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Politische Bildung nach der Jahrtausendwende Perspektiven und Modernisierungsaufgaben

Wolfgang Sander

/ 25 Minuten zu lesen

Unbeschadet einer erfolgreichen Entwicklung in den letzten 50 Jahren steht die politische Bildung heute vor einer besonderen Aufgabe: Sie muss ihr Selbstverständnis und ihre Praxis stärker professionalisieren.

I. Politische Bildung zwischen demokratischer Kontinuität und gesellschaftlichem Wandel

Ein gutes halbes Jahrhundert nach Gründung der Bundesrepublik kann auch die politische Bildung in Deutschland auf eine Erfolgsgeschichte zurückblicken. Erstmals in der deutschen Geschichte ist es gelungen, demokratische politische Bildung in der pädagogischen Praxis zu verankern, institutionell zu sichern und wissenschaftlich-konzeptionell zu untermauern. Es kann mit guten Gründen vermutet werden, dass die politische Bildung in ihren schulischen und außerschulischen Praxisfeldern einen wichtigen Anteil an der Beheimatung der Demokratie in Deutschland hat. Dies dürfte auch für Ostdeutschland gelten, wo es nach 1989 dank großer Anstrengungen der Bundeszentrale für politische Bildung, vieler westdeutscher Referenten und vor allem einer großen Zahl engagierter Lehrerinnen und Lehrer aus den neuen Bundesländern gelungen ist, binnen weniger Jahre ein neues Fach für die demokratische politische Bildung in den Schulen aufzubauen.

An den Hochschulen konnte sich die Politikdidaktik als junge Wissenschaftsdisziplin auf einer paradigmatischen Grundlage entwickeln, welche die politische Orientierung an der Demokratie, den fachlichen Bezug auf die Sozialwissenschaften und die Traditionen einer aufklärerischen, subjektorientierten Bildungstheorie miteinander verbindet. In den vergangenen Jahrzehnten hat diese junge Wissenschaftsdisziplin schwere Krisen überstanden - von den politischen Konflikten im Umfeld der 68er-Bewegung bis zu einem Beinahezusammenbruch ihrer Infrastruktur infolge der Lehrerarbeitslosigkeit in den achtziger Jahren. In den letzten Jahren aber ist ein Neuaufbruch zu verspüren: An den Universitäten hat der erste Generationswechsel in der Politikdidaktik stattgefunden, mehrere Fachzeitschriften für die politische Bildung wurden in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre gegründet, die Tagungskultur hat sich belebt, neue Theorieansätze stehen zur Diskussion, eine kleine Tradition empirischer Fachunterrichtsforschung konnte sich entwickeln, mit der Gründung der wissenschaftlichen "Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung" (GPJE) hat sich das Fach auch wissenschaftspolitisch positioniert.

Eine Erfolgsgeschichte also - einerseits. Wechselt man die Perspektive von der großen historischen Linie zu den Schwierigkeiten und Widerständen in der alltäglichen Praxis, so zeigt sich das sprichwörtliche Glas dann doch als erst halb voll. In der Schule ist die Stellung des Faches für politische Bildung vielerorts noch immer prekär; Stundenkürzungen trotz eines ohnehin schon sehr geringen Stundenanteils sowie ein überaus hoher Anteil fachfremden Unterrichts haben den Politikunterricht in manchen Bundesländern an den Rand des schulischen Lernangebotes gedrängt. Dass es auch 52 Jahre nach dem halbherzigen ersten KMK-Beschluss zur politischen Bildung, in dem die Kultusminister mangels eines klaren Konzepts den Ländern die Benennung des Faches freistellten, noch immer keine bundesweit einheitliche Fachbezeichnung für den (behelfsweise in Fachkreisen so bezeichneten) Politikunterricht gibt, sollte inzwischen eher Stoff für ein bildungspolitisches Kabarett bieten. In der außerschulischen politischen Bildung konnte zwar eine im internationalen Vergleich gute Infrastruktur für das Fachgebiet aufgebaut werden - auch das ist gewiss Teil der Erfolgsgeschichte politischer Bildung nach 1945. Aber während die außerschulische Bildung insgesamt expandiert, stagniert der Anteil der politischen Bildung in den außerschulischen pädagogischen Praxisfeldern auf niedrigem Niveau.

Gleichzeitig ist die politische Bildung am Beginn des 21. Jahrhunderts mit einer gesellschaftlichen Umbruchs- und Übergangssituation konfrontiert, die sie zu neuen Perspektiven bei der Definition ihres Selbstverständnisses und ihrer Aufgaben zwingt. Diese Umbruchs- und Übergangssituation hat viele Facetten, und sie führt zu neuen Anforderungen nicht nur an die politische Bildung, sondern an das ganze Bildungswesen moderner Gesellschaften. Der Hinweis auf einige der Stichworte, unter denen der gesellschaftliche Wandel in der sozialwissenschaftlichen und politischen Publizistik diskutiert wird, muss hier zur Erläuterung genügen:

"Informations-, Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft": Das Industriezeitalter geht zu Ende; der Anteil der Arbeitsplätze in der Industrie sinkt in den modernen Gesellschaften kontinuierlich, Dienstleistungen und vor allem Arbeitstätigkeiten, die mit dem Umgang mit Wissen zu tun haben, gewinnen weiter an Bedeutung. Damit verblasst auch das industrielle Modell der Arbeit - ein Modell, welches das schulische Lernen vielfach beeinflusst hat. Die moderne Schule und die Schulpflicht haben sich historisch parallel zur Industrialisierung durchgesetzt, und die Ähnlichkeiten zwischen schulischer Lernorganisation und industrieller Arbeit sind recht offensichtlich: Taylorismus der Arbeit und die Arbeitsteiligkeit des Fachunterrichts; Massenproduktion und die Gleichschrittigkeit des Unterrichts (sowohl über die Jahre, von Klassenstufe zu Klassenstufe, als auch innerhalb des Klassenunterrichts mit der scheinbaren Selbstverständlichkeit, dass immer alle Schüler zur gleichen Zeit das Gleiche tun sollen); die strenge zeitliche Rhythmisierung der Arbeitsvorgänge und des Schultages; die Gleichgültigkeit gegenüber dem Arbeitsgegenstand und das Bild des "Stoffs", der "durchgenommen" werden muss; das fehlerfreie Produkt und die eindeutig "richtige Lösung"; das Arbeiten in erster Linie für den Gegenwert Geld und das Lernen in erster Linie für den Gegenwert Noten; die hierarchische und zentrale Steuerung der Arbeitsvorgänge und die bürokratische Steuerung der Schule.

