinstanzen zudem eine Erweiterung um die Pionierorganisation "Ernst Thälmann" (für Kinder von 6 bis 14 Jahre) und die Freie Deutsche Jugend (FDJ, ab 14 Jahre). Die offizielle Gründung der FDJ erfolgte bereits am 7. März 1946, im Dezember 1948 folgte die Gründung des Verbandes der Jungen Pioniere als in die FDJ eingeordnete Massenorganisation für Kinder. Als einzige staatlich zugelassene und geförderte Kinder- und Jugendorganisationen wiesen sie einen monopolistischen Charakter auf; bald nach ihrer Gründung verfestigte sich die politische Profilierung im Muster "sozialistischer Erziehung". Diese Instrumentalisierung des Erziehungsprogramms im Sinne der parteipolitischen Interessen der SED wurde kontinuierlich weiterverfolgt, insbesondere die FDJ galt als Kaderreserve der Partei. Formal war die Mitgliedschaft in den Verbänden freiwillig, allerdings war die Möglichkeit bestimmter Bildungswege in der Regel eng an die Voraussetzung parteikonformen, gesellschaftspolitischen Engagements geknüpft. Die engen strukturellen und personellen Verzahnungen mit der Institution Schule trugen zudem dazu bei, dass die Verbände als mehr oder weniger "normalisierte" Sozialisationsinstanzen empfunden wurden und bis zum Ende der DDR 80 bis 90 Prozent der Kinder und Jugendlichen erfassten.
Diese Verbindung einer Ausweitung der politisch-ideologischen Erziehungsansprüche mit einer Aufhebung der Grenzen zwischen schulischen und außerschulischen Bildungs- und Erziehungsinstanzen durch ihre strukturelle Verzahnung lässt sich nicht nur an der Präsenz der Jugendorganisationen in der Schule beobachten. Formen der Politisierung sowie auch der Militarisierung fanden ebenso in der Einrichtung von Arbeitsgemeinschaften in Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Institutionen wie der Gesellschaft für Sport und Technik, der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft und anderen Eingang in den Schulalltag. Zudem wurde der gesamte Fächerkanon durch die Auswahl der Unterrichtsinhalte oder der zugrunde gelegten Betrachtungsweisen mal mehr, mal weniger subtil für die Zwecke der politisch-ideologischen Erziehung in Anspruch genommen.
Dennoch kam vor allem dem Unterrichtsfach Staatsbürgerkunde eine Leitfunktion innerhalb der politisch-ideologischen Erziehung zu. In ihm verdichteten sich die auf das gesamte Volksbildungssystem gerichteten politisch-ideologischen Erziehungsansprüche in ihrem Kern. Es ist dabei vor allem die Begründung der Unterrichtsmethodik in der marxistisch-leninistischen wissenschaftlichen Weltanschauung und die darauf gestützte Verbindung der gewünschten Überzeugungsbildung mit Ansprüchen der Wissensvermittlung und -aneignung, durch die das Fach als ein besonderer Fall zur Untersuchung staatspolitischer Erziehungsansprüche im Schulunterricht gilt. Dabei wird der Blick auf die Geschichte des Faches jedoch von Erinnerungen überlagert, die oftmals widersprüchlich sind und die Bedeutung multiperspektivischer Zugänge zu deren Erforschung hervorheben. Im Spektrum der kontroversen Erinnerungen stehen sich dabei einerseits Thesen gegenüber, nach denen der Staatsbürgerkundeunterricht das zentrale Element der Indoktrination der nachwachsenden Generation darstellte oder die Schüler_innen Zweisprachigkeit lehrte, sowie andererseits Erinnerungen vorliegen, nach denen der Unterricht offene wie auch kritische Diskussionen zuließ.
Videodokumentationen aus der Unterrichtspraxis
Allein auf Grundlage schriftlicher Dokumente wie Lehrpläne, Schulbücher, Analyseberichte und ähnlicher Materialien sind der Forschung allerdings Grenzen gesetzt, was Aussagen zur Umsetzung der beschriebenen Intentionen in der Unterrichtspraxis betrifft. Die eingangs erwähnten vielfältigen bis kontroversen Erinnerungen und Erfahrungsberichte verweisen darauf, dass diese Praxis auf durchaus unterschiedliche Weise erlebt werden konnte. Einen beispielhaften Einblick ermöglichen Videodokumentationen von Unterricht an einer Ost-Berliner Polytechnischen Oberschule (POS) aus den späten 1970ern und der ersten Hälfte der 1980er Jahre. Die POS war die allgemeine Schulform im Schulsystem der DDR. Sie umfasste die Klassen 1 bis 10 und führte zu einem mittleren Schulabschluss. Bei der POS, an der die Aufzeichnungen entstanden sind, handelte es sich um eine Forschungsschule der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR (APW). Die Aufzeichnungen erfolgten im Kontext von Forschungen zum Umgang mit der beschriebenen Problematik, dass die Schüler_innen lediglich Antworten reproduzierten, ohne die entsprechenden Überzeugungen zu vertreten. Im Fokus stand die Auswahl von Aufgabenstellungen, die für die Schüler_innen von subjektiver Bedeutsamkeit waren, Bezüge zu ihrer Lebenswelt aufwiesen und sie zu einer eigenständigen gedanklichen Auseinandersetzung herausforderten.
