Aufbau Ost, zweite Hälfte - Eine neue Agenda für die politische Bildung | Politische Bildung | bpb.de

Aus Politik und Zeitgeschichte

Aufbau Ost, zweite Hälfte - Eine neue Agenda für die politische Bildung

/ 22 Minuten zu lesen

Für die politische Bildung gibt es gute Gründe, nach den Erfahrungen des deutschen Vereinigungsprozesses die politischen Prämissen zu hinterfragen. Das Konzept "nachholender Modernisierung" lässt sich angesichts neuer "Generationen-Aufgaben" nicht mehr vermitteln.

Einleitung

Wie schon vor vier Jahren haben die ostdeutschen Wähler auch bei den Bundestagswahlen 2002 den Ausschlag für das Wahlergebnis gegeben. 1998 verstärkten sie den Trend zum Wechsel, weil die CDU im Osten mit mehr als elf Prozent überdurchschnittlich verlor; 2002 hielten sie die SPD an der Macht, weil diese im Osten 4,6 Prozent dazugewinnen konnte, im Unterschied zum Westen. Mit ihrem Votum - beide Male der Schlüssel für eine Regierungsmehrheit - haben die Ostdeutschen bewiesen, dass sie das Institut der freien Wahlen aktiv zu nutzen verstehen, also wirksam politisch partizipieren. Ein Ausdruck gewachsener Einheit, gewiss, aber vor dem Hintergrund zweier noch immer verschiedener politischer Kulturen. In zwölf Jahren haben sich ökonomisch, sozial und kulturell einige Unterschiede in Ost und West sogar eher verfestigt; viele von ihnen waren zur Zeit der Vereinigung noch nicht erkennbar. Die umfassenden Veränderungen und bestimmte neue Realitäten im Osten - allen voran die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit - bedeuteten eine einschneidende Erfahrung von Ausgrenzung und Ausschluss für Menschen, die ihren Eigenwert primär aus der Arbeit abzuleiten gewohnt waren. Zur Auflösung der Fußnote[1] Reservierte Distanz kennzeichnet daher die seit Jahren unveränderte Haltung der Mehrheit der Ostdeutschen zum politischen System, den politischen Institutionen und Parteien der Bundesrepublik.

Diese grobe Bestandsaufnahme reicht allerdings nicht aus, um zu verstehen, was sich verändert hat und in welche Richtung es sich bewegt. Die ostdeutschen Erwartungen an die Politik sind auf den ersten Blick widersprüchlich. Zwar geht man kalkuliert mit der politischen Aufmerksamkeit der Parteien um, wenn sie im Osten um Stimmen kämpfen - trotzdem wächst hier der Anteil der Nichtwähler am deutlichsten. Diese Erfahrung machte jetzt vor allem die PDS - die auffälligste Besonderheit der ostdeutschen politischen Landschaft -, die in diesem Jahr dramatisch verlor, und zwar zum großen Teil durch Wahlenthaltung. So widersprüchlich die politischen Entwicklungen in der ostdeutschen Gesellschaft sind, so unterschiedlich sind die Einschätzungen und Empfehlungen, wie man damit umgehen soll. Jenseits der allgemeinen Zielbeschreibung, dass die nationale Einheit durch die Herstellung der inneren Einheit, also durch einen Prozess der Verständigung und Herausbildung einer gemeinsamen staatsbürgerlichen Identität zu vollenden sei, haben diejenigen Stimmen zugenommen, die behaupten, dass diese Differenzen für Deutschland, wo kulturelle Vielfalt ebenso typisch ist wie regionale Ungleichheit von Einkommensverhältnissen, kein wesentliches Problem mehr darstellen sollten. Zur Auflösung der Fußnote[2]

Für die Politik wie für die politische Bildung sind solche Unterschiede jedoch nicht gleichgültig, obwohl es Letzterer in Theorie und Praxis keine Schwierigkeiten bereiten dürfte, mit dem einen wie mit dem anderen Ansatz umzugehen. Gute Gründe gibt es gleichwohl nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre, die politischen Prämissen zu hinterfragen und Bilanz zu ziehen. Meine Überlegungen werden sich darauf konzentrieren, wohl wissend, dass die alltäglichen (Praxis)probleme für die politischen Bildner im Osten vermutlich noch drängender sind als theoretische Überlegungen. Um etwas zu ändern, bedarf es sowohl einer rückblickenden Aufgabenkritik wie einer neuen Aufgabenbeschreibung, die von der politischen Ebene und von der öffentlichen Meinung mit getragen wird.

