Einleitung
Gewalt in modernen Gesellschaften ist ein paradoxes Phänomen: Einerseits gelten solche Gemeinwesen ihrem Selbstverständnis nach als zivilisiert, als zumindest nach innen gewaltfrei und befriedet. Gerade dies wird als Unterschied zu vormodernen oder nichtmodernen Gesellschaften angesehen. Andererseits werden immer wieder Horrorszenarien einer allgegenwärtigen Gewalt entwickelt. Ein "Krieg in den Städten" oder "Zeitbomben in den Vorstädten" drohten die moderne Gesellschaft in ihrem Inneren zu zerstören. Jugendgewalt, rechte Gewalt, Gewalt in den Medien, Gewalt in der Schule, Gewalt in der Familie, Bandengewalt - alles verdichtet sich zu einem düsteren Bild des Zerfalls der Gesellschaft. Nicht nur die öffentliche und politische Diskussion um Gewalt ist durch diese Spannung zwischen Ausblendung einerseits und Dramatisierung andererseits geprägt. Auch sozialwissenschaftliche Analysen zu Gewalt bewegen sich zwischen diesen beiden Polen und liefern entsprechende Erklärungen, Umfrageergebnisse und Statistiken.
Beiden Haltungen - Ausblendung und Dramatisierung - ist gemeinsam, dass Gewalt als Fremdkörper, als Defizit und als Synonym für Bedrohung, Zerfall und Auflösung der Gesellschaft betrachtet wird: Entweder bricht Gewalt als Barbarei von außen in die Gesellschaft herein, oder sie löst - als Pathologie der modernen Gesellschaft - diese von innen, aus ihrer Mitte heraus auf. Eine solche Defizitperspektive bietet keinen geeigneten Ausgangspunkt, um das Phänomen "Gewalt", seine Ursachen und Hintergründe, Abläufe und Prozesse, Effekte und Folgen angemessen analysieren zu können.
Auf der gesellschaftstheoretischen Ebene führt die einseitige Verbindung von Gewalt mit Desintegration - d.h. dem Auseinanderbrechen und Zerfall sozialer Ordnung - dazu, dass die integrierenden, ordnungsstiftenden und -stabilisierenden Wirkungen von Gewalt nicht in den Blick geraten. Gerade darin dürfte aber ein Grund für die Attraktivität und Dauerhaftigkeit von Gewalthandeln liegen. Diese Defizitperspektive auf Gewalt führt in der Tendenz dazu, alle möglichen Phänomene, die als Übel der Gesellschaft erscheinen (Leistungsdruck, Individualismus, Pluralisierung von Werten, Rückzug aus Institutionen etc.) zur unscharfen und vagen Diagnose einer "desintegrierten Gesellschaft" zu verdichten und diese als Ursache für Gewalt auszugeben. Kulturpessimistisch zugespitzt, erscheinen alle produktiven Auswege, Lösungen und Bearbeitungen von Gewaltereignissen geradezu aussichtslos.
Auf der handlungstheoretischen Ebene blendet eine defizitorientierte Gewaltanalyse das eigentliche Gewalthandeln, dessen durchaus unterschiedlichen Kontext, Verlauf und die Folgen aus. Individualistisch verengt, erscheinen die Akteure (vor allem die Täter) entweder einseitig als instrumentell orientiert, den eigenen Nutzen durchsetzend oder aber als Opfer anonymer allgemeingesellschaftlicher Wirkkräfte (Desintegration, Modernisierung, Globalisierung). Sowohl der meist kollektive Charakter von Gewaltereignissen als auch der häufig Ziel-Mittel-Kalkulationen entgrenzende, euphorisierende Charakter von Gewalthandeln und seine Eigendynamiken bleiben ausgeblendet. Zudem wird in den meisten Gewaltanalysen davon ausgegangen, dass Gewalt eine eindeutige, objektiv vorhandene und messbare Größe ist - als sei nicht gerade die Einstufung einer Handlung als Gewalt Gegenstand historischen und kulturellen Wandels und vor allem sozialer und kultureller Auseinandersetzungen. Damit und in Verbindung mit den oft radikal kulturpessimistischen Gesellschaftsdiagnosen werden Gewaltanalysen selbst (teils gewollt, teils ungewollt) zum Spielball von Begriffsstrategien, Dramatisierungen, Stigmatisierungen und des Rufs nach "Recht und Ordnung".