Die Vorstellungen, die sich im Sinne eines kulturellen "Scripts" mit dem Begriff des "Unterrichts" im schulischen Alltag und in den Erwartungen der Öffentlichkeit an die Schule (durchaus anders als in Erziehungswissenschaft und Fachdidaktiken) häufig noch verbinden, sind von diesem Arbeitsmodell nachhaltig beeinflusst worden: Unterricht als "Stoffvermittlung" in einem plan-, steuer- und kontrollierbaren Prozess. Dass die deutschen Schulen in der PISA-Studie so schlecht abschnitten, erklärt sich vor diesem Hintergrund ganz wesentlich auch aus den Unverträglichkeiten dieses Unterrichtsscripts mit dem Bildungsverständnis, von dem die PISA-Studie ausgeht: Untersucht wurden bekanntlich Kompetenzen, nicht das Beherrschen und Wiedergeben von "Stoffwissen". Allerdings kann das kaum als Rechtfertigung für das unbefriedigende Ergebnis deutscher Schulen im internationalen Vergleich dienen, eher ist dies ein weiteres Indiz für einen generellen Modernisierungsrückstand der deutschen Gesellschaft, wie er mit dem Begriff des "Reformstaus" ja auch für andere Bereiche konstatiert wird. Es ist wohl dieses Veralten grundlegender kultureller Muster in der Art und Weise, Schule zu denken und zu organisieren, das die Schule schon seit längerer Zeit in eine latente Krise geführt hat. In Deutschland hat die PISA-Studie diese Krise nun offensichtlich gemacht.

"Mediengesellschaft": Vergleichsweise spät hat die politische Bildung damit begonnen, sich mit der "digitalen Revolution" in der Medienlandschaft und der öffentlichen Kommunikation auseinander zu setzen, die Aufgaben des Faches in dieser Situation zu definieren und die Chancen auszuloten, die das Lernen mit digitalen Medien im Fach mit sich bringen kann. Trotz der akuten Krise in der IT-Branche (die in manchem an die Spekulations- und Überhitzungskrise während des ersten Eisenbahnbooms in den 1870er Jahren erinnert) dürfte die digitale Revolution eher noch am Anfang stehen. Noch sind ihre längerfristigen ökonomischen, politischen und kulturellen Auswirkungen nicht wirklich absehbar, und noch gibt es weitaus mehr offene Fragen als gesicherte Antworten, wenn es darum geht, die Lernpotenziale digitaler Medien für die (politische) Bildung zu erschließen.

"Pluralisierung und posttraditionale Gesellschaft": Mit dem Ende des Industriezeitalters erodieren auch die sozialen Schichten- und Milieustrukturen, welche die kulturelle Situation sowie die sozialen und politischen Konfliktlinien seit dem 19. Jahrhundert geprägt haben. Ein Pluralisierungs- und Individualisierungsschub lässt die nachindustrielle Gesellschaft noch weit mehr als die industrielle zu einer posttraditionalen Gesellschaft werden, in der die Menschen ihre persönliche Identität weitaus weniger als noch vor wenigen Jahrzehnten über die Zugehörigkeit zu politisch-kulturellen Milieus, in denen sie aufgewachsen sind, definieren. Noch der Beutelsbacher Konsens von 1976 lässt sich als Ergebnis einer Verständigung in einem Konflikt lesen, der zwischen solchen politisch-kulturellen Milieus auch in der politischen Bildung ausgetragen wurde. Besonders für die außerschulische politische Bildung, deren Trägerlandschaft auch heute noch in einem starken Maße von den sozialen Milieustrukturen des Industriezeitalters geprägt ist, stellt diese Entwicklung eine erhebliche Herausforderung dar - zumal sich die außerschulische Bildung zunehmend zu einem Bildungsmarkt entwickelt, auf den die politische Bildung sich weithin erst noch einstellen muss.

Zur Pluralisierung gehören ferner die kulturellen Wirkungen von Migration. Dies ist zwar für die politische Bildung kein wirklich neues Thema, es gibt eine beachtliche Tradition der Thematisierung von Migrationsproblemen in der politischen Bildung. Dennoch mangelt es erkennbar an Konzepten und Materialien, mit denen Migranten als Zielgruppe politischer Bildung besser als bisher angesprochen werden können. Dies ist ein Desiderat, dem das Fach nicht zuletzt als Konsequenz aus dem 11. September 2001 mehr Aufmerksamkeit widmen muss.

"Europäisierung und Globalisierung": Globalisierung steht als Stichwort der aktuellen politischen und sozialwissenschaftlichen Debatte für komplexe Prozesse der Internationalisierung von Kultur, Ökonomie und Politik. Unterhalb von Globalisierungsprozessen hat sich in Westeuropa in den letzten Jahrzehnten ein Prozess der Europäisierung entwickelt, der die Europäische Union (aus deutscher Sicht) zu einer vierten politischen Entscheidungsebene gemacht hat. Politische Bildung ist dagegen nach wie vor zwar nicht thematisch, aber institutionell und wohl auch kulturell im Wesentlichen an das Bezugssystem des Nationalstaats gebunden, in dessen Kontext sie in ihrer modernen Form entstanden ist und für den sie Integrationsleistungen erbringen sollte. Es dürfte eher die Ausnahme als die Regel sein, dass Multiperspektivität und Kontroversität bei der Analyse aktueller Politik in der politischen Bildung so verstanden werden, dass dort, wo es vom Internationalisierungsgrad der Politik her geboten wäre, politische Positionen aus anderen Gesellschaften systematisch in die Debatte einbezogen werden. Die Fachkultur der politischen Bildung ist bisher wenig internationalisiert; das gilt auch für die Politikdidaktik im Vergleich zu anderen Wissenschaftsdisziplinen.