I. "Übernahme der Regeln", "Aufarbeitung der Geschichte"

Die mit der Formel "Vollendung der inneren Einheit" umrissene Aufgabenstellung war für die politische Bildung ein verbindlicher Auftrag. Im "Bericht der Bundesregierung zu Stand und Perspektiven der politischen Bildung in der Bundesrepublik" vom Dezember 1991 hieß es: "Nach dem Niederreißen der Mauer und nach der Vereinigung Deutschlands muss politische Bildung ihren Beitrag dazu leisten, dass aus den bisherigen beiden Teilen Deutschlands ein geistiges und gesellschaftliches Miteinander wird." Zur Auflösung der Fußnote[3] Thomas Meyer interpretierte den Auftrag im gleichen Jahr in dieser Zeitschrift: "Der Aufbau einer politischen Kultur der Demokratie - also die Übernahme ihrer Regeln, Chancen, Zumutungen und Grundwerte als Teil des persönlichen Selbstverständnisses - setzt die Aufarbeitung der typischen Biographien in der Rückbesinnung auf die Geschichte des kommunistischen Systems in Deutschland voraus. Dazu muss politische Bildung einen, vielleicht den entscheidenden Beitrag leisten." Zur Auflösung der Fußnote[4]

Vor der politischen Bildung stand also eine Integrationsaufgabe, deren normative Ziele sich aus dem vom Grundgesetz vorgegebenen Menschen- und Gesellschaftsbild ergaben. Politische Bildung sollte an der Überwindung von mitgebrachten Unterschieden mitarbeiten - einerseits durch die Vermittlung der konstitutiven Regeln und Grundwerte der Demokratie zwecks "Übernahme" durch die hinzugekommene Bevölkerung, andererseits durch die "Aufarbeitung" des persönlichen und kollektiven politischen Erbes aus der DDR. Dies entsprach einer allgemeinen Überzeugung und der vom Vereinigungsprozess insgesamt gestalteten Praxis, nicht etwa nur einer bestimmten pädagogischen Absicht. Dass die beiden Aufgabenbeschreibungen "Übernahme der Regeln" und "Aufarbeitung der Geschichte" auch Rollenzuweisungen innerhalb des politischen Bildungsprozesses markieren - wobei den Ostdeutschen bei der Vergangenheitsaufarbeitung die Subjektrolle zufiel und im Hinblick auf Demokratiebildung die Objektrolle -, grenzte geradezu an Selbstverständlichkeit.

Diese Konstellation aber erklärt das eigentlich Paradoxe, ja das Dilemma des darauf folgenden Prozesses: In dem Moment, als die Ostdeutschen die Diktatur, ihre bedrückende oder zumindest als Nachteil empfundene Vergangenheit, hinter sich gelassen hatten, in jenem Moment wurden zugleich die Rollen getauscht und das einzige Kapital, das sie aus der Bankrottmasse der DDR mitbrachten - ihr viel gerühmtes Selbstbewusstsein, das sie als Akteure einer demokratischen Revolution bewiesen hatten und das ihnen gestatten sollte, erhobenen Hauptes in die Vereinigung zu gehen -, der Geist des Aufbruchs und der demokratischen Selbstorganisation, entwertet.

II. Vergangenheit und Verantwortung

Nicht nur im Bereich der politischen Bildung, sondern auf fast allen Ebenen begann die deutsche Zeitgeschichte nach der Vereinigung in gewisser Weise von vorn: Der Vorrang der Vergangenheitsbewältigung - nicht als moralische Bringpflicht, sondern als Aufklärungs- und Selbstfindungsprozess - ist individuell wie als gesellschaftlicher Prozess notwendig und legitimiert, aber nur im Zusammenhang mit einem anderen zentralen Aspekt, der mit errungener Freiheit verbunden ist: nämlich um der dazugehörigen Verantwortung für die Zukunft willen. Gerade von der eigenen Verantwortung für ihre künftige Ordnung schien die Bevölkerung der Ex-DDR jedoch ,,befreit". "Übernahme der Regeln" bedeutete für viele, ohne allgemeine, über die eigene Person hinausgehende Verantwortung zu sein. Man war damit "sowohl der Chance wie der Herausforderung enthoben, zur Gestaltung der eigenen Zukunft einen eigenen, auch moralisch anspruchsvollen Beitrag zu leisten", so Claus Offe. Nach seinem Urteil führte dies zu einem Problem sowohl politischer Entmündigung als auch moralischer Unterforderung. Zur Auflösung der Fußnote[5]