I. Gewaltbegriffe und Gewaltdefinitionen
Scheint Gewalt zwischen Ausblendung und Dramatisierung an Kontur zu verlieren, liegt es nahe, sich zunächst des Gegenstandes zu versichern. Was ist überhaupt "Gewalt"?
Die Betrachtung von Gewaltbegriffen führt zunächst zu einer unüberschaubaren Vielfalt, die nicht abschließend systematisierbar ist: physische, psychische, strukturelle, kulturelle, legitime, legale, offene, verdeckte, stille, soziale, politische Gewalt, Gewalt gegen Personen, gegen Sachen sind nur einige Begriffe aus dieser Fülle. Friedhelm Neidhardt hat für den deutschsprachigen Raum einen Vorschlag zur Begriffssystematisierung gemacht. Danach liegt der Bedeutungskern von Gewalt in der "physische[n] Zwangseinwirkung von Personen mit physischen Folgen für Personen"
Vor dem Hintergrund dieser ausufernden Begriffsverwendung von Gewalt plädieren Friedhelm Neidhardt und Heinrich Popitz für die Verwendung eines restriktiven, engen Gewaltbegriffs ganz im Sinne des o.g. Begriffskerns
Ein aktuelles Phänomen, das die Grenzen einer abschließenden Definition aufzeigt, ist Gewalt in der Familie. Sowohl körperliche Züchtigung von Kindern als auch Vergewaltigung in der Ehe lassen sich unter einen restriktiven, physischen Gewaltbegriff subsumieren. Beides sind Praktiken mit einer langen Geschichte, und dennoch werden sie erst in den vergangenen Jahrzehnten als Gewaltphänomene diskutiert, finden Opfer eine Sprache, um ihre Erfahrungen zu artikulieren, setzen politische Diskussionen und schließlich die strafrechtliche Sanktionierung ein. Offenbar bedarf es erst sozialer, kultureller und politischer Bewegungen, bis Gewalt in der Familie aus der Normalität autoritärer Familienstrukturen herausgeholt und zu einem Gewaltphänomen gemacht wird.
Wenn also die unterschiedslose Ausweitung des Gewaltbegriffes nicht attraktiv erscheint, dann bietet es sich an, einen auf physische Gewalt begrenzten Begriff zu verwenden. Zugleich muss aber klar bleiben, dass sich damit keine objektive Definition aus der "Natur der Sache" heraus gewinnen lässt. Was jeweils Gewalt ist, bleibt von Kontexten abhängig und damit variabel.
II. Die gewaltfreie Moderne
Sowohl der Ausgangspunkt - eine sich als gewaltfrei verstehende Moderne, die sich immer mehr mit Gewalt konfrontiert sieht - als auch die Schwierigkeiten einer Definition von Gewalt legen es nahe, fundamental verschiedene Perspektiven auf Gewalt zu unterscheiden. Diese sind wesentlich durch spezifische historische Erfahrungen von Gewalt (zu nennen sind vor allem die religiösen Bürgerkriege im Europa des 17. Jahrhunderts, der Erste Weltkrieg und der nationalsozialistische Völkermord an den europäischen Juden) geprägt und stellen die Frage nach dem Verhältnis von Moderne und Gewalt jeweils neu.
