Heutige Gesellschaften sind pluralistisch und umfassen eine wachsende Vielfalt an kulturellen, religiösen und weltanschaulichen Perspektiven. Eine der größten politischen Herausforderungen der Gegenwart ist es, einen Umgang mit dieser Pluralität zu finden. In diesem Beitrag diskutiere ich, welche Konsequenzen hieraus für die politische Bildung erwachsen. Ich nutze dafür die Perspektive radikaldemokratischer Theorieansätze, die die Relevanz von Konflikten für Demokratien betonen, um einen kritischen Blick auf den Beutelsbacher Konsens zu werfen, speziell auf das Kontroversitätsgebot.
Das verspricht ein lohnenswertes Unterfangen zu sein, weil sich ein wesentlicher Teil der politischen Herausforderung in pluralistischen Gesellschaften daraus ergibt, dass Pluralität nicht bloß Vielheit bedeutet, ein harmonisches Nebeneinander von unterschiedlichen Sichtweisen, sondern Dissens und Streit. Die verschiedenen Lebensweisen und Weltanschauungen stehen nicht einfach nebeneinander, sondern geraten regelmäßig in Konflikte, die nicht nur auf den offiziellen politischen Bühnen wie den Parlamenten, sondern an vielen Orten in der Gesellschaft auftreten können. Das Spektrum an Themen, die umstritten sind, weil Bürgerinnen und Bürger unterschiedliche Werte haben oder Werte unterschiedlich interpretieren, ist breit: Wie weit reicht zum Beispiel Religionsfreiheit und was heißt es, dass der Staat neutral sein sollte? Debatten über religiöse Symbole im öffentlichen Raum, über das Tragen von "Burka" und Kopftuch oder das christliche Kreuz in Gerichtssaal oder Klassenzimmer zeigen, wie umstritten auch jene Prinzipien sind, die einen vermeintlichen Grundkonsens in liberalen Demokratien bilden. Besonders deutlich wird das auch in der Flüchtlings- und Migrationspolitik, die in den vergangenen Jahren eine enorme Polarisierung erfahren hat.
Sorgt aber denn nicht das Kontroversitätsgebot – im Wortlaut: "Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen"
Jede Ordnung ist politisch
Radikale Demokratietheorien zeichnet aus, dass sie Politikverständnisse kritisch sehen, die von der Möglichkeit rationaler Konsense ausgehen – wie vor allem Theorien deliberativer Demokratie. Politik kann Dissense oft nicht auflösen und sollte auch nicht versuchen, das zu tun. Die radikaldemokratische Idee lässt sich herunterbrechen auf die These, dass Konflikte politisch produktiv sind und ein übermäßiges Streben nach Konsens sogar zu einer Gefahr für die Demokratie werden kann. Die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe etwa argumentiert, dass das derzeitige Erstarken von rechtspopulistischen Bewegungen in einem Zusammenhang steht mit der Tendenz gegenwärtiger Demokratien, einen "Konsens in der Mitte" zu suchen.
Worauf gründet die Idee, dass Konflikte und nicht Konsensorientierung die natürlichen Umstände von Politik sind? Mouffe geht davon aus, dass Politik nicht ohne eine Unterscheidung zwischen einem "Wir" und einem "Sie" funktioniert.
Aus dieser Überlegung folgt, dass keine soziale Ordnung, ob im Großen oder im Kleinen, eine feste, determinierte Form hat. Wenn Ausschlussmechanismen Ordnung gestalten, ist jede Ordnung per se variabel. Indem etwas einbezogen wird, das vorher ausgeschlossen wurde, oder indem etwas ausgeschlossen wird, das vorher einbezogen wurde, verändert sich die Ordnung selbst. Dieses Merkmal lässt sich das Politische sozialer Ordnung nennen, weil es eine grundlegende Gestaltbarkeit bedeutet. Ob und inwiefern von dieser Gestaltbarkeit Gebrauch gemacht wird, ergibt sich nicht aus bestimmten normativen Prinzipien oder dem "Lauf der Geschichte", sondern entscheidet allein der politische Streit. Radikaldemokratische Theoretikerinnen und Theoretiker gehen davon aus, dass sich genau hier die Qualität einer lebendigen Demokratie verbirgt: In pluralistischen Gesellschaften muss die Gestalt sozialer Ordnung als grundsätzlich (neu) gestaltbar verstanden werden und muss immer darüber gestritten werden können, was eingeschlossen und was ausgeschlossen werden soll.