Noch einmal: Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, mit den Erfahrungen von Unrecht in der DDR, war nach deren Ende unausweichlich. Das Thema betraf nicht wenige Bevölkerungsgruppen, in der Mehrzahl jedoch Menschen, die selbst eine hinnehmende, wenn nicht zustimmende Haltung dazu hatten. Die juristische Aufarbeitung, die im Jahr 2000 praktisch abgeschlossen war, umfasste mehr als 200 000 Ermittlungsverfahren, aus denen aber nur etwa 200 Verurteilungen resultierten, davon Haftstrafen gegen lediglich rund 20 Personen. Der Rechtsstaat, der sich daran halten muss, Personen ihre konkrete Schuld nachzuweisen, kann und konnte ein politisches System nicht aburteilen. Gerecht werden konnte er der Vergangenheit als Ganzes gewiss nicht.

Vor diesem Dilemma stand man aber nicht erst nach dem Ende der DDR. Weil in Deutschland Erfahrungen mit diesem Problem juristischer Aufarbeitung auch schon nach 1945 vorlagen und die Praxis der DDR schlechterdings nicht als Vorbild dienen konnte, lag das westdeutsche Modell auf der Hand, allerdings in der Variante eines Vollzuges, der zweier Generationen bedurfte. Einig waren sich die öffentliche Meinung und die von den Repressionen des DDR-Staats besonders betroffene ostdeutsche Minderheit, die Versäumnisse der seinerzeitigen Nichtaufarbeitung nicht wiederholen zu wollen. So entstand ein ost-west-übergreifendes Bündnis für eine Aufarbeitungspraxis, die an die Nachkriegserfahrung anschloss, bisweilen mit dem Impetus, dieselbe Arbeit fortzusetzen, wie sie in der Rede von der "doppelten Vergangenheit" oder "doppelten Diktaturerfahrung" zum Ausdruck kam. Damit fiel nicht nur methodisch, sondern auch inhaltlich eine Vorentscheidung für die Konzentration auf den Unterdrückungsapparat und seine Praktiken. Diese Vorentscheidung war ein Vorgriff auf einen schwierigen Prozess der Annäherung an die historische Wahrheit - im Westen bekanntlich eine Generationen-Aufgabe; in diesem Falle schien er jedoch eine aktive Auseinandersetzung zu erübrigen: Die Entscheidungen ließen sich quasi amtlich treffen, entweder durch die ermittelnde Staatsanwaltschaft oder durch die Befunde der sog. Gauck-Behörde.

Diese Konkretisierung und Einengung der Aufarbeitungspraxis bewirkte allerdings, dass andere DDR-Wirklichkeiten zunächst unterbelichtet blieben. Der Alltag, die konkreten Verantwortlichkeiten, Leistungen und Fehlleistungen, mit denen die Mehrheit zu tun hatte, ließen sich nicht in Täter- oder Opferkategorien erfassen. In dem Maße, wie die politische Verfolgungspraxis zum alles überlagernden Bild von der DDR-Vergangenheit wurde, trennte sich dieser Diskurs mehr und mehr vom Selbstverständnis der ostdeutschen Gesellschaft ab. Als Reaktion entstand eine eigene Form der Vergangenheitsbearbeitung, eine offene oder subversive Wiederbelebung kultureller Restbestände und Eigenheiten - für die einen Nostalgie, für die anderen trotziger Widerspruch gegenüber einer westlich dominierten Sicht auf das Leben in der DDR. Je nach Perspektive der Betroffenen und Beobachter - ihnen begegnete irgendwie immer eine "verkehrte" Welt des Ostens: eingeklemmt zwischen belasteter Vergangenheit und fehlender Zukunft.