Die einflussreichste Perspektive auf die Beziehung von Gewalt und Moderne ist sicherlich die aufklärerisch-liberale Auffassung: Gewalt ist das Außen der sozialen Ordnung, sie ist der Gegensatz zu moderner Gesellschaft, Staat, Recht und Vernunft. Schon bei Thomas Hobbes steht vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen der europäischen Religions- und Bürgerkriege des 17. Jahrhunderts Gewalt, ihre Vermeidung und die Befriedung der Gesellschaft im Mittelpunkt seiner gesellschaftstheoretischen Überlegungen. Das Thema Gewalt versus moderne Gesellschaft bleibt in der neuzeitlich-modernen Reflexion über Staat und Gesellschaft zentral und wird in der Aufklärung optimistisch gedeutet: Fortschreitende Industrialisierung und Demokratisierung führen zur Abnahme von Gewalt. Dieses Selbstverständnis bleibt - als Zivilisations- und Modernisierungstheorie neu formuliert - bis heute einflussreich: Zunehmende Modernisierung und Zivilisierung, die Etablierung des staatlichen Gewaltmonopols, die Verlängerung von Handlungsketten, wachsende soziale Differenzierung und zunehmende Affektkontrolle führen zu einem Rückgang an innergesellschaftlicher Gewalt.
Aus dieser Perspektive liegt es nahe, in modernen Gesellschaften dennoch auftretende Gewalt bagatellisierend auszublenden oder aber dramatisierend als Rückfall in die Barbarei zu deuten. Die Rede von der plötzlichen Heimsuchung, vom schicksalhaften Hereinbrechen von Gewalt, vom irren Täter, aber auch die Rede von erhöhter Gewalttätigkeit aufgrund kultureller Prägungen in einer nicht oder nicht vollständig modernisierten Gesellschaft sind Beispiele dafür, wie das Phänomen Gewalt außerhalb moderner Gesellschaften und ihrer sozialen Ordnung verortet wird. Da Gewalt kein Bestandteil von Modernität sein kann, bleibt es bei einer Betrachtung von Gewalt als Defizit, als Fremdkörper, der außerhalb der sozialen Ordnung steht.Über die Schwierigkeiten sozialwissenschaftlicher Theorie, das Verhältnis von Modernität und Krieg vor diesem Hintergrund zu analysieren
III. Sensibilisierung und Begriffsstrategien: Verunsicherungen der gewaltfreien Moderne
Das Selbstverständnis einer gewaltfreien Moderne erzeugt aus sich selbst heraus Verunsicherung und Destabilisierung, die zu immer neuen Dramatisierungen einer Zunahme von Gewalt führen. Dies geschieht auf zwei Ebenen:
Auf der ersten Ebene erfolgen langfristige Sensibilisierungsprozesse gegenüber Gewalt, die sich gerade aus der historischen Erfahrung des staatlichen Gewaltmonopols, seiner erfolgreichen Durchsetzung und seiner emphatischen Thematisierung im modernen Selbstverständnis ergeben. Denn es ist durchaus von einem kulturellen Wandel auszugehen, der als Gewöhnung an die Errungenschaften des Zivilisationsprozesses zu einer höheren Sensibilität gegenüber Gewalt führt.
Auf einer zweiten Ebene verbindet sich die definitorische Unschärfe von Gewalt mit der stark negativen Konnotation, die Gewalt im modernistischen Selbstverständnis erlangt. Beides zusammen führt zu einem strategischen Einsatz des Gewaltbegriffs in politischen und sozialen Diskussionen. Gewalt kann dabei als "Verdichtungssymbol" zur Bezeichnung nahezu beliebiger Handlungsweisen und Sachverhalte verwendet werden, um diese zu diskreditieren und zu skandalisieren. Indem Probleme als "Gewalt" bezeichnet werden, ist die moralische Empörung sicher, verstärken sich Solidaritätsgefühle der Ankläger und können neue Unterstützer mobilisiert werden."
Dabei scheinen sich zwei Typen der Skandalisierung herauszuschälen:
- erstens politische Kritik als Gewaltkritik, bei der spezifische soziale Beziehungen in modernen Gesellschaften als Gewaltverhältnisse entlarvt werden. Dieses Vorgehen lässt sich bei den meisten sozialen Bewegungen wie der Arbeiterbewegung, feministischen, antirassistischen Bewegungen und der Friedensbewegung feststellen, die jeweils zuvor "normale" soziale Verhältnisse als Gewaltverhältnisse aufgedeckt haben (siehe auch oben das Beispiel Gewalt in der Familie).
- zweitens Sozialkritik als Gewaltkritik, in der bestimmte strukturelle Merkmale moderner Gesellschaften als Ursachen für individuelles Gewalthandeln ausgemacht werden. Gewalt selbst ist dabei ein Symptom des Zerfalls moderner Gesellschaften. In einer kulturkritischen, konservativen Variante werden egoistischer Individualismus und der Verlust gemeinsamer Werte durch Pluralisierungsprozesse für den Zerfall moderner Gesellschaften verantwortlich gemacht. In einer sozialreformerischen Variante werden vor allem strukturell in modernen Gesellschaften auftretende sozioökonomische Benachteiligungen als Ursache für individuelles Gewalthandeln genannt.
Gemeinsam ist allen diesen Prozessen der Sensibilisierung und des strategischen Einsatzes des Gewaltbegriffs (als politische Kritik, als Sozialkritik in konservativer oder sozialreformerischer Absicht) eine Destabilisierung des Selbstverständnisses einer gewaltfreien Moderne. Gerade die Positionierung von Gewalt als negatives Zentrum der modernen Gesellschaft scheint den Rahmen dafür zu bilden, dass immer mehr Gewaltphänomene entdeckt werden bzw. Gewaltereignisse dramatisierend verdichtet sofort auf eine Gefährdung der sozialen Ordnung als Ganzes zu verweisen scheinen. Wenn aber jedes Gewaltphänomen einen Angriff auf die Gesellschaft darstellt, ruft dies zunächst das staatliche Gewaltmonopol auf den Plan, und der Ruf nach "Recht und Ordnung" wird laut. Inwieweit dies eine Lösung des Gewaltproblems oder nicht vielmehr seine Fortsetzung und Verstärkung bewirkt, ist fraglich
IV. Gewalt als Prinzip der Moderne
Je weiter diese Sensibilisierungen und Begriffsstrategien zur Aufdeckung von immer mehr Gewalt in der modernen Gesellschaft führen und je akuter die Zunahme der Gewalt wahrgenommen wird, desto mehr besteht die Tendenz, das fundamentale Verhältnis von Moderne und Gewalt umzukehren: Gewalt ist dann nicht mehr außerhalb der Moderne, allenfalls als Ausnahme bagatellisiert oder als Rückfall in die Barbarei dramatisiert. Gewalt wird vielmehr als inhärentes Grundprinzip moderner Gesellschaften verstanden, das aus der Mitte moderner Gesellschaften kommt. Hier ist es wichtig, eine "starke" und eine "schwache" Lesart dieser Gleichsetzung von Moderne und Gewalt zu unterscheiden.
1. Gleichsetzung von Moderne und Gewalt - "starke" Lesart
Die "starke" Lesart nimmt - in durchaus unterschiedlichen Ausrichtungen wie etwa Theodor W. Adornos/Max Horkheimers "Dialektik der Aufklärung" und Wolfgang Sofskys "Traktat über die Gewalt" - übereinstimmend an, dass Moderne und Zivilisation insgesamt und wesentlich eine Entfesselung von Gewaltpotenzialen verursachen.
Als Korrektur an einer verharmlosenden Analyse einer gewaltfreien Moderne, die NS-Verbrechen, aber auch koloniale Unterdrückung nur als Ausnahmen und "Betriebsunfälle" moderner Gesellschaften oder als Ausdruck fehlender Modernisierung deuten kann, ist diese Lesart einer gewaltgetränkten Zivilisation und Moderne wichtig. Ihre totale, reflexhafte Umkehrung der These einer gewaltfreien Moderne zur These von der Barbarei aller Zivilisation schießt aber über das Ziel hinaus: Die unterschiedlichsten Gewaltphänomene werden in universalgeschichtlicher Perspektive als Verkörperung einer fundierenden Gewalt, als bloße Archetypen oder Ausprägungen des zentralen Prinzips subsumiert. Derart dramatisiert scheint Gewalt überall drohend und bleibt doch zugleich als Phänomen ausgeblendet. Gewalt wird zu einem abstrakten Prinzip, bei dem eine Betrachtung der historischen, kulturellen und sozialen Umstände konkreter Gewalttaten nicht mehr notwendig erscheint. Der Blick auf Gewaltphänomene und ihre produktive Bearbeitung, auch im Sinne einer Suche nach Problemlösungen, wird dabei systematisch verstellt.
2. Gleichsetzung von Moderne und Gewalt - "schwache" Lesart
Die "schwache" Lesart einer gewalthaltigen Moderne steht gewissermaßen im Übergang zwischen den beiden extremen Alternativen. Sie resultiert aus der oben dargestellten Verunsicherung des modernistischen Selbstverständnisses, die sich aus dramatisierenden Begriffsstrategien vor allem in sozial- oder kulturkritischer Absicht ergibt. Wenn Gewaltphänomene mit Verweis auf Deprivationsprozesse, also auf soziale und ökonomische Benachteiligung und die Ungleichheitsstrukturen moderner Gesellschaften erklärt werden, dann wird die Ursache für Gewalt zwar in der Mitte moderner Gesellschaften verortet - zugleich lassen sich diese Analysen aber so lesen, dass es ihnen um die Kritik einer bestimmten (z. B. neoliberalen) Variante der Modernisierung geht. Damit steht eine solche "schwache" Lesart einer gewaltförmigen Moderne im Übergangsbereich zum Selbstverständnis einer gewaltfreien Moderne, das trotzdem Fundament der Analyse bleibt.
V. Aktuelle Gewaltforschungen: Gewalt aus der Mitte der Gesellschaft
Die "schwache" Lesart einer der Moderne innewohnenden Gewalt findet sich auch bei Desintegrations-Diagnosen. Diese betrachten als Ursache von Gewalt nicht nur reale oder wahrgenommene Benachteiligung, sondern auch die Überspitzung egoistischer Werte bzw. den Zerfall integrierender Werte sowie die Auflösung sozialer Zusammenhänge infolge von Modernisierungs- und Globalisierungsprozessen. Je dramatisierender aber die Ursache-Wirkung-Beziehung - Deprivations- und Desintegrationsprozesse als Ursache von Gewalt - dargestellt wird, desto mehr nähert die "schwache" Lesart sich der "starken" an: Die pessimistische Kritik an der Gesellschaft überlagert die Suche nach produktiven Alternativen, und der Eindruck setzt sich durch, moderne Gesellschaften überhaupt führten zu einer scheinbar unausweichlichen regelrechten Explosion der Gewalt.
Diese Spannung zwischen der Vorstellung einer gewaltfreien und einer gewaltdurchtränkten Moderne führt zu charakteristischen Verschränkungen von Ausblendungen und Dramatisierungen von Gewalt in der empirischen Gewaltforschung. Da sich das tatsächliche Handeln der Befragten nur schwer in Fragebögen dokumentieren lässt, werden vor allem Einstellungs- und Orientierungsmuster der Interviewten erfragt und analysiert. Die Erforschung von Gewalthandeln tritt in den Studien zugunsten der aufwändigen Erforschung von individuellen Einstellungen wie "Gewaltakzeptanz" und "Gewaltbereitschaft" zurück. Die wenigen Fragen, die dem eigenen Gewalthandeln gelten, sind in stereotypen "Um-zu"-Formulierungen gehalten, die zweckorientierte, instrumentalistische Motive für Gewalthandeln immer schon alternativlos voraussetzen, d.h., andere als rational kalkulierende Motive bleiben ausgeblendet. Dies erweist sich als Dramatisierung von Gewalt, weil das Merkmal "Gewaltbefürwortung" wesentlich häufiger verbreitet ist als das Merkmal "Gewalttätigkeit". So äußern (je nach Formulierung der Frage) bis zu 60 Prozent der Befragten gewaltakzeptierende Haltungen, dagegen geben ca. 12 Prozent an, im vergangenen Jahr körperliche Gewalt angewandt zu haben. Entsprechend der variierenden Frage verändert sich auch der Anteil der "Gewaltbefürworter" z. T. drastisch und wird zu einer beliebigen Zahl. Methodisch unzulässigerweise wird der Unterschied zwischen Einstellungen und Verhalten der Individuen verwischt: Die Zustimmung zu Aussagen über die Normalität von Gewalt wird schlicht als Gewaltbefürwortung und gänzlich irreführend sogar als Gewalttätigkeit interpretiert.
Als Ursache von Gewalt werden in Form von gesellschaftlichen Desintegrationsprozessen regelmäßig allgemeine gesamtgesellschaftliche Strukturveränderungen angenommen. Unklar bleibt dabei jedoch erstens, inwiefern die kulturpessimistisch gefärbte Diagnose "Desintegration" überhaupt haltbar ist, und zweitens, auf welche Weise sich solche makrostrukturellen Ursachen auf der Ebene der Akteure auswirken. Denn häufig hat es den Anschein, als verschwinde Gewalthandeln zwischen individuellen Einstellungen und gesamtgesellschaftlichen Strukturen. Indem für jegliches Gewalthandeln ein diffuses Ensemble allgemeiner sozialer Strukturprobleme (eben Desintegration) als Ursache angenommen wird, erscheinen gewaltförmig Handelnde immer als passive Opfer sozialstruktureller Prozesse.
Desintegrationstheorien basieren auf der Vorstellung eines romantisch idealisierten Normalzustandes einer wohlgeordneten, homogenen, durch gemeinsam geteilte Normen integrierten Gesellschaft, die in einer Art Gleichgewichtszustand verharrt. Jede Form sozialer Wandlungs- und Pluralisierungsprozesse erscheint als Gefahr, als drohende Auflösung und Zerfall sozialer Ordnung. Abgesehen von der Frage, wie (nicht zuletzt historisch) realistisch dieses Idealbild einer "integrierten Gesellschaft" ist, verstellt diese Perspektive systematisch den Blick für die Analyse sozialer Wandlungsprozesse, die ja nicht nur in der Auflösung sozialer Ordnung bestehen, sondern auch in deren Umformung und Neubildung.
Diese Ausblendung von Reintegrationsphänomenen wird am Beispiel der Analyse von Jugendszenen deutlich: "Es findet nach wie vor eine rapide Flucht aus den Institutionen, zumal den Organisationen statt: seien es Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Jugendverbände etc. ... Der größte Teil etwa der Jugendlichen demonstriert es beispielhaft: Ihr Agieren, gleich welcher Art, findet zunehmend jenseits (verbindlicher) Institutionen in (unverbindlichen, fluiden) Szenen statt. Damit wird ein Kohäsionsproblem als Variante mangelnder Integration sichtbar."
Durch die Ausblendung von Reintegrationsprozessen und von (in diesem Sinne) "produktiven" Wirkungen von Gewalt wird nicht nur der Blick für die Analyse von Gewaltphänomenen verstellt. Die Defizitperspektive führt auch zu einer Dramatisierung und Totalisierung der Desintegrations-Diagnose, und damit zu einem perspektiv- und alternativenlosen Panorama moderner Gesellschaft. Vollends fragwürdig wird das Desintegrationsmodell dadurch, dass teilweise gar keine statistischen Zusammenhänge zwischen "Desintegration" und "Gewalttätigkeit" aufgewiesen werden können bzw. der Anteil der "Desintegrierten" unter den Befragten immer weitaus höher ist (etwa sechs von zehn Befragten), als der Anteil der "Gewalttätigen" und "Gewalt Befürwortenden" (etwa einer von zehn Befragten).
Nicht zuletzt die Unterschätzung der Repräsentationen von Gewalt führt zu einem Ineinandergreifen von Ausblendung und Dramatisierung. So wird im Fragebogen immer schon vorausgesetzt, dass Gewalt eine einheitliche objektiv messbare Größe ist und alle Befragten etwa unter "absichtsvoll geschlagen oder verprügelt" das Gleiche verstehen. Kontext, Situationen, Intensität, Verlauf und Folgen von Gewaltereignissen und Gewalthandeln spielen keine Rolle, und es bleibt unklar, was genau gemessen wird (z. B. Rauferei auf dem Schulhof oder Messerstecherei, rassistische Menschenjagd oder der Kampf von Jugendgruppen). Zugleich öffnet sich durch diese Vagheit das Feld für Spekulationen, die die Grenze zur Stigmatisierung überschreiten, wie in einer Studie über türkische Jugendliche und ihre vergleichsweise höhere Gewalttätigkeit und -bereitschaft.
VI. Alternativen
1. Repräsentation von Gewalt, Gewaltapologien
Auf der Suche nach alternativen Konzepten zur Analyse von Gewalthandeln und Gewaltereignissen gilt es, zwei Missverständnisse zu vermeiden: Erstens die Folgerung, Gewalt sei nichts anderes als ein Konstrukt, so dass es reiche, die verschiedenen Repräsentationen (Definitionen, Dramatisierungen, Stigmatisierungen etc.) von Gewalt zu studieren (und zu entlarven), während man über Gewalt selbst als Phänomen keine Aussage treffen könne. Eine solche, in der Kriminologie als labeling approach bekannte Perspektive, die sich auf die Untersuchung der institutionell (durch Polizei, Gerichte, Medien) produzierten Grenzziehungen zwischen "normal" und "abweichend"/kriminell beschränkt, blendet die Ebene des Handelns, der Akteure und ihrer Körperlichkeit aus. Nicht zuletzt Schmerz, Verletzungen und bisweilen der Tod des Opfers zeigen, dass das Phänomen Gewalt nicht in bloßen Konstruktions- und Definitionsprozessen aufgeht. Die Untersuchung von Repräsentationen und Konstruktionen von Gewalt bildet zwar einen notwendigen Bestandteil der Analyse von Gewalt, ist aber alleine nicht ausreichend.
Ein zweites mögliches Missverständnis betrifft die Rede von "produktiven" oder "positiven" Wirkungen von Gewalt (im Gegensatz zu der oben kritisierten Defizitperspektive auf Gewalt). Steht der labeling approach immer im Verdacht der Verharmlosung von Gewalt, so gerät man hier in die Nähe einer Verherrlichung von Gewalt. Denn eine dritte Lesart dieses Themas Gewalt und Moderne besteht genau in der Vorstellung einer positiven Gewalt, die gegen die Moderne gerichtet ist. Wie in der modernistischen Vorstellung einer gewaltfreien Moderne sind auch hier Gewalt und Moderne einander entgegengesetzt, nur die Bewertungen sind jeweils umgekehrt: Eine spontane, impulsive, reinigende, rauschhafte, nicht zweckrationale Gewalt ("violence") soll die in ihrer Rationalität und Dekadenz erstarrte bürgerliche Gesellschaft und ihre bürokratische Staatsgewalt ("force") überwinden. Derartige Mythologisierungen und Apologien von Gewalt wurden und werden von links wie rechts geäußert.
2. Die Ambivalenz von Moderne und Gewalt
In einer vierten Lesart wird das Verhältnis von Moderne und Gewalt als flexibel und spannungsreich verschränkt gefasst. Weder steht Gewalt außerhalb moderner Gesellschaften (wie in der ersten Lesart), noch ist sie das Prinzip und der Urgrund moderner Gesellschaften (wie in der zweiten Lesart), noch ist es verantwortbar und sinnvoll, einen antimodernen Rausch der Gewalt zu propagieren (wie in der dritten Lesart). Vielmehr stehen Art, Ausmaß und Form spezifisch moderner Formen von Gewalt und verschiedene Arten der Verknüpfung von Gewalt und Modernität im Mittelpunkt kontextorientierter Forschungen.
Diese Annahme einer ambivalenten, spannungsreichen Beziehung zwischen Gewalt und moderner Gesellschaft kann die falschen Alternativen einer Ausblendung und/oder Dramatisierung von Gewalt umgehen. Am vielversprechendsten sind Studien, die Gewalthandeln in verschiedenen Gruppenkontexten vergleichend rekonstruieren.
Zudem werden Zusammenhänge zwischen dem Gewalthandeln der Akteure und deren Repräsentation in der Öffentlichkeit und in den Medien deutlich. Dies betrifft die spezifischen Aneignungen medial und global verbreiteter popkultureller Stile durch Jugendgruppen vor Ort. Nicht zuletzt auf dieser Ebene setzen basale Differenzierungen ein, die eine einfache Gleichsetzung von Stilen (Skinheads, Death Metal, HipHop, Grafitti etc.) mit einem bestimmten Handeln (z. B. Gewalt) verbieten. Repräsentationen von Gewalt spielen aber auch eine Rolle, wenn es um die Anbindungen einer lokalen Öffentlichkeit an das Gewalthandeln Jugendlicher geht. Auch hier lassen sich von der offenen Duldung und Ermutigung über die Instrumentalisierung des Gewalthandelns (als Türsteher, Saalordner) oder das schlichte Ignorieren bis hin zur Stigmatisierung sehr unterschiedliche (und stets folgenreiche) Reaktionen finden. Darüber hinaus lassen sich die massenmedialen Dramatisierungen "gefährlicher Straßen" und Viertel rekonstruieren, bei denen nicht selten das Phänomen erst vor der Kamera und gegen Bezahlung durch Jugendliche inszeniert wird.
3. Fazit
Um die Verschränkungen von Gewalthandeln und seinen diskursiven Repräsentationen analysieren zu können, rückt die hier unterschiedene vierte Lesart des Verhältnisses von Gewalt und Modernität in den Vordergrund. Erst dieser Rahmen, der von einer ambivalenten Beziehung zwischen Moderne und Gewalt ausgeht, ermöglicht die kontextspezifische Erforschung von Gewaltphänomenen, ohne pauschalisierende Ursachenvermutungen und jenseits verharmlosender Ausblendung, kulturpessimistischer Dramatisierung oder unhaltbarer Verherrlichung von Gewalt. Auf diese Weise können dann spezifisch moderne Formen von Gewalt differenziert erfasst werden und es ermöglichen, aus dem Gewaltdilemma der Moderne auszubrechen, das Jan Philipp Reemtsma in die Worte fasst: "Die Moderne nun ist vom Thema der Gewalt einerseits besessen, andererseits hat sie beträchtliche Formulierungsschwierigkeiten dabei."
Internetverweise des Autors:
Externer Link: Arbeitsgemeinschaft sozialwissenschaftliche Forschung und Weiterbildung (Universität Trier)
Externer Link: Hamburger Institut für Sozialforschung
Externer Link: Institut für Konflikt- und Gewaltforschung (Universität Bielefeld)
Externer Link: Zentrum für Konfliktforschung (Universität Marburg)
Externer Link: Forschungen zu Jugendkulturen und Gewalt