Die große Stärke dieses Verständnisses von Demokratie ist, dass es anmahnt, stets einen kritischen Blick auf den Status quo zu behalten. Liberale Gesellschaften definieren sich in zentraler Hinsicht über die politischen Werte Gleichheit und Freiheit, und obwohl es in der Geschichte liberaler Gesellschaften immer schon Regeln gab, die relativ unstrittig als Implikationen von Gleichheit und Freiheit gesehen wurden, gehörte und gehört der Streit über Interpretationen dieser Werte und ihre jeweiligen Ausschlüsse zur politischen Praxis. Die Frauenbewegung, die sich gegen Ungleichbehandlungen von Männern und Frauen formiert hat, oder die Debatte über die Öffnung der Institution Ehe für gleichgeschlechtliche Paare veranschaulichen, dass der demokratische Charakter liberaler Gesellschaften nicht zuletzt darauf beruht, dass sie sich nicht ausruhen auf den Ergebnissen vergangener politischer Kämpfe, sondern ihre gegenwärtigen Regeln stets zu Gegenständen erneuten politischen Streits machen.
Allerdings ist es nie leicht, die Grenzen der etablierten Ordnung effektiv infrage zu stellen. Auch wenn das Politische ein prinzipielles Merkmal sozialer Ordnung ist – es also immer möglich ist, etablierte Ausschlüsse in Frage zu stellen –, ist es in der Regel schwer, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, da eine soziale Ordnung immer Ausdruck von Machtbeziehungen ist. Akteure, die über größere Macht verfügen als diejenigen in marginalisierten Positionen, mögen zum einen ein Interesse daran haben, keine Veränderungen am Status quo vorzunehmen. Zum anderen haben etablierte Ausschlüsse, die beispielsweise in Unterscheidungen von normal/nicht-normal oder moralisch richtig/falsch zum Ausdruck kommen, immer auch Einfluss auf soziale Wahrnehmungsmuster, die unsichtbarer wirken als klar interessenbasierte Machtpositionen. Der Politikwissenschaftler William E. Connolly etwa macht darauf aufmerksam, dass etablierte Akteure auf kritische Forderungen nach einer Veränderung des Status quo oft abwehrend reagieren, weil sich die Inhalte dieser Forderungen oder die Identitäten derjenigen, die diese Forderungen vertreten, nicht in die eigenen weltanschaulichen Kategorien einsortieren lassen. Das "Andere" wirkt fremd, und die Veränderung, die sich anbahnt, steht für Unsicherheit, die man besser gar nicht erst zulässt.
In pluralistischen Demokratien ist es wichtig, gegen die Hindernisse anzugehen, die gesellschaftliche Machtstrukturen für effektiven politischen Streit bedeuten können. Pluralismus meint nicht nur die Vielzahl an Positionen, die in einer sozialen Ordnung Abbildung gefunden haben. Zum Pluralismus gehört auch das "Andere", das von der Ordnung ausgeschlossen ist, aber stets Anspruch erheben kann, sozialen und politischen Gestaltungsraum zu bekommen.
Kritikkompetenz
Was bedeuten diese Überlegungen für die politische Bildung? Zuallererst bedeuten sie ein kritisches Bewusstsein dafür, dass politische Bildung immer dann ein "Instrument der Hegemoniesicherung" zu werden droht, wenn sie nicht "Dissens und Kontroversität" ermöglicht, sondern vermittelt, dass es unter aufgeklärten Bürgerinnen und Bürgern einen vernünftigen Konsens darüber gäbe (oder geben müsse), wie mit den politischen Herausforderungen unserer Zeit, zum Beispiel Europapolitik und Populismus, umzugehen ist.
Einen Konsens vermitteln heißt nicht unbedingt, eine Position als richtig oder vernünftig darzustellen. Einen Konsens vermitteln kann auch heißen, ein Spektrum an Positionen innerhalb bestimmter Grenzen als vernünftig darzustellen. Stimmen in der Debatte attestieren der politischen Bildung, genau das zu tun, nämlich "Kontroversität vornehmlich in den Grenzen eines Konsenses" zu entwickeln.
Es drängt sich natürlich die Frage auf, wie das praktisch aussehen kann. Wie kann eine Kontroversität vermittelt werden, die ausgeschlossen ist und noch keine sichtbaren Fürsprecherinnen und Fürsprecher in der Öffentlichkeit, in den politischen Parteien oder den Medien hat? Der Schlüssel zu einem Umgang mit diesem Problem ist ein indirekter: Politische Bildnerinnen und Bildner können ein Bewusstsein für das Politische etablierter Ordnungen vermitteln.