Diese Einschätzung setzt sich leicht dem Vorwurf aus, die umfangreichen Bemühungen zum Thema Vergangenheit, die insbesondere auch im Rahmen der politischen Bildung stattgefunden haben, zu missachten. Hier geht es aber um die unvoreingenommene Charakterisierung des Dilemmas, dem alle Aktiven in diesem Prozess Tribut zollen. Die seit Mitte der neunziger Jahre wachsende Verweigerung des Interesses an der Vergangenheitsbearbeitung in der ostdeutschen Bevölkerung kann uns nicht gleichgültig sein. Der Hinweis auf die parallele Entwicklung in der Nachkriegszeit bietet sich an, würde aber dann nichts anderes besagen, als dass man in vielem gescheitert sei. Dem lässt sich allerdings eine Menge entgegenhalten, gerade eingedenk des oben geschilderten Dilemmas. Erst wenn man sich die Voraussetzungen und Unterschiede im historischen Vergleich bewusst macht, wird man ein faires Urteil fällen können. Die Geschichte hat sich nicht wiederholt, auch wenn es manchem so erscheint. Für die Ostdeutschen bedeutete der frei gewählte Übergang in die Bundesrepublik etwas anderes als für die Westdeutschen der demokratische Wiederaufbau nach dem verlorenen Krieg. Dieser Unterschied mag im Hinblick auf konkrete Schuld nichts bedeuten, im Hinblick auf die Gesellschaft ist er gewaltig.

Diese komplexen Zusammenhänge wie Unterschiede sind nun ein starkes Argument für politische Bildung auf allen Ebenen. Fehlendes Wissen und Privatisierung der Erinnerung können nur durch eine systematische Auseinandersetzung mit der ostdeutschen Vergangenheit - auch im Kontext der westdeutschen Parallelgeschichte - überwunden bzw. ergänzt werden. Generell bedarf es dazu eines Klimas der Respektierung unterschiedlicher Erfahrungen wie unterschiedlicher politischer Kontexte - eine Grundvoraussetzung, die gerade demokratische politische Bildung in der Praxis auszeichnet. Im Unterschied zur juristischen Aufarbeitung, politischen Auseinandersetzung und öffentlichen Wertung moralisch-politischen Versagens bietet politische Bildung die Möglichkeit, im Respekt vor den und mit Einfühlungsvermögen in die geschichtlichen Umstände Einsichten zu liefern, die Betroffene und Nichtbetroffene teilen und so zum Bestandteil der kollektiven Erinnerung, zu Aspekten einer gemeinsamen Geschichte machen können.

III. Vergangenheit als Zukunft

Die Beobachtung der öffentlichen Debatten der vergangenen zwölf Jahre zeigt, dass Ostdeutschland und Ostdeutsche in ihnen überwiegend im Zusammenhang mit "Vergangenheit" vorkommen. "Zukunft" und Osten zusammen zu denken lag demgegenüber nicht nahe. Ein Grund dafür ist folgender: Ostdeutscher Maßstab für die Zukunft war immer schon das Ankommen in der westdeutschen Gegenwart. Mit anderen Worten: Die ostdeutsche Gegenwart war der über 40 Jahre verweigerte Anschluss an die Zukunft. Auch auf den Modus der Vereinigung angewandt, meinte Jürgen Habermas, hier sei die "Zukunft in der Vergangenheitsform wahrgenommen worden". Alles erinnere an die Konstellationen der fünfziger Jahre: Die "Bilder von damals ... nehmen ... Phantasie in Beschlag, deren Beweglichkeit für die Bewältigung von Zukunftsproblemen doch nötig wäre". Der Grund, weshalb die Leitbilder dieses politischen Großunternehmens überwiegend der Vergangenheit entliehen wurden, sei die unabsehbare Dimension des Systemwechsels. Sie rufe eine "wortmagische Bezähmung der Angst vor unbekannten Risiken" hervor. Wie bei den Anfängen der Fliegerei, als man erst einmal von "Luftschiffahrt" sprach, könne man nun den "beschwörenden Rückgriff auf das Modell der Währungsreform von 1948" erleben. Für den im Osten begonnenen gesellschaftlichen Umbau fungiere daher der Bezug auf die "Vergangenheit als Zukunft" Zur Auflösung der Fußnote[6] .