II. Die Professionalität politischer Bildung

Wie kann die politische Bildung sich auf diese Herausforderungen angemessen einstellen, und welche Aufgaben kann sie im Bildungswesen einer nachindustriellen Gesellschaft wahrnehmen? Die im Hintergrund der folgenden Überlegungen stehende These lautet: Wie das Bildungswesen insgesamt steht auch die politische Bildung vor der Notwendigkeit einer Modernisierung. Im Kern geht es für die politische Bildung dabei um eine Professionalisierung ihres Selbstverständnisses und ihrer Praxis: Politische Bildung sollte sich als eine Profession verstehen, die ihre Aufgaben nach fachlich orientierten Gesichtspunkten diskutiert, in der pädagogischen Praxis bewältigt und ihre Leistungen durch Forschung und Evaluation selbst überprüft. Hierbei steht sie keineswegs am Nullpunkt, und schon gar nicht geht es um eine Abkehr von ihrer in den vergangenen 50 Jahren erarbeiteten demokratischen Tradition. Im Gegenteil: Nur die Demokratie kann jene Freiheit von politischer Instrumentalisierung gewähren, die Bedingung ist für die Entwicklung eines Selbstverständnisses politischer Bildung als Profession. Aber von einer solchen Identität und Praxis als Berufsstand ist die politische Bildung noch weit entfernt.

Zur Profession wird die politische Bildung in dem Maße, in dem sie ihre fachliche Identität und ihre Praxis nach eigenen, transparenten und von persönlichen moralischen oder politischen Überzeugungen weitgehend unabhängigen Kriterien entwickelt, in fachlichen Diskursen und Ausbildungssituationen weitergibt und ihre Praxis nach definierten Qualitätskriterien prüft und beurteilt. Diese Kriterien stützen sich im Kern auf wissenschaftliches Wissen und zwar - da es sich bei der politischen Bildung um eine pädagogische Profession handelt - auf wissenschaftliches Wissen über politisches Lernen. Professionen verfügen über ein hohes Maß an Autonomie gegenüber Vorgaben des Staates oder von gesellschaftlichen Interessengruppen; diese Autonomie ist Voraussetzung für situationsangemessenes Handeln in der Praxis nach professionellen Maßstäben.

Es ist leicht zu erkennen, dass die politische Bildung noch erhebliche Professionalitätsdefizite aufweist. Schon die Motive, mit denen das Fach in der Schule und das Fachgebiet in der außerschulischen Bildung historisch durchgesetzt wurde, waren überwiegend vorprofessioneller Art: Lange sollte politische Bildung - mit entsprechenden "Aufträgen" versehen - der Verbreitung politisch motivierter Botschaften dienen. Sie sollte Macht- und Herrschaftsinteressen legitimieren (von Wilhelm II. über den Nationalsozialismus bis zur DDR) oder Instrument zur Veränderung der Gesellschaft oder zur Behebung von Missständen sein (von der sozialistischen Arbeiterbewegung über die Re-education und später die Studentenbewegung bis zur Bekämpfung vorgeblichen Werteverfalls durch Werteerziehung). In der außerschulischen Bildung sollte sie der inneren Integration politisch-kultureller Milieus und dem Transport ihrer politischen Überzeugungen in die Gesellschaft dienen (von den Gewerkschaften bis zu den Kirchen, von der Friedensbewegung bis zu den Unternehmerverbänden oder den parteinahen Stiftungen).

Gewiss sind Theorie und Praxis politischer Bildung über derart schlichte Aufgabenverständnisse inzwischen hinausgewachsen. Im Wesentlichen haben drei Entwicklungen die langsame Ablösung von einem primär politisch determinierten Aufgabenverständnis gefördert und die Tür zu einem professionalitätsorientierten Diskurs aufgestoßen: die Verwissenschaftlichung der Politikdidaktik seit den sechziger Jahren, die breite Akzeptanz des Beutelsbacher Konsenses jedenfalls in der schulischen politischen Bildung (der sich im Übrigen auch als Entwurf eines Berufsethos für eine professionelle politische Bildung lesen ließe) und die Verbreitung des Prinzips der Teilnehmerorientierung in der außerschulischen politischen Bildung, die sich mit der Erfahrung verbindet, dass angesichts zunehmender Pluralisierung und Individualisierung allzu offenkundig auf politische Werbung ausgerichtete Angebote schlicht nicht mehr angenommen werden.

Dennoch gibt es nach wie vor erhebliche Probleme mit der Professionalität politischer Bildung. In der außerschulischen Bildung fällt es auch heute noch vielen Pädagoginnen und Pädagogen und mehr noch den Trägern erkennbar schwer, sich auf den mit einer Professionalisierung des Faches unabweisbar verbundenen Abschied von Aufgabenverständnissen einzulassen, die primär von den politischen Perspektiven und Interessen des Anbieters her bestimmt sind. Im schulischen Politikunterricht zeigen eine Reihe von Unterrichtsanalysen aus der qualitativen Unterrichtsforschung und viele Unterrichtsbeobachtungen, dass oftmals trotz "guten Willens" von Lehrkräften ein reflexiver Unterricht, der den Minimalkriterien des Beutelsbacher Konsenses genügt und Schülerinnen und Schülern einen auf das persönliche Verhältnis zur Politik bezogenen Lernzuwachs ermöglicht, nicht gelingt. Das Politische verschwindet dann schnell hinter dem scheinbar sicheren (und gut zu benotenden) "Faktenwissen", hinter dem unverbindlichen Meinungsaustausch oder hinter dem moralischen Räsonieren.

Gerade der letztgenannte Aspekt - die Neigung zur Moralisierung politischer Fragen, zu einem moralisch aufgeladenen Verständnis von den Aufgaben und Zielen des Fachs - scheint heute ein verbreitetes zentrales Hemmnis für die weitere Professionalisierung der politischen Bildung zu sein. Klaus Rothe konstatierte schon 1993 in einer empirischen Studie mit 5000 Gymnasialschülern aus Hessen und Bayern bei vielen Schülern eine "moralisierende Unfähigkeit, Politik wirklich angemessen zu verstehen" ; er fügte kommentierend hinzu: "Häufig scheinen die Lehrer aber leider ein ähnlich moralisierendes Politikverständnis zu haben wie viele ihrer Schüler." Noch deutlicher wird der Zusammenhang zwischen einer Dominanz des Moralischen und Professionalisierungsdefiziten in den Ergebnissen einer Befragung von 97 Experten der schulischen politischen Bildung im Vorfeld der Civic-Education-Studie. Diese Studie betont zunächst die "große Homogenität" im Selbstverständnis des Faches: "Es gibt offensichtlich einen breiten Konsens unter Experten und Expertinnen für politische Bildung in der Bundesrepublik Deutschland über die Ziele politischer Bildung." Es zeigt sich dann aber, dass dieser Konsens sich weniger auf der Ebene klar definierter fachlicher Aufgaben, als vielmehr auf der Ebene grundlegender moralisch-politischer Orientierungsmuster bewegt. Die Autoren nennen dieses dominierende Orientierungsmuster "humanitär liberal"; es "enthält zwar viele Elemente, die in früheren Diskussionen als links galten, so zum Beispiel die Förderung von Gleichheit und Solidarität gegenüber Selektion und Auslese oder die Erziehung zu kritischem sozialen Engagement, teilt jedoch mit der linken Position nicht die antinationalistische Grundhaltung oder die grundlegende Kapitalismuskritik" .