Leitfragen, die politische Bildung mit Blick auf dieses Ziel stellen könnte, wären beispielsweise: Wer ist betroffen, wird aber nicht gehört? Indem diskutiert wird, wer von einer politischen Frage betroffen ist, aber keine wirksame Stimme in der Debatte hat, können Schülerinnen und Schüler sich ein Verständnis von sozialen und politischen Ausschlüssen aneignen. Welche Stimme etwa haben Griechinnen und Griechen in der europäischen Debatte über den Umgang mit den Folgen der Finanzkrise? Wo werden Geflüchtete in der Debatte über Familiennachzug gehört? Wie ist die junge Generation in die Debatte über die Zukunft des Rentensystems einbezogen? Ausgehend von einem Verständnis von den Grenzen etablierter Kontroversität lässt sich diskutieren, welche Perspektiven die betroffenen, aber marginalisierten Gruppen einbringen würden.
Welche Pluralität sollte abgebildet werden? Schülerinnen und Schüler können angeregt werden, zu diskutieren, welche in der Gesellschaft beobachtbare oder für sie subjektiv wünschenswerte Pluralität (mehr) politische Berücksichtigung finden sollte. Indem sie Positionen und Perspektiven identifizieren, die sie für wichtig halten, die aber in den politischen Debatten gegebenenfalls nicht zu finden sind, können eigene Beispiele für die Kontroversität "jenseits" der sichtbaren gefunden und eine Kritik an etablierten Ausschlüssen als relevant erlebt werden.
Welche Themen fehlen in den Debatten? Die Grenzen von Kontroversität können nicht nur die Stimmen von gesellschaftlichen Gruppen, sondern auch bestimmte Themen und Probleme ausschließen. Gibt es wichtige politische Fragen, die keine politische Aufmerksamkeit finden, oder finden verhältnismäßig wichtige politische Fragen verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit?
Bei der Suche nach Auslassungen von wichtigen politischen Fragen auf der gesellschaftlichen Debattenagenda können zum Beispiel die Schlüsselprobleme des Didaktikers Wolfgang Klafki herangezogen werden. Klafki schlägt vor, dass politische Bildung "epochaltypische Schlüsselprobleme unserer Gegenwart und der vermutlichen Zukunft"
Konfliktkompetenz
Allerdings sollte sich die politische Bildung nicht auf die Vermittlung von Kritikkompetenz beschränken. Kontroversität wahrzunehmen und Politik im Lichte eines Kontroversitätsbewusstseins kritisch betrachten lernen ist das eine. Etwas anderes ist es, mit Kontroversität umgehen zu lernen. Wenn ernstgenommen wird, wie eng gesellschaftliche Pluralisierung und Konflikte miteinander verwoben sind, kommt man nicht umhin, das Austragen von Konflikten als eine essenzielle neue "epochaltypische" Herausforderung gegenwärtiger Gesellschaften zu verstehen. In ihren vielfältigen sozialen Rollen und Beziehungen sind Schülerinnen und Schüler immer schon Akteure in jenen gesellschaftlichen Zusammenhängen, die sich derzeit stärker pluralisieren und immer häufiger mit ganz praktischen Herausforderungen der Konfliktverarbeitung einhergehen. Politische Bildung sollte den Umgang mit Konflikten deshalb zu einem zentralen Thema machen. Über das Vermitteln von Konfliktkompetenzen kann sie dazu beitragen, dass sich die Einzelnen als kompetente Akteure im Umgang mit Pluralität erleben.
Die Idee, dass der Umgang mit Konflikten eine zentrale Aufgabe von Politik ist, ist natürlich nicht nur der radikalen Demokratietheorie eigen. Deliberativen Demokratietheorien in der Tradition von Jürgen Habermas, die wohl die gegenwärtig dominierende Familie zeitgenössischer Demokratietheorien bilden, geht es in zentraler Hinsicht um die Frage, wie Meinungsverschiedenheiten in Argumentationsverfahren verarbeitet werden können.
Der Beitrag der radikalen Demokratietheorie besteht deshalb darin, den Blick darauf zu lenken, wie wichtig Formen des Umgangs mit Konflikten sind, die nicht das Ziel verfolgen, einen Konsens im Sinne einer Übereinstimmung der Meinungen zwischen den Konfliktparteien herzustellen. Chantal Mouffe etwa schlägt vor, Konfliktzähmung zur zentralen Aufgabe von Politik zu machen. Eine solche Zähmung erfordert die Kompetenz von Beteiligten, mit ihrem Konflikt auf eine bestimmte Weise umzugehen. Mouffe argumentiert, "dass das Ziel demokratischer Politik darin liegt, Antagonismen in Agonismen zu verwandeln".