Dahinter stand die allgemeine Überzeugung, dass das Ziel der politischen Umgestaltung bekannt sei: "Keine Experimente!" lautete die Botschaft aus dem Osten. Der Amerikaner Francis Fukuyama interpretierte diese Entwicklung dann universell in seinem berühmt gewordenen Aufsatz "Das Ende der Geschichte?" als die "völlige Erschöpfung aller Alternativen ..., das Ende der ideologischen Entwicklung der Menschheit", als den "Triumph des wirtschaftlichen und politischen Liberalismus" Zur Auflösung der Fußnote[7] . Auf der Tagesordnung stehe folglich, das Bewährte und Bestätigte zu vollziehen. Das Motto lautete demnach: "Zurück in die Zukunft". Die "Rückkehr nach Europa" war Programm auch der osteuropäischen Bürgerbewegungen. Der Soziologe Heinz Bude stellte noch im zehnten Jahr der deutschen Vereinigung fest: "1989 symbolisiert nicht den Vorboten von etwas Neuem, sondern die Vollendung von etwas Bekanntem." Zur Auflösung der Fußnote[8]

Der wissenschaftliche Leitbegriff für den postkommunistischen Transformationsprozess hieß entsprechend "nachholende Modernisierung". Das Interesse der politik- und sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung richtete sich folgerichtig nicht auf das Ziel, sondern auf den Übergang. Deshalb vielleicht blieb das Interesse der Wissenschaft, auf die Dauer gesehen, begrenzt. Über den Zeitraum von fünf Jahren wurden in der Bundesrepublik eine Reihe zusätzlicher Programme zur Erforschung des sozialen und politischen Wandels im Osten finanziert. Politik wie Sozialwissenschaften waren primär daran interessiert zu erfahren, auf welchem Wege und in welchen Zeiträumen sich die ostdeutschen Bundesbürger an die für sie neuen Institutionen anpassen würden. An die Frage, auf welchem Wege werden die Bürger die Institutionen an ihre Verhaltensmöglichkeiten und Bedürfnisse anpassen, wurde offenbar gar nicht gedacht.

Wo man nicht sucht, wird man aber auch nicht fündig. Trotz des historisch präzedenzlosen Vorgangs und für den Staat wie für seine Bürger sehr kostspieligen Unternehmens der Deutschen Einheit gibt es bis heute kein den damit verbundenen Problemen wirklich angemessenes sozialwissenschaftliches Forschungsengagement - weder ein spezielles Institut oder Programm im Osten, das etwa bearbeitet, was es bedeutet, dass diese Transformation inzwischen eine "Generationen-Aufgabe" geworden ist.

IV. Neue Zeithorizonte

1990 prognostizierte der Soziologe Ralf Dahrendorf für den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbau der postkommunistischen Länder Mittel- und Osteuropas folgenden Zeitbedarf: Für die Einführung politischer Demokratie und rechtsstaatlicher Verhältnisse veranschlagte er sechs Monate, für den Übergang zur Marktwirtschaft sechs Jahre und für die Entwicklung einer Zivilgesellschaft sechzig Jahre. Zur Auflösung der Fußnote[9] Nach dieser Prognose liegen die meisten Länder durchaus im Zeitplan. Demokratie und Marktwirtschaft mögen noch unvollkommen entwickelt sein, sie sind aber in den meisten Ländern stabil und von der Bevölkerung akzeptiert. Das trifft auf die acht Staaten Ostmitteleuropas zu, die als Beitrittskandidaten zur Europäischen Union feststehen. Diese Länder hatten länger als Ostdeutschland mit starken wirtschaftlichen Einbrüchen zu kämpfen. Seit 1996, also nach den genannten sechs Jahren, erreichten sie aber in der Regel ein im Vergleich zu Westeuropa höheres wirtschaftliches Wachstum. Zur Auflösung der Fußnote[10]

Ostdeutschland war von Anfang an ein Sonderfall. Politisch in die Bundesrepublik integriert, finanziell und sozial abgesichert, stand es privilegiert außerhalb des Vergleiches. Die ökonomische Aufholphase - gekennzeichnet durch höhere Wachstumsraten als im Westen - begann hier früher und kräftiger. Aber sie endete im sechsten Jahr. Gewiss muss man hinzufügen, dass das Niveau der erreichten Produktivität und entsprechend das Bruttoinlandsprodukt im Durchschnitt fast doppelt so hoch ist wie in den Beitrittsländern. Rechnet man die finanziellen Transfers aus der wirtschaftlichen Gesamtrechnung heraus, ergäbe sich eine andere Lage. Es gibt wettbewerbsfähige Unternehmen, aber noch keine hinreichende Basis für eine sich selbst tragende wirtschaftliche Entwicklung.