Nun stellt dies im Vergleich zu den politischen Polarisierungen der frühen siebziger Jahre sicher einen Fortschritt dar - auch wenn man mit Jan Ross ketzerisch fragen könnte, ob auch die politische Bildung sich distanzlos in jenen "fortschrittlich-liberalen Mainstream" eingefügt hat, "der sich in den wohlstandsunterfütterten Gesinnungsgewissheiten der Spätbundesrepublik bequem und selbstzufrieden eingerichtet hatte" . Unter Professionalitätsgesichtspunkten ist aber in erster Linie die unzureichende Trennung zwischen solchen grundlegenden Orientierungsmustern und präzise definierten fachlichen Aufgaben politischer Bildung problematisch. Die Expertenbefragung stellt denn auch fest: "Die Experten und Expertinnen haben die Tendenz, allgemein formulierte Ziele politischen Unterrichts, die in Übereinstimmung mit grundlegenden, allgemein anerkannten Werten stehen, positiver zu bewerten als konkretere Ziele . . . Nach Meinung der befragten Experten und Expertinnen werden in der Sekundarstufe I die von vielen für wichtig gehaltenen Ziele politischer Bildung nur begrenzt erreicht . . . Dass zwischen Wunsch und Realität eine Differenz liegt, dürfte in der Definition des Wünschbaren liegen."

Es scheint, als seien an die Stelle von politischen Programmatiken, mit denen bis zum Beutelsbacher Konsens häufig die Aufgaben politischer Bildung bestimmt wurden, nunmehr im beruflichen Selbstverständnis vieler "politischer Bildner" Werte getreten. Habituell ist in der politischen Bildung die Vorstellung tief verankert, sie diene der Verwirklichung von Werten, sie solle gewissermaßen den "guten" - den gerechten, solidarischen, friedliebenden, toleranten - Bürger hervorbringen.

Auch hierher scheint sich die politische Bildung häufig eher unkritisch in einem Mainstream zu bewegen, der für die politische Öffentlichkeit in Deutschland prägend geworden ist. Es lohnt, sich mit einem Einwand von Norbert Bolz zu konfrontieren: "Wir müssen uns fragen: Worin besteht eigentlich der Orientierungsgewinn einer moralischen Fassung gesellschaftlicher Probleme? Wer öffentliche Diskussionen etwa über das Klonen, Atomkraftwerke oder den Einsatz der Bundeswehr in Krisengebieten mit einer gewissen Distanz verfolgt, wird rasch feststellen: Werte funktionieren als Stoppregeln der Reflexion. Moral fixiert, was nicht negiert werden darf. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Keine Gesellschaft könnte ohne solche Fixierungen existieren. Aber man muss eben auch sehen: Werte sind denkfeindlich. Wer mit Werten argumentiert, will die Ablehnung seiner Position inkommunikabel machen. Und hier ist Deutschland wirklich führend. Statt einer Streitkultur . . . haben wir eine moralisierende Öffentlichkeit."

Nina Grunenberg führt diese Tendenz zur Moralisierung politischer Fragen in der deutschen Öffentlichkeit auf eine spezifische Verarbeitung des Nationalsozialismus zurück, auf die anhaltende "Macht der Vergangenheit über die Gegenwart": "Insbesondere Intellektuelle sind nach 1945 zu moralischen Wächtern geworden, die mahnend die Wiederkehr des Bösen gewärtigen. Intellektuelle sind zu Tugendwächtern in einer scheinbar tugendlosen Welt geworden ... Für viele von ihnen ist Auschwitz biographisch identitätsbildend geworden. Doch der Wille zum Guten verdunkelt mitunter die politische Vorstellungskraft und das Urteilsvermögen."

Wohlgemerkt, Bolz bestreitet nicht die Notwendigkeit normativer Festlegungen in jeder Gesellschaft. Unbestreitbar ist auch, dass die Ziele und Aufgaben politischer Bildung sich nicht völlig wertfrei formulieren lassen, sondern eines normativen Horizonts bedürfen, vor dessen Hintergrund sie ihre Legitimität erhalten. Aber aus demokratietheoretischer Sicht muss diese normative Basis so eng wie möglich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einer demokratischen Gesellschaft begrenzt werden, weil jede weiter gehende normative Fixierung die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger einschränkt und Denkblockaden errichtet. Professionalität beginnt erst jenseits des normativen Horizonts: Professionen legitimieren sich nicht durch die gemeinsamen Überzeugungen oder durch moralische oder politische Vorgaben, sondern durch die Leistungen, die sie für ihre Klienten bzw. Kunden erbringen. Diese Leistungen wiederum werden nach Qualitätskriterien bewertet, die von persönlichen Überzeugungen oder gar Gesinnungen des Personals weitgehend unabhängig definierbar sein müssen.