Es gibt jedoch auch andere Möglichkeiten, Konflikte so auszutragen, dass Meinungsverschiedenheiten als stabile Umstände der Auseinandersetzung akzeptiert werden. Zum Beispiel sind Kompromissbildungen eine Möglichkeit, Konflikte stärker kooperativ zu verarbeiten, ohne damit gleich das (über)anspruchsvolle Ziel eines Konsenses zu verfolgen. Ein Kompromiss ist eine Einigung, die zustande kommt, indem die Konfliktparteien wechselseitige Zugeständnisse machen. Er hat daher die Form eines "geschnürten Pakets". Einige radikale Demokratietheoretikerinnen und -theoretiker wie Mouffe sehen Kompromisse zwar kritisch, weil sie befürchten, dass sie die Differenzen zwischen den politischen Projekten verwischen und damit das Spektrum an Positionen wieder verengen. Allerdings gibt es gute Gründe für Kompromisse. Unter bestimmten Umständen kann es politisch klüger sein, Kooperation zu suchen, anstatt bloß das "Mitspielen" der Gegenseite im politischen Streit zu akzeptieren. In Situationen etwa, in denen es wichtig ist, dass politische Entscheidungen eine breite gesellschaftliche Akzeptanz finden und keine Konfliktpartei bereit ist, die einseitige Durchsetzung der anderen Position hinzunehmen, kann ein Kompromiss politisch integrierend und befriedend wirken.
Diese Vielfalt sollte die politische Bildung bei der Vermittlung von Konfliktkompetenz produktiv nutzen. Schülerinnen und Schüler sollten erfahren, welche unterschiedlichen Wege es gibt, Konflikte auszutragen. Dazu gehört zwar auch, zu lernen, wie man argumentiert und sich bemüht, andere zu überzeugen. Aber die Vermittlung von Handlungsmöglichkeiten in Konflikten, die Toleranz und Kooperation ermöglichen, ohne dass versucht werden muss, die andere Seite zu überzeugen, sollte einen ähnlichen Stellenwert haben. Um die Unterschiede und jeweiligen Vorzüge verschiedener Konfliktaustragungsformen praktisch erlebbar zu machen, könnte es sich erneut anbieten, exemplarisch die von Klafki genannten Schlüsselprobleme zu nutzen.
Wenn ein bestimmtes gesellschaftspolitisches Problem, etwa der Klimawandel, aufgegriffen wird und eine Konstellation zwischen gesellschaftlichen Gruppen nachempfunden wird, die konfligierende Vorstellungen davon haben, was richtige oder gerechte politische Antworten auf dieses Problem wären, ließe sich konkret diskutieren, was die Hürden für die Herstellung eines Konsenses sind, und wie es praktisch aussehen könnte, den Konflikt in einem demokratischen Machtkampf oder durch Kompromisse zu lösen. Weil das nicht losgelöst von der Frage diskutiert werden kann, wer auf der politischen Bühne präsent ist und sein sollte, zeigt sich an dieser Stelle, wie eng Kritik- und Konfliktkompetenz in einer radikaldemokratisch gedachten politischen Bildung miteinander verknüpft sind.
Fazit
In diesem Beitrag wurde aus einer demokratietheoretischen Perspektive diskutiert, welche Implikationen die zunehmende Pluralisierung von Gesellschaften für die politische Bildung hat. Ich habe argumentiert, dass die radikaldemokratische Theorie, deren Stärke eine Offenheit gegenüber Konflikten ist, dazu anregt, das Kontroversitätsgebot in den Fokus zu stellen und in zweierlei Hinsicht zu schärfen. Es sollte erstens eine Kritikkompetenz vermittelt werden, die anregt, Gesellschaft und Politik auf ihre Ausschlüsse hin zu befragen. Zweitens sollte eine Konfliktkompetenz vermittelt werden, die neben der Suche nach Konsensen auch Konfliktzähmung und Kompromissbildung als Wege der Konfliktaustragung beinhaltet.
Eine wichtige Frage, die hier nicht behandelt werden konnte, betrifft die Grenzen demokratischen Streits. Die geforderte Offenheit von pluralistischen Gesellschaften für immer andere Sichtweisen darf nicht verwechselt werden mit einem Plädoyer für eine grenzenlose Öffnung. Es gibt zweifelsohne Positionen, die einer pluralistischen Politik gefährlich werden können und entsprechend nicht akzeptiert werden sollten. In aller unbefriedigenden Kürze: Eine radikaldemokratische Perspektive schlägt vor, dass das nicht die sind, die eine bestimmte Interpretation von demokratischen Grundwerten nicht teilen, sondern die, die einen lebendigen Streit über die Interpretation dieser Grundwerte verhindern wollen.