Der Zeithorizont für den Aufbau Ost hat sich entsprechend verschoben. Von der Vorstellung einer Wiederholung des westdeutschen Wirtschaftswunders auf ostdeutschem Boden - wie damals innerhalb eines Jahrzehnts - haben wir uns schon verabschiedet. Am zehnten Jahrestag der deutschen Vereinigung wurde von der "Hälfte des Weges" gesprochen. Heute ist von einer "Generationen-Aufgabe" die Rede. Dahinter stehen jene dreißig Jahre, mit denen der Solidarpakt II für die Aufhebung der "teilungsbedingten Unterschiede" bis ins Jahr 2019 rechnet. Politisch könnte das realistisch sein. Praktisch bedeuten dreißig Jahre für den Einzelnen, die eigene Lebensplanung mit den Zukunftsaussichten Ostdeutschlands abzugleichen.

Das betrifft besonders die kommende Generation in Ostdeutschland - jene in den achtziger Jahren geborenen, geburtenstarken Jahrgänge, deren Beitrag für die Vollendung des Aufbaus Ost noch gefordert sein wird und auf deren Identifikation mit diesem Ziel es ankommen wird. Diese Generation erlebt nun, dass der ostdeutsche Arbeitsmarkt sie nicht aufnehmen kann. Weil sich der Gesamtbestand an Arbeitsplätzen im Osten seit 1993 nicht erhöht hat, werden per saldo nur Arbeitsplätze besetzt, die aus Altersgründen geräumt werden. Seit 1996 gehen jährlich nur rund 100 000 Erwerbstätige in den Ruhestand, während ca. 200 000 Heranwachsende pro Jahrgang auf den Arbeitsmarkt drängen. Das Beschäftigungssystem bietet also nur für jeden zweiten Jugendlichen eine frei werdende Stelle. Die Folgen sind bekannt: Abwanderung hochmotivierter Jugendlicher in den Westen.

Der neue, realistische Zeithorizont bedeutet also, dass die Politik vor allem versuchen muss, für die nächste Generation im Osten nicht nur ein Fundament, sondern eine Brücke zu bauen. Das Problem ist, dass die Brücke zu einem Ufer führen muss, das wir noch nicht kennen. Der Westen wird nicht dort stehen bleiben, wo er heute ist. Längere Zeit galt die Hoffnung: Der Osten ist schneller und findet so Anschluss. Für eine beschleunigte Entwicklung des Ostens spricht inzwischen immer weniger, wie uns die vergangenen Jahre lehrten. Also kommt es auf ein gemeinsames neues Ziel und auf das Ufer an, das auf verschiedenen Wegen erreicht werden muss. Wenn wir bereit sind, diese Schlussfolgerung für eine neue Wegbestimmung zu ziehen, dann sollte das auch für die politische Bildung Folgen haben: für das nötige neue Orientierungswissen wie für die individuellen Kompetenzen, die vermittelt werden müssen, um mit den derzeitigen wie den künftig auftauchenden Problemen umzugehen.

V. Neue Leitbilder und Lernprozesse

Der Politologe Claus Offe gebrauchte vor einigen Jahren das merkwürdige Bild vom "Tunnel am Ende des Lichtes" Zur Auflösung der Fußnote[11] . Er wollte darauf aufmerksam machen, dass der Transformationsprozess nach den oft unrealistischen Erwartungen des Aufbruchs auf einen sehr langen Weg führt, der noch im Dunkeln liegt. Die Voraussetzung dafür, dass man sich auf diesen Weg begibt, sei ein gewisses Maß an Vertrauen - zum einen, dass der Weg zum Ziel führt, und des Weiteren, dass die Chancen einigermaßen gerecht verteilt sind und eine Mehrheit das Ziel für erreichbar hält. Unter dieser Voraussetzung bedeutet der vor uns im Dunkeln liegende Weg, dass wir über das Ziel nur auf dem Weg dahin etwas lernen. Wir werden also die vorgegebenen Leitbilder überprüfen und uns für die Möglichkeiten, Neues zu lernen, öffnen müssen. Gewiss auch in der politischen Bildung.

An Leitbildern, an negativen wie positiven Prognosen für den Aufbau Ost hat es nicht gefehlt. Sie reichen vom "Mezzogiorno Deutschlands" über das eines sozial- und wirtschaftspolitischen Experimentierfeldes ("Minenhund des Westens", Lothar Späth) bis zur "Europäischen Verbindungsregion" (Wolfgang Thierse). Gemeinsam ist den optimistischen Szenarien, dass sie bei bestimmten Standortvorteilen Ostdeutschlands ansetzen und Modernisierungsvorsprünge nutzen wollen - am besten solche, die für die Entwicklung des ganzen Landes Modellcharakter haben könnten. Dies trifft beispielsweise zu für den Ersatz alter Industrien durch moderne Dienstleistungs-Ökonomien. Für ein eigentändiges Leitbild ostdeutscher Modernisierung bedarf es der Kombination von Faktoren, die für eine neu zu bemessene Übergangszeit bestimmte Bedingungen Ostdeutschlands als Vorteile ins Spiel bringen. Solche Vorteile könnten durch "Modellprojekte" in Regionen erprobt und entwickelt werden, z. B. durch die Anwendung neuer regionalpolitischer Instrumente und Formen der öffentlichen Förderung, durch Innovationen im Bildungsbereich und vor allem durch strategische Vorleistungen, die Ostdeutschland - entsprechend seiner Nachbarschaft zu den künftigen Beitrittsländern - als bevorzugten Partner qualifizieren. Schließlich geht es darum, eigene Potenzen, die Ostdeutschland im europäischen Vergleich hat, wahrzunehmen.

Welche Konsequenzen wären daraus zu ziehen, und welche Kapazitäten sind zu schaffen, um solche neuen Konzepte, um realistische Etappenziele zu entwickeln? Wenn das Ziel der Angleichung über den bloßen "Nachbau" nicht zu erreichen ist, muss das Leitbild für die Zukunft Ostdeutschlands im offenen Prozess, im Versuch und Irrtum ermittelt werden. Die Alternative zum Transfer, zur passiven Übernahme, ist ein aktiver Suchprozess. Suche aber bedeutet Experimentieren und Lernen. Wie jeder Lernprozess findet er nur statt, wenn die tatsächliche Rückkopplung der Ergebnisse des Experimentierens an Institutionen, politische Strategien und weiteres Handeln gegeben ist.

Das fundamentale Problem Ostdeutschlands besteht darin, dass auf den meisten Gebieten bislang keine hinreichenden Lernprozesse stattfinden. Wo experimentiert wird, werden befristete "Übergangslösungen" probiert, selten längerfristige Lernprozesse in Gang gesetzt. Deshalb bleiben neue Anläufe stecken, ohne die erhofften Ergebnisse und Innovationen. Es mangelt an Rückkopplung, es fehlt ein entsprechendes Interesse - und deshalb an öffentlicher, medialer Wahrnehmung - sowie an wissenschaftlicher Reflexion, welche die Ergebnisse in bestimmte Förderprogramme oder regionale Entwicklungsmodelle übersetzen könnte. Dem Vorwurf der Politik, dass die Bürger passiv sind und warten, dass der Staat alles richtet, steht am Ende immer die Sicht des Bürgers entgegen, der über fehlende Handlungsspielräume klagt.

VI. Institutionen und Systemwechsel

Der 1990 in Gang gesetzte Institutionen-Transfer von West nach Ost zählt zu den großen Erfolgen des deutschen Vereinigungsprozesses. Er garantierte politische Stabilität, Rechtsgleichheit und solidarischen Ausgleich - in gewisser Weise auch Gleichheit durch Wohlstand, wenn nicht sofort, so doch in absehbarer Zeit. Dies alles vorausgesetzt, einschließlich der Tatsache, dass inzwischen viele Ostdeutsche dieses Niveau an Gleichheit durch Wohlstand teilen und schätzen, überdauerte das Problem der Fremdheit und Distanziertheit zu den westlichen Institutionen. Hier wird man ansetzen müssen, wenn man die bis in die Politik reichenden Tendenzen der Lähmung und Ratlosigkeit überwinden will.

In Ostdeutschland kam es nach einer Phase der euphorischen Zustimmung zur neuen Ordnung zu einer nüchternen Distanzierung, die seit etwa 1993 anhält. Trotz einer deutlichen Mehrheit derer, die das Leben in einer demokratischen Gesellschaft für "wichtig" oder "sehr wichtig" bezeichnen (2001: 60 Prozent; 1990: 88 Prozent), sind es derzeit nur noch 42 Prozent, die den Wert eines pluralistischen Parteiensystems schätzen (1990: 90 Prozent). Das Vertrauen in die demokratischen Institutionen nimmt zwar seit 1993 leicht zu, aber auf niedrigstem Niveau. "Viel" oder "volles" Vertrauen genießen im Jahr 2001 die Bundesregierung nur bei 11 Prozent, der Bundestag bei 10 Prozent und die Gerichte bei 22 Prozent der Bevölkerung im Osten. Am besten bewertet werden die Polizei mit 33 Prozent und die lokale Verwaltung mit 27 Prozent. Zur Auflösung der Fußnote[12]