Die ausgewerteten Videoaufzeichnungen können damit kaum als repräsentativ für den Staatsbürgerkundeunterricht in der DDR gelten. Trotz der inhaltlich engen zentralen Vorgaben kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass es den Staatsbürgerkundeunterricht schlechthin gegeben hat. Die erhaltenen Videoaufzeichnungen aus den Archivbeständen der APW zeigen vielmehr Beispiele einer Unterrichtspraxis, von denen bekannt ist, dass sie innerhalb dieser Institution als gelungene Umsetzungen der inhaltlichen und methodischen Vorgaben galten. Vor diesem Hintergrund führen die Analysen der Videoaufzeichnungen zu bemerkenswerten Resultaten: In nahezu allen dokumentierten Staatsbürgerkundestunden ist eine Aufgabenstellung zu erkennen, die entgegen der Intentionen des Forschungsprogramms der APW eher als problemvermeidend und weniger als problemhaft charakterisiert werden kann: Anstelle der Bezüge auf die Lebenswelt der Schüler_innen wird in der Regel bereits eine Vorauswahl von Erfahrungsberichten getroffen, die eine der dichotomen Weltsicht entsprechende Deutung sicherstellt und widersprüchliche Erfahrungen ausschließt.Deutlich wird das auch in einer der dokumentierten Stundeneröffnungen, in denen die Lehrerin das Ergebnis einer Erarbeitung bereits vorwegnimmt: "Und dabei müssen wir heute den Nachweis führen, dass der Imperialismus faulender, parasitärer, sterbender Kapitalismus ist." Da damit die abzuleitenden Schlussfolgerungen bereits zum Zeitpunkt der Problemstellung bekannt sind, kann von einer eigenständigen gedanklichen Auseinandersetzung der Schüler_innen kaum die Rede sein. Vielmehr erweisen sich solche eigenständigen Überlegungen als hinderlich, wenn sie die Schüler_innen schließlich zu anderen Schlussfolgerungen als den offiziell gewünschten veranlassten. Somit dokumentieren diese Aufzeichnungen einmal mehr die Paradoxien eines Unterrichtsfaches, das mit der Vermittlung einer politisch-ideologischen Weltanschauung zu entsprechenden Überzeugungen erziehen will.
"Erziehung zum sozialistischen Staatsbürger" und politische Sozialisation
Gemessen an den geltenden Ansprüchen an die politisch-ideologische Erziehung der Schuljugend gelang es dem Staatsbürgerkundeunterricht selbst bei formaler Erfüllung des Lehrplans nicht, die intendierten Überzeugungen bei den Jugendlichen auszubilden. Gleichwohl versuchte der Staat, seinen Erziehungsanspruch so weit wie möglich auch auf den außerschulischen Bereich auszudehnen. Dass in Bezug auf diese Formen des gesellschaftspolitischen Engagements, wie beispielsweise der politischen Mitarbeit in der FDJ, ein zunehmendes Desinteresse zu verzeichnen war, wurde gegen Ende der 1980er Jahre auch vom Zentralrat der FDJ eingestanden. Die Frage nach einer angemessenen Gestaltung der Verbandsaktivitäten, mit denen die Interessen der Partei und die Bedürfnisse der Jugend nach einer individuellen Freizeitgestaltung in Übereinstimmung gebracht werden könnten, bildete bis zum Ende der DDR einen ungelösten Widerspruch.
Obwohl es also deutliche Indikatoren dafür gibt, dass es nicht gelang, die intendierte Überzeugungsbildung umzusetzen, wäre es falsch, das Volksbildungssystem der DDR für gescheitert zu erklären. Schließlich blieben wesentliche Teile des Sozialisationsumfeldes der DDR-Jugend von dessen Ansprüchen durchzogen. Sie stellten somit eine nicht zu vernachlässigende Sozialisationsbedingung dar, die jedoch individuell höchst unterschiedlich erfahren werden konnte. Der einschlägigen Forschung folgend ist Sozialisation generell ein Prozess, in dem sich die Konstruktion von Identität(en) in einem Spannungsfeld von Anpassung und Widerstand, von Fremdbestimmung und Selbsttätigkeit vollzieht. Die strukturelle Verzahnung des politisch-ideologischen Erziehungsprogramms mit Mechanismen der Eröffnung oder des Ausschlusses von Möglichkeiten innerhalb des Bildungssystems dürfte zu widersprüchlichen Effekten in Bezug auf die Identifikation mit dem politischen System geführt haben. Dass es sich beim Volksbildungsbildungssystem um eine – wenngleich auch in unterschiedlichen Ausprägungen – wirkmächtige Sozialisationsinstanz gehandelt hat, kann allerdings nicht in Zweifel gezogen werden.
Gelegentlich vorzufindenden Thesen, die daraus eine monokausale Erklärung aktueller verbreiteter politischer Einstellungsmuster in den Regionen der ehemaligen DDR ableiten, sollte allerdings mit Vorsicht begegnet werden. Es ist zwar davon auszugehen, dass gemeinsame Sozialisationserfahrungen kollektive Identitätsgefühle stiften können, die auch mit spezifischen Einstellungsmustern verbunden sein können. Insgesamt gelten die Entwicklung sowie der Wandel von Einstellungen allerdings als ein komplexer sich entlang der individuellen Sozialisationserfahrungen vollziehender Prozess. Bürger_innen der ehemaligen DDR sowie auch die nachfolgende Generation verbinden gemeinsame beziehungsweise über die Eltern- und Großelterngeneration vermittelte Lebenserfahrungen, die in erster Linie nicht ausschließlich politisch zu interpretieren sind. Des Weiteren werden übereinstimmend Erfahrungen der Entwertung der eigenen Biografie sowie des Verlusts ökonomischer Sicherheiten im Zuge des teilweise als massiv und dynamisch erlebten Transformationsprozesses als bedeutsame Einflussgrößen für die Herausbildung kollektiv zu beobachtender mentaler Einstellungen genannt. Die Befunde in Bezug auf Effekte der politischen Sozialisation in der DDR werden demgegenüber in der Forschung unterschiedlich bis widersprüchlich interpretiert.