Wie ließen sich nun die Leistungen, die politische Bildung als Profession anbietet, näher beschreiben? Pädagoginnen und Pädagogen in der politischen Bildung sind Spezialisten für politische Lernprozesse. Ihre professionelle Leistung besteht in der Planung und Realisierung von Lernangeboten, mit denen die Adressaten in ihrem persönlichen Verhältnis zur Politik einen Kompetenzzuwachs erfahren. Mit ihren Lernangeboten interveniert politische Bildung in ohnehin laufende Prozesse politischer Sozialisation. Sie beginnt nie an einem Nullpunkt, sondern ist mit Voreinstellungen, Wissen, Urteilen und Fähigkeiten von Teilnehmerinnen und Teilnehmern in Bezug auf Politik konfrontiert; ihre Leistung als Profession besteht darin, eine qualitative Verbesserung dieser mitgebrachten Perspektiven auf Politik zu ermöglichen. Eine solche Definition der professionellen Leistungen politischer Bildung impliziert zunächst eine neue Konzentration auf Lernen als den Vorgang, um den es in Schule und außerschulischer Bildung letztlich geht. Es gibt in der politischen Bildung einen erheblichen Nachholbedarf in der Auseinandersetzung mit neueren Lerntheorien aus der Kognitionspsychologie und dem Konstruktivismus sowie mit neuen lerntheoretischen Ansätzen aus der Erziehungswissenschaft. Zwar gilt dies gewiss nicht nur für die politische Bildung, sondern besonders für die Alltagskultur der Schule insgesamt. Aber die schon kritisch angesprochene Tradition, die Aufgaben politischer Bildung von politischen und/oder moralischen Vorgaben her zu denken, erschwert den hier notwendigen Perspektivenwechsel erkennbar.

Schon vor Jahren warnte Klaus Holzkamp vor dem "Lehrlernkurzschluss", der das tradierte schulische Unterrichtsscript prägt: die Vorstellung, das Lernen der Schülerinnen und Schüler sei durch das Lehren der Lehrerinnen und Lehrer plan- und steuerbar. Heute verstehen wir noch genauer, wo die Irrtümer in diesem Kurzschluss liegen: Lernen ist eine konstruktive Leistung der einzelnen Lernenden und dem Lehren nicht verfügbar. Immer sind es die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Lernangeboten, die je für sich entscheiden, was aus dem Angebot sie in ihre subjektiven Wissensnetze integrieren und in welcher Weise sie dies tun. Dabei können gleiche Informationen höchst unterschiedlich wahrgenommen, gedeutet und verarbeitet werden. Zugleich hängt das, was gelernt werden kann, selbstverständlich auch davon ab, was und wie es angeboten wird. Aber Lehren und Lernen sind allenfalls lose gekoppelt, "über das Lehren ist kein direkter Zugriff auf Lernen möglich" . Die professionelle Leistung von Lehrenden in der politischen Bildung besteht daher darin, solche Lernumgebungen zu konzipieren, die erfolgreiches politisches Lernen möglich machen, das Lernen der Teilnehmenden produktiv zu begleiten und den Erfolg von Lernangeboten angemessen zu evaluieren.

Woran aber bemisst sich nun der Erfolg von Lernangeboten politischer Bildung? Politische Bildung ermöglicht Qualitätszuwächse im politischen Urteilen, verbessert politische Handlungskompetenzen, erweitert und vertieft auf diese Kompetenzen bezogenes und an die Wissensnetze der Lernenden anschlussfähiges politisches Wissen, fördert methodische Fähigkeiten zum selbstständigen Weiterlernen und zum selbstständigen politischen Informieren; sie ermutigt zum politischen Engagement, ohne dieses Engagement in Ziel und Umfang vorschreiben zu wollen. Das konzeptionell schwierigste Problem hierbei ist die nähere Beschreibung von Qualitätszuwächsen im politischen Urteilen, ohne dass es dabei zu inhaltlichen Festlegungen der Lernenden kommt. Die lange Debatte in der Politikdidaktik zum Problem der politischen Urteilsfähigkeit kann hier nicht referiert werden. Im Kern lässt sich Qualitätsverbesserung politischen Urteilens wohl als Komplexitätszuwachs verstehen. Dieser Komplexitätszuwachs, so meine These, kann für den Bereich der sachlich-inhaltlichen Urteilsbildung in zwei Richtungen beschrieben werden:

Komplexitätszuwachs in horizontaler Richtung ("Breite"):

- Politikdimensionen: Politische Bildung trainiert die Fähigkeit, bei der Beurteilung von Politik darauf zu achten, in welchem Sinn jeweils von Politik die Rede ist.

- Folgen und Nebenfolgen: Politische Bildung trainiert durch die beständige Frage nach möglichen, nicht beabsichtigten Wirkungen politischer Entscheidungen bzw. Entscheidungsoptionen ein vernetztes Denken.

- Kontexte des Politischen: Politische Bildung trainiert die Fähigkeit, das Politische im Unpolitischen zu entdecken und die Eigenlogiken anderer Realitätsbereiche bei der Beurteilung politischer Fragen angemessen zu bedenken.

Komplexitätszuwachs in vertikaler Richtung ("Tiefe"):

- Mediale Repräsentanz von Politik: Politische Bildung trainiert politische Medienkompetenz im Sinne der Fähigkeit, sich in medialen Politikangeboten gezielt orientieren und die Logiken medialer Politikinszenierung entschlüsseln zu können.

- Mittel- und längerfristige Problemlagen: Politische Bildung trainiert die Fähigkeit, in der Wahrnehmung von alltäglicher Politik nach jenen Problemlagen zu fragen, von denen mit guten Gründen zu erwarten ist, dass sie über die Tagesaktualität hinaus mittel- und längerfristig bedeutsame politische Problem- und Aufgabenfelder darstellen.

- Politik als menschliche Aufgabe: Politische Bildung trainiert die Fähigkeit, sich des Menschenbildes und Politikverständnisses bewusst zu werden, von dem aus man selbst Politik beurteilt, und dieses eigene Bild in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen- und Politikbildern kritisch zu prüfen.

Hier geht es um Leitperspektiven politischer Bildung insgesamt, nicht allein in einem Praxisfeld oder gar bezogen auf bestimmte Lernvorhaben. Die genannten Fähigkeiten sind als prinzipiell unabschließbar zu denken, es gibt keinen Punkt, an dem man sie "ein für alle Mal" erworben hat, schon weil die politischen Situationen, in denen sie sich bewähren müssen, sich ständig ändern. Für die möglichen Leistungen politischer Bildung in verschiedenen Praxisfeldern, bei verschiedenen Trägern und für verschiedene Zielgruppen bedarf es weiterer Konkretisierungen, erst recht natürlich für einzelne Lernangebote.