Die schwache gesellschaftliche Verankerung der demokratischen Institutionen beruht also nicht auf prinzipieller Ablehnung der Demokratie. Richtig ist jedoch, dass der Sinn der Institutionen nicht durch eine entsprechende Gesinnung untermauert ist. Man könnte dabei von einer Art genetischem Schaden der Umgestaltung im Osten sprechen. Eine Erklärung dafür wäre ein mitgebrachter Schaden; das Fehlen einer Zivilgesellschaft, gesellschaftlich verankerter Assoziationsstrukturen, in denen Willensbildung und Interessenvertretung stattfinden - ein Ergebnis der Zwangsverschmelzung von Gesellschaft und politisch-staatlicher Macht in der DDR. Dann hätte es im demokratischen Systemwechsel darum gehen müssen, zunächst diejenigen gesellschaftlichen Gruppen, die über organisatorische Erfahrungen verfügen und zur Artikulation und Zusammenführung sozialer wie politischer Interessen in der Lage waren, zu fördern, um damit Identifikationsprozesse einzuleiten. Wie mühsam dieser Weg ist, kann man in den osteuropäischen Ländern studieren. Er wurde 1990 in Ostdeutschland jedoch gar nicht erst gewählt, weil er nicht nötig schien.

Eine andere Erklärung, die der ostdeutschen Problematik näher kommt, ist die von Claus Offe vertretene These von der "nachahmenden" statt wirklich "nachholenden" Modernisierung. Sie ist gekennzeichnet durch den schnellen Import westlicher Institutionen, deren Einsetzung "von oben", Eliten-gesteuert und scheinbar für Zweckbestimmungen geschaffen, auf die sich zunächst nur westliche Akteure verstanden - ganz im Gegensatz zur Geschichte der westlichen Demokratien, in denen die Institutionen "von unten", gegen einen feudalen Staat erkämpt wurden und als Errungenschaften für sich selbst stehen. Zur Auflösung der Fußnote[13] Im Osten verkörpern nur wenige Einrichtungen - wie das Institut der freien Wahl - das Ergebnis eines erkämpften, mitgestalteten politischen Prozesses. Vielleicht ist dies eine Ursache dafür, dass der bewusste Umgang mit dem demokratischen Wahlsystem die Ostdeutschen am meisten auszeichnet.

Die Tatsache, dass die "westlichen Standards" praktisch nach einer "nichtwestlichen" Logik von "oben" nach "unten" eingeführt wurden, ist eine der Paradoxien des postkommunistischen Systemwechsels. Die "nachholende" Modernisierung im Osten - also die "Entstaatlichung" der Gesellschaft - geschieht hier als Staatsaufgabe. Dass dies eine lösbare Aufgabe sein kann, dafür steht die Geschichte der Demokratisierung der Nachkriegsgesellschaften der Bundesrepublik oder Österreichs unter Anleitung von außen: Erfolgreich war dieser Prozess, weil er begleitet war von sozialen Reformen und ökonomischem Wachstum. Die heutigen Transformationsgesellschaften müssen den Demokratisierungsprozess in einer Zeit tiefer ökonomischer Krise mit hohen sozialen Kosten leisten - und in einer Phase, in der das demokratische Institutionensystem der westlichen Demokratien selbst vor tief greifenden Veränderungen steht und keineswegs als unhinterfragtes Modell taugt, das nur übernommen werden muss.

Allerdings handelt es sich im Osten um ein diametral anderes Problem als im Westen: Während sich im Westen das Zukunftsproblem als Infragestellung der Grundlagen eines vorhandenen Gesellschaftsvertrages abzeichnet, kommt es im Osten darauf an, einen solchen Gesellschaftsvertrag erst zu schaffen. Dazu bedarf es der Herausbildung einer Zivilgesellschaft, die den institutionellen Rahmen ausfüllt oder neu aushandelt. Im Westen geht es dagegen um die Reform der Institutionen, um sie der weiteren Entwicklung der Zivilgesellschaft anzupassen. Der Osten muss die Institutionen erst für sich entdecken, der Westen muss ihren Sinn erneuern. Die Gleichheit im Ergebnis könnte ein Ