Einleitung
Der 11. September 2001 hat sich unserem Gedächtnis als eine Zäsur eingeprägt. Das Nachdenken über Gewalt mit ganz neuen Ansprüchen und Erwartungen wird durch die Terroranschläge unabdingbar. Das westliche Bündnissystem, in allen seinen institutionellen Regelungen an der Ortsfestigkeit und staatlichen Souveränität von Feindsystemen orientiert, findet sich plötzlich in der prekären Situation, mit der Erklärung des Verteidigungsfalles Suchtrupps ausschicken zu müssen, die den möglichen Feind aufstöbern. Die Clausewitz'sche Definition des Krieges als der Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln und als eine Art Handel zwischen Nationen beginnt sich zu zersetzen.
Es ist wohl damit zu rechnen, dass wir es in Zukunft mit einer Privatisierung der Kriege zu tun haben werden. Der souveräne europäische Territorialstaat bildete sich seinerzeit in dem Maße heraus, wie er imstande war, das Gewaltmonopol gegenüber den religiösen Bürgerkriegsparteien an sich zu reißen. Hier spricht man lieber von legitimer Gewalt im Unterschied zu bloß physischer Gewaltanwendung.
Der gegenwärtige Streit um ein UN-Mandat für den Krieg gegen den Irak dreht sich um die Frage, was bloße Ausübung des Machtmonopols des Einzelstaates bedeutet oder was durch Zustimmungsbereitschaft der Völkergemeinschaft rechtliche und moralische Legitimation erhält. Aber die Gewaltproblematik der Gegenwart ist mit dieser Wirklichkeitsschicht kollektiven Handelns nicht ausgeschöpft. Hier geht es auch um die öffentliche Beratung und Gewichtung von Entscheidungsinstanzen. Wer den Fernseher anstellt, wird in spätestens fünf Minuten eine Gewaltszene präsentiert bekommen, wenn nicht in Nachrichtensendern, dann in Spielfilmen oder Dokumentationen. Gewalt scheint so maßgeblich unsere Alltagswahrnehmung zu bestimmen, dass es schwer fällt, die Grenzpfähle zu den gewaltfreien Zonen des Lebenszusammenhangs einigermaßen trennscharf zu setzen.
Ich habe von legitimer Gewalt einer durch freie Zustimmung entstandenen staatlichen Ordnung gesprochen. Hier ist noch der Legitimationsherd traditioneller Kriege zu lokalisieren. Aber die Staaten in der Gestalt des 19. und frühen 20. Jahrhunderts beginnen abzusterben; so sickert allmählich das Gewaltmonopol in den gesellschaftlichen Boden, und die Gewaltmittel werden im Marktgeschehen zu normalen Waren. So lädt sich Gewalt in privatisierter Kriegsgestalt mit archaischen Energien auf: allerdings auf hohem technologischen Niveau. Das betrifft nicht nur den islamischen Fundamentalismus, sondern zunehmend auch religiös angereicherte Feindschaftserklärungen des Westens. Wo die kolonialen Reißbrett-Staaten zerfallen, stellen sich bindende Näheverhältnisse ohnehin nur noch durch Rückkehr zu den archaischen Stammesverbänden her.
Es ist gewiss ein trauriger Tatbestand: In der Zeit von 1945 bis Mitte der neunziger Jahre gab es weltweit 184 Kriege. Für 135 dieser Kriege existieren Opferzahlen; nach Regionen aufgeschlüsselt sind in Lateinamerika 396 000 Tote zu beklagen, in Europa 238 000, im Vorderen und Mittleren Orient 1,8 Millionen, in Asien 4,6 Millionen; der Kontinent mit den meisten Kriegstoten, nämlich 5,5 Millionen, ist das Afrika südlich der Sahara. Bemerkenswert an dieser Statistik ist nun, dass mehr als zwei Drittel dieser Kriege innere Kriege sind, also Bürgerkriege, Revolutionen, Konterrevolutionen, Stammesfehden usw. Das Kriegsgeschehen wird also seit 1945 vom Typus des inneren Krieges beherrscht.
Was bedeutet das für eine mögliche Antwort auf Fragen, die um das Gewaltthema kreisen? Ich halte strikte Kausalitätsketten, die Gewaltmotive mit Gewalthandlungen verknüpfen, für äußerst fragwürdig. Das kann jedoch nicht heißen, auf Bedingungsanalysen ganz zu verzichten und alles Einzelbeschreibungen zu überlassen. Auf welchen Schlachtfeldern die 5,5 Millionen Menschen in Afrika getötet wurden, in Hungerregionen, durch eine marodierende Soldateska, durch Stammesrassismus, das muss im Einzelnen beschrieben und erklärt werden; dass aber dieser gebeutelte Kontinent seit den siebziger und achtziger Jahren (und verschärft durch die Globalisierung) jetzt an einem Punkt angekommen ist, an dem er praktisch vom Welthandel abgekoppelt ist (vor zwölf Jahren betrug sein Anteil noch vier, jetzt nur noch 0,3 Prozent), das kann kein vernünftiger Mensch als zufällig abtun. Die postkolonialen ökonomischen Strukturen sind ruiniert, korrupte Klassen und Stämme haben sich die Bodenschätze angeeignet, haben die Anfänge demokratischer Ordnungen ausgehöhlt und damit diesen Kontinent lebensunfähig gemacht. Auch die Naturkatastrophen passen in dieses Bild ruinierter Produktions- und Arbeitsstrukturen. Wo Gesellschaftsordnungen auseinander brechen, bevor sie sich richtig entwickeln konnten, liegt Gewalt als Ausweg gleichsam in der Luft; es entsteht eine Gewaltatmosphäre, in der nach friedlichen Kompromisslösungen bei Konflikten gar nicht erst gesucht wird.
Ich sehe darin ein allgemeines Problem der Beziehung zwischen Gewalt und Gesellschaft, keineswegs beschränkt auf rückständige und unterentwickelte Regionen. Wer ausschließlich auf die Gewaltverhältnisse jenseits des westeuropäisch-amerikanischen Kosmos blickt, der wird die hiesigen Verhältnisse als im Grunde gewaltfrei betrachten und das Gewaltproblem ganz vom Zentrum in die gesellschaftliche Peripherie drängen. Das würde jedoch die westeuropäische Geschichte nicht nur verfälschen, sondern auch die gesellschaftlichen Gesteinsverschiebungen außer Betracht lassen, die nach Art eines Quantensprungs plötzlich zum Umkippen einer Sozialordnung führen können. Es ist gerade ein halbes Jahrhundert her, dass wir im hochzivilisierten Westen über 50 Millionen Tote zu beklagen hatten; und es waren nicht die marodierenden Horden der SA und SS, welche die nationalsozialistische Gewaltgesellschaft am Leben hielten, sondern es war das wohlgeordnete System aus Militär, Polizei, Bürokratie, Lehrern, Hochschullehrern usw., die alle ihren Teil der Gewalt zu diesem System beitrugen.
So ist in unserer Gesellschaft die Gewaltfrage neu zu stellen. Christa Wolf bezeichnet in ihrer Kassandra-Erzählung präzise die Fragerichtung: "Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg. Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen. In Stein, in Ton eingraben, überliefern. Was stünde da? Da stünde unter anderen Sätzen: Lasst euch nicht von den Eigenen täuschen." Wo beginnt also der Vorkrieg? Wo liegen die Wurzeln dafür, dass schließlich Gewalt als Ausweg aus Krisen erwogen und am Ende sogar Entscheidungen für einen richtigen Krieg getroffen werden?
Mit einiger Sicherheit kann ich sagen, dass ein auf ausgleichender Gerechtigkeit beruhendes System gesellschaftlicher Arbeit, in dem die Balance von Lohn und Leistung bewahrt wird, ein guter Nährboden für innergesellschaftliche Friedenssicherung ist. Wenn in einer Gesellschaft dagegen ein sozialdarwinistischer Überlebenskampf geführt wird, in dem es nur Verlierer oder Gewinner gibt, entsteht ein gesellschaftliches Grundklima existenzieller Angst. Enge, das Gefühl der Beklemmung und der Ausweglosigkeit, ist ein Gewalt auslösender Faktor. Und es ist gleichzeitig Beziehungskälte, die Menschen die Alltagsenergien nimmt, weil sie ihre Solidarleistungen einfriert oder auf Katastrophenreaktionen ablenkt. Schließlich sind Gewalt fördernde Elemente darin zu sehen, dass die soziale Erosion der gemeinschaftlichen Bindekräfte fortschreitet. Wo Gesellschaft als Ganzes, das der Pflege und der sorgsamen Beachtung bedarf, aus dem Orientierungsfeld verschwindet und nur noch die Summe von Einzelindividuen übrig bleibt, zersetzen sich allmählich auch die Gemeinschaft bildenden Tugenden. Was ich für das Gemeinwesen, für eine "Ökonomie des ganzen Hauses" einsetzen könnte, wird als eine Art Fremdanspruch betrachtet. Ich gebe etwas ab, aber nicht in dem Sinne, dass es meine eigene Gesellschaft ist, zu der ich etwas beitragen will.
In der 68er-Bewegung ist viel Gedankenarbeit auf die Grenzmarkierungen von Gewalt verwendet worden. Es ging darum, die existierenden Gewaltformen in ihrer Reichweite zu erfassen; da tauchen Definitionen auf, die allerdings immer auch Rechtfertigungs- und Widerlegungsempfehlungen enthalten: Gewalt gegen Sachen, Gewalt gegen Personen, sublime und manifeste Gewalt, strukturelle Gewalt, staatliches Gewaltmonopol usw. Diese Differenzierungen haben ihren guten Sinn; weil sie auch ermöglichen, Täter- und Opferperspektiven auseinanderhalten: Denn nicht selten ist die Vertiefung in die Psychologie des Täters, der ohnehin größere Aufmerksamkeit erfährt, mit Verständnisbereitschaft verknüpft, während das Opfer eher Mitleidsaffekte bewirkt, weil Wehrlosigkeit in dieser Gesellschaft in der Bewertungsskala weit unten rangiert.
Ich nehme dieses Wechselverhältnis zwischen Täter und Opfer auf, um es auf ein scheinbar völlig gewaltfrei-zivilisatorisches Beziehungsverhältnis anzuwenden: auf die Alltagserfahrungen von Arbeit, Arbeitslosigkeit und jene vielfältigen Tätigkeitsformen, von der die Gesellschaft lebt, die aber unterhalb der Ebene der Erwerbsarbeit liegen. Um es ohne Umschweife und in aller Härte zu sagen: Ich bin der Überzeugung, dass Arbeitslosigkeit ein Gewaltakt ist, ein Anschlag auf die körperliche und seelisch-geistige Integrität der betroffenen Menschen. Sie ist Raub und Enteignung der Fähigkeiten und Eigenschaften, die innerhalb der Familie, der Schule und der Lehre in einem aufwändigen und mühsamen Bildungsprozess erworben wurden und die jetzt in Gefahr sind, abzusterben und schwere Persönlichkeitsstörungen hervorzurufen. Einer, der sich im Milieu der Zukurzgekommenen und Ausgestoßenen gut auskannte, nämlich Heinrich Zille, hat gesagt: Man kann einen Menschen mit einer Axt genauso töten wie mit einer Wohnung. Wenn Arbeitslosigkeit ein Gewaltakt ist, dann müsste eigentlich in den Medien, in denen Gewalt einen sehr hohen Nachrichtenwert besitzt, Arbeitslosigkeit unter den Gewaltnachrichten zu finden sein. Dass dies nicht der Fall ist, muss etwas zu tun haben mit Formen der Selbstverschleierung der Wirklichkeit; irgendwie gilt doch das öffentliche Eingeständnis von Gewalt in dieser Gesellschaft als eine Form des Legitimationsverlustes, der möglichst überdeckt werden muss.
Gehen wir davon aus, dass jedenfalls von der Opferseite Arbeitslosigkeit als ein Gewaltakt wahrgenommen wird: Um welche Form der Gewalt handelt es sich dabei? Ist es sublime Gewalt oder strukturelle Gewalt? Der Arbeitslose, der seinen Job verloren hat, ist zweifellos Opfer. Aber wer ist der Täter? Sind es die Gesetze der Globalisierung, ist es die Aktienbilanz oder der vorauseilende Gehorsam gegenüber einer betriebswirtschaftlichen Kalkulation, die größeres Übel vermeiden soll?
Wir befinden uns inmitten einer epochalen gesellschaftlichen Umbruchsituation; alte Wertvorstellungen und Gesellschaftsbilder haben ihre Gültigkeit verloren, neue sind noch nicht da, werden aber intensiv gesucht; wir befinden uns also in einer kulturellen Situation intensiver Suchbewegungen. Der Soziologe Emile Durkheim hat für solche gesellschaftlichen Umbruchsituationen den Begriff des moralischen Vakuums geprägt. Dieser trifft nicht alles, womit wir es heute zu tun haben. Er bezeichnet aber eine Dimension, die wir einbeziehen müssen, wenn wir das Verhältnis von Gewalt und Gesellschaft betrachten. Es ist die Subjektseite der Verhältnisse, die Frage danach, wie sich die Menschen in ihrem Gemeinwesen orientieren, welche Bindungen und Verpflichtungen sie einzugehen bereit sind.
Wie der "Vorkrieg" beginnt auch die Gewaltprävention (um diesen technischen Ausdruck für die Minderung der Gewaltbereitschaft hier zu benutzen) in den Alltagsverhältnissen. Wie ist der Boden zu bearbeiten, auf dem sich gewaltbereite Einstellungen und Denkweisen herausbilden? Gesetze und Verbotsvorschriften gehören sicherlich dazu; aber sie reichen nicht aus. Gewaltprävention bedeutet ja die Förderung von grundlegenden Charaktereigenschaften, die es dem Menschen ermöglichen, sich urteilsfähig und angstfrei in der Gesellschaft zu bewegen. Wenn also heute der flexible Mensch als Ideal gefeiert wird, dann ist viel Kraft auf die Gegentendenzen zu richten, auf Verwurzelung und Bindungsfähigkeit. Der mündige, innengeleitete Mensch ist weniger gewaltanfällig als der leistungsbewusste Mitläufer, der allseits verfügbare Mensch.
Wo die Selbstwertgefühle der Menschen bestärkt werden, ohne dass sie mit der Entwertung des Anderen einhergehen, ist zu erwarten, dass die Suche nach Anerkennung nicht über Gewalt verläuft. Insofern gibt es Regeln, an denen sich Gewaltprävention orientieren kann; die Erweiterung des Lebenszuschnitts der Menschen, die Herstellung von Kommunikationsfähigkeit, die Schaffung von Bedingungen, unter denen Arbeit auch Selbstverwirklichung sein kann; das sind Bauelemente für eine Gesellschaft, in der Gewaltbereitschaft in engen Grenzen gehalten werden kann. Wenn ich der Arbeit einen hohen Stellenwert im Kampf um Anerkennung und in der Befestigung von Selbstwertgefühlen gebe, dann ist es gleichzeitig nötig, eine Wirklichkeitsschicht hervorzuheben, die in diesem marktvermittelten System der Erwerbsarbeit und der konkurrierenden Leistungsbesessenheit in der Warenproduktion häufig unterschlagen wird. Ich meine jene Tätigkeitsbereiche, von denen Lebensfähigkeit und Friedenszustand jeder Gesellschaft abhängen, obwohl es dafür keine Erwerbsarbeitsplätze gibt. Man kann hier von Beziehungsarbeit sprechen; sie bezeichnet den pfleglichen Umgang mit der Natur und mit den Menschen. Diese Form der Arbeit, die sich auf die Bildung einer autonomiefähigen Persönlichkeit richtet, kann nur gelingen, wenn wir das Problem des sozialen Zusammenhalts der Gesellschaft wieder in den Vordergrund rücken und die Menschen als gesellschaftliche Lebewesen begreifen. Nur dadurch bekäme Verantwortungsbereitschaft für das Gemeinwesen wieder Überzeugungskraft.
Ich habe betont, dass Gewalt Produkt von Lebensenge und Angst ist. Das ist nicht in einem beschränkt materiellen Sinne zu verstehen; die Verarmung der Bildungsverhältnisse gehört ebenso dazu wie die Verarmung des emotionalen Haushalts von Menschen. Die Todesschützen von Erfurt und Littleton kamen aus Mittelschichtfamilien; weder in den Familien noch in der Umgebung wusste man, was in ihnen vorgeht, wie es in ihrem Inneren aussieht. Die "Einbeziehung des Anderen", die sinnverstehende, vielleicht zeitaufwendige Deutung seiner Gefühle und seiner Handlungen, scheinen ein wesentliches Element der Aufhebung jener sozialen Kälte zu sein, die für Gewaltanwendungen in der Gesamtgesellschaft wie im einzelnen Individuum charakteristisch ist. Selbst wenn wir das Gewaltpotenzial, das in jedem Menschen schlummert, nicht im Einzelnen entziffern können, sind doch kollektive Leistungen notwendig, die gesellschaftlichen Zustände friedensfähiger zu machen.