III. Schulische politische Bildung nach PISA

Der Politikunterricht befindet sich bisher eher im Windschatten der bildungspolitischen Debatte nach PISA. Die ebenfalls von der IEA (International Association for the Evaluation of Educational Achievement) fast zeitgleich durchgeführte Civic Education-Studie hat nicht nur weniger Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit gefunden, sie lässt auch vergleichsweise weniger Rückschlüsse auf die Leistungen des Fachunterrichts in der politischen Bildung zu. Sie verstärkt eher den kritischen Blick auf die Unterrichtskultur an den Schulen, indem sie ein im internationalen Vergleich deutliches unterdurchschnittliches Maß an Partizipationserfahrungen deutscher Jugendlicher in der Schule dokumentiert.

Wenig beachtet worden ist in der öffentlichen Debatte bisher ferner, dass die PISA-Studie bei ihren Untersuchungen zur Lesekompetenz auch auf Material aus der politischen Publizistik zurückgreift und insofern indirekte Hinweise auf Schwächen der politischen Bildung gibt, die aber nicht gesondert analysiert wurden.

Gleichwohl zeichnet sich ab, dass sich auch der Politikunterricht in der bildungspolitischen Reformdebatte nach PISA positionieren und profilieren muss. Eine der durchaus produktiven Konsequenzen aus der PISA-Studie, die derzeit mit einer gewissen Aussicht auf Erfolg diskutiert werden, ist die Festlegung von Mindeststandards, die an bestimmten Abschnitten des Schulwesens von allen Schülerinnen und Schülern erreicht werden sollen. Für den Politikunterricht besteht hier die Gefahr, dass es Fächer erster und zweiter Klasse - mit und ohne definierte Mindeststandards - geben könnte. Es ist für das Profil des Politikunterrichts daher von einiger Bedeutung, dass auch dieses Fach in einer transparenten Weise definiert und bundesweit vertritt, was junge Menschen in der schulischen politischen Bildung mindestens gelernt haben sollen - verstanden als Erwerb von Kompetenzen und darauf bezogenes Wissen, nicht als Durcharbeiten eines Stoffkanons. In diesem Sinn ist der folgende Entwurf für Mindeststandards zu verstehen:

Am Ende ihrer Schulzeit sollten junge Menschen in der politischen Bildung mindestens gelernt haben,

- Medien gezielt und kritisch für die eigene politische Information zu nutzen;

- reflektierte politische Urteile zu treffen und sie in der Konfrontation mit anderen Positionen sachlich zu begründen und zu vertreten;

- sich der eigenen Voreinstellungen und Wertmaßstäbe bewusst zu sein, von denen aus sie ihre politischen Urteilskriterien gewinnen;

- auf die eine oder andere Weise ihre politischen Positionen auch in der politischen Öffentlichkeit angemessen zum Ausdruck zu bringen;

- sich ein begründetes, aber auch durch neue Informationen veränderungsfähiges Bild von grundlegenden mittel- und längerfristigen politischen Problemlagen (Schlüsselproblemen) zu erarbeiten;

- ein reflektiertes Grundverständnis des politischen Systems, der Wirtschaftsordnung und der Gesellschaftsstruktur der Bundesrepublik Deutschland - auch in ihren historischen Bedingtheiten und ihren transnationalen Verflechtungen - zu erwerben;

- soweit sie die gymnasiale Oberstufe besucht haben: mit sozialwissenschaftlichen Texten sicher umzugehen, sich mit sozialwissenschaftlichen Theorien auseinander zu setzen und eine begründete Vorstellung von den Möglichkeiten und Grenzen sozialwissenschaftlicher Methoden zu entwickeln;

- soweit sie das berufliche Schulwesen besucht haben: ihre Berufstätigkeit und ihr berufliches Umfeld auch mit Blick auf gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge und Entwicklungen sowie unter der Frage nach möglichen Beiträgen beruflichen Handelns zur Bewältigung politischer Problemlagen zu sehen.

Die weitere Profilierung und Professionalisierung des Fachunterrichts ist die eine dringliche Aufgabe, vor der die politische Bildung in der Schule steht. Die andere stellt gewissermaßen die Kehrseite dieser Medaille dar: Politische Bildung ist mehr als ein Schulfach, sie ist auch Unterrichtsprinzip anderer Fächer und eine Dimension des Schullebens insgesamt.

Angesichts der Tendenz in der Reformdebatte, den Schulen größere Freiräume bei der individuellen Profilbildung wie der inneren Lernorganisation zuzugestehen, ergeben sich hier für die politische Bildung neue Aufgaben und Chancen: Über den Fachunterricht hinaus muss sich die Fachkultur der politischen Bildung sehr viel stärker als bisher dafür verantwortlich fühlen, innovative Modelle für fächerübergreifendes politisches Lernen und für schulische Profilbildungen mit sozialwissenschaftlich-politischen Schwerpunkten zu entwickeln.

Allerdings darf ein solches breiteres Verständnis von politischer Bildung in der Schule nicht in einen Gegensatz zu fachlicher Professionalität und zur Notwendigkeit von im engeren Sinne fachbezogenen Lernangeboten gesetzt werden. Es kann nicht übersehen werden, dass das Modellprogramm "Demokratie lernen und leben" der Bund-Länder-Kommission (www.blk-demokratie.de) genau dieser Gefahr unterliegt und sich damit um einen Teil der möglichen produktiven Wirkung für eine Verbesserung der politischen Bildung zu bringen droht.

IV. Politische Bildung im Bildungsmarkt: Ausblick auf die außerschulische Bildung

Die außerschulische politische Bildung steht vor der Aufgabe, ihr Profil als Anbieter in einem Bildungsmarkt zu schärfen. Dass die außerschulische Bildung - insbesondere die Erwachsenenbildung - sich zunehmend marktförmig organisiert, ist nicht zu übersehen, und eine realistische Alternative zu dieser Entwicklung ist nirgendwo in Sicht. Politische Bildung kann auf diesem Markt Dienstleistungen erbringen, die für die einzelnen Bürgerinnen und Bürger wie für die Gesellschaft insgesamt von Nutzen sind: In ihren Lernangeboten kann man sich fit machen für bürgerschaftliches Engagement (ohne dass man darüber belehrt wird, welches die "richtigen" Ziele und die "richtigen" politischen Einstellungen sind); man kann sich zuverlässig und seriös über Hintergründe aktueller politischer Konflikte und Entwicklungen informieren, man findet Orte für Gespräche, Meinungsaustausch und kontroverse Debatten, man erwirbt praktische Kompetenzen für das Auftreten in der Öffentlichkeit und die Nutzung von Medien und vieles mehr. Es gibt keinen Grund für die Annahme, dass es für solche Dienstleistungen in der Gesellschaft keinen oder keinen ausreichenden Bedarf gibt - im Gegenteil lässt sich empirisch nachweisen, dass das Potenzial, das eine sich kundenorientiert verstehende politische Bildung erreichen kann, erheblich größer ist als die derzeitige Zahl der Menschen, die das Fachgebiet tatsächlich erreicht.

Gleichzeitig erbringt eine professionelle politische Bildung auch Dienstleistungen für die ganze Gesellschaft. Tatsächlich sind Veranstaltungen der außerschulischen politischen Bildung der einzige soziale Ort, an dem Bürgerinnen und Bürger in einem persönlichen Diskurs ohne Handlungsdruck und ohne sich politisch festlegen zu müssen Fragen des politischen Zusammenlebens erörtern können. Diese Aufgabe ist nicht substituierbar, und sie gewinnt durch die wachsende Informationsfülle in den Medien, die häufig solche Orientierungsbedürfnisse auslöst, eher noch an Bedeutung. Sie rechtfertigt auch künftig die Förderung politischer Bildung durch die öffentliche Hand.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die GPJE wurde 1999 auf Schloss Rauischholzhausen, einer Tagungsstätte der Justus-Liebig-Universität Gießen, gegründet und hat inzwischen drei weitere wissenschaftliche Jahrestagungen veranstaltet. Die Vorträge der beiden ersten Tagungen sind nachzulesen in: GPJE (Hrsg.), Politische Bildung als Wissenschaft. Bilanz und Perspektiven. Schwalbach 2002; nähere Informationen zur GPJE finden sich unter www.gpje.de.

  2. Jüngstes Beispiel für die Nonchalance, die sich im Umgang mit der Fachbezeichnung für die politische Bildung manchmal beobachten lässt, ist Hessen: Hier wurde in diesem Jahr nach 56 Jahren das Fach Sozialkunde ohne jeden Diskurs mit den Fachvertretern in Verbänden und Hochschulen kurzerhand in "Politik und Wirtschaft" umbenannt und zum "Leitfach der ökonomischen Bildung" erklärt.

  3. Vgl. Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.), PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Opladen 2001.

  4. Vgl. zum derzeitigen Stand dieser Diskussion Elisabeth Bremekamp (Hrsg.), Praxishandbuch Total digital + multimedial!? Impulse, Erfahrungen und Materialien für die außerschulische politische Bildung, Schwalbach 2000; Thilo Harth, Das Internet als Herausforderung politischer Bildung, Schwalbach 2000; Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Politikunterricht im Informationszeitalter, Bonn 2001.

  5. Vgl. Wolfgang Sander, Lernaufgaben - politische Bildung vor den Herausforderungen der Gegenmoderne, in: kursiv - Journal für politische Bildung, (2002) 3.

  6. Der konzeptionelle Hintergrund der folgenden Überlegungen wird ausführlicher dargelegt und begründet bei Wolfgang Sander, Politik entdecken - Freiheit leben. Neue Lernkulturen in der politischen Bildung, Schwalbach 2001.

  7. Die Debatte um den Professionalitätsbegriff kann hier nicht nachgezeichnet werden; vgl. dazu mit Blick auf pä"dagogisches Handeln Arno Combe/Werner Helsper (Hrsg.), Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns, Frankfurt/M. 1996. Ich gehe im Übrigen davon aus, dass die Professionalität politischer Bildung nicht in einem Spannungsverhältnis zu anderen Formen professionellen Handelns in pädagogischen Feldern steht, sondern Teilbereich pädagogischer Professionalität ist. Im Regelfall werden Pädagoginnen und Pädagogen in der politischen Bildung zugleich andere Teilbereiche pädagogischer Professionalität repräsentieren müssen, z. B. als Lehrer "allgemein, als Fachlehrer anderer Fächer oder als Erwachsenenbildner.

  8. Ein Beispiel für diese Spannung: 2001 hat das DGB- "Bildungswerk eine CD-ROM zum Thema "Globalisierung" als Lernmaterial veröffentlicht, die über weite Strecken ein unter mediendidaktischen Gesichtspunkten sehr gelungenes Produkt darstellt und politikdidaktischen Prinzipien wie Adressatenorientierung, exemplarisches Lernen und Kontro"versität auf überzeugende Weise gerecht wird - und die "dennoch'bei der Frage nach politischen Lösungen für Globa"lisierungsprobleme an einigen Stellen wie selbstverständlich gewerkschaftliche Positionen als orientierende Sachtexte präsentiert. Vielleicht ist dieses Beispiel durchaus typisch für die Problemlage der trägergebundenen politischen Erwachsenenbildung bei dem langen und schwierigen Abschied von einem vorprofessionellen Aufgabenverständnis.

  9. Vgl. beispielhaft zwei Unterrichtsanalysen: Hans-Dieter König, Pädagogisches Moralisieren nach Auschwitz. "Tiefenhermeneutische Rekonstruktion der in einer Sozialkundestunde mit einer Zeitzeugin zutage tretenden "Professionalisierungsdefizite, in: Peter Henkenborg/Hans-Werner Kuhn (Hrsg.), Der alltägliche Politikunterricht. "Beispiele qualitativer Unterrichtsforschung zur politischen Bildung in der Schule, Opladen 1998; Peter Henkenborg, Deutungslernen in der politischen Bildung. Prinzipien und Professionalisierungsdefizite, in: Dagmar Richter (Hrsg.), Methoden der Unterrichtsinterpretation. Qualitative Ana"lysen einer Sachunterrichtsstunde im Vergleich, Weinheim-München 2000.

  10. Klaus Rothe, Schüler und Politik. Eine vergleichende Untersuchung bayerischer und hessischer Gymnasialschüler, Opladen 1993, S. 181.

  11. Ebd., S. 184.

  12. Detlef Oesterreich/Christa Händle/Luitgard Trommer, Eine Befragung von Experten und Expertinnen zur politischen Bildung in der Sekundarstufe I, in: Christa Handle/Detlef Oesterreich/Luitgard Trommer, Aufgaben politischer Bildung in der Sekundarstufe I. Studien aus dem Projekt Civic Education, Opladen 1999, S. 207.

  13. Ebd.

  14. Jan Ross, Was ist politisch korrekt?, in: Die Zeit vom 29. 5. 2002, S. 33.

  15. D. Oesterreich u. a. (Anm. 12), S. 204 f.

  16. Vgl. auch die Warnungen vor einem moralisierenden Gesinnungsunterricht bei Bernhard Sutor, Zwischen moralischer Gesinnung und politischer Urteilskraft - Ethik als Dimension politischer Bildung, in: Gotthard Breit/Siegfried Schiele (Hrsg.), Werte in der politischen Bildung, Schwalbach 2000.

  17. Norbert Bolz, Weltkommunikation, München 2001, S. 169. Die Argumentation von Bolz ließe sich gut an den öffentlichen Reaktionen auf den Schülermord von Erfurt exemplifizieren. Der reflexartigen Forderung nach mehr Werteerziehung als angemessene Reaktion der Schule nach solchen Ereignissen hat Karl-Otto Hondrich einen erhellenden Vergleich der Lebenssituation des Attentäters Robert Steinhäuser mit der des jungen Hermann Hesse entgegengestellt, der trotz eines umsorgenden familiären Umfelds als Jugendlicher um ein Haar am Leben gescheitert wäre und sich mit 15 eine Waffe besorgte: "Nicht aus dem Verfall von Werten erklärt sich Versagen, sondern aus der gesteigerten Einforderung von Werten, damals wie heute . . . Robert Steinhäuser aus Erfurt litt nicht an einem ominösen Wertverfall, sondern an realen Wertansprüchen, die er sich zu Eigen gemacht hatte, aber nicht erfüllen konnte und deshalb wieder abwertete wie der Fuchs die Trauben, die zu hoch hängen." Karl-Otto Hondrich, Ein Ganzes - Gesellschaft und Gewalt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. 9. 2002, S. 8.

  18. Nina Grunenberg, Die Lust an der Schuld. Von der Macht der Vergangenheit über die Gegenwart, Berlin 2001, S. 25.

  19. Ich habe deshalb vorgeschlagen, den Freiheitsbegriff als normativen Bezugspunkt politischer Bildung in der Demokratie zu sehen (vgl. W. Sander [Anm. 6], S. 37 ff.), denn in der politischen Freiheit besteht in normativer Hinsicht der kleinste gemeinsame Nenner demokratischer Gesellschaften. Georg Weißeno hat dem das Spannungsverhältnis der Freiheit zu Solidarität, Gerechtigkeit und Gleichheit entgegengehalten (vgl. G. Weißeno, Demokratie besser verstehen. Politisches Lernen im Politikunterricht, in: Gotthard Breit/Siegfried Schiele [Hrsg.], Demokratie-Lernen als Aufgabe politischer Bildung, Schwalbach 2002, S. 113). Dieses Spannungsverhältnis habe ich nicht bestritten, sondern selbst betont (vgl. Anm. 6, S. 41). Aber zum einen sind diese anderen Grundwerte keine Charakteristika demokratischer Politik, sondern durchaus älter als die Demokratie, sie können auch in nichtdemokratischen Gesellschaften politische Entscheidungen begründen; zum anderen muss in der politischen Bildung die Frage, ob und bis zu welchem Grad aus Gründen gesamtgesellschaftlicher Solidarität die Freiheiten der Einzelnen eingeschränkt werden müssen (z. B. durch Steuern und Abgaben), der Urteilsbildung und damit eben der Freiheit der Lernenden überlassen werden. Letzteres impliziert aber genau das, wogegen Weißeno sich wendet: eine Priorität der Freiheit als normativer Bezugspunkt für politische Bildung.

  20. Vgl. ausführlicher W. Sander (Anm. 6), S. 75 ff.

  21. Vgl. u. a. Annette Scheunpflug, Biologische Grundlagen des Lernens, Berlin 2001.

  22. Vgl. Klaus Holzkamp, Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung, Frankfurt/M. 1993.

  23. A. Scheunpflug (Anm. 21), S. 174.

  24. Vgl. zur Erläuterung und Begründung dieses Zielkonzepts W. Sander (Anm. 6), S. 54 - 74.

  25. Dies bedeutet jedoch nicht, dass politische Urteilsfähigkeit eine bloß formale Kompetenz wäre. Der Bezug auf Freiheit als normativen Horizont impliziert eine universalistische Perspektive und ist nicht relativistisch. Es ist deshalb ein Missverständnis, wenn Peter Henkenborg meinen Ansatz als Adaption von Value Clarification-Konzepten aus der amerikanischen Diskussion interpretiert; vgl. Peter Henkenborg, Der 11. September ein Geschichtszeichen - auch für die politische Bildung?, in: kursiv - Journal für politische Bildung, (2002) 3; vgl. zu dieser Frage auch meinen Beitrag: "... erkennen als jemand, der einmalig ist auf der Welt!" Werteerziehung als Aufgabe der Schule, in: G. Breit/S. Schiele (Anm. 16).

  26. Vgl. ausführlicher W. Sander (Anm. 6), S. 64 ff.

  27. Vgl. Judith Torney-Purta/Rainer Lehmann/Hans Oswald/Wolfram Schulz, Citizenship and Education in Twenty-eight Countries. Civic Knowledge and Engagement at Age Fourteen, Amsterdam 2001.

  28. Vgl. W. Sander (Anm. 6), S. 169.

  29. Vgl. das dem Programm zugrunde liegende Gutachten von Wolfgang Edelstein und Peter Fauser (Heft 96 der BLK-Materialien), das auf eine schwer nachvollziehbare Weise am Fachdiskurs der politischen Bildung vorbei konzipiert wurde und den Forschungs- und Diskussionsstand der Politikdidaktik nur marginal zur Kenntnis nimmt.

  30. Vgl. den Beitrag von Karsten Rudolf in diesem Heft.

Dr. phil., geb. 1953; Professor für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften an der Justus-Liebig-Universität Gießen.


Anschrift: Justus-Liebig-Universität, Didaktik der Sozialwissenschaften, Karl Glöckner-Str. 21 E, 35394 Gießen.
E-Mail: wolfgang.sander@sowi.uni-giessen.de
Veröffentlichungen u.a.: (Hrsg.) Handbuch politische Bildung. Praxis und Wissenschaft, Schwalbach 1999²; Politik entdecken - Freiheit leben. Neue Lernkulturen in der politischen Bildung, Schwalbach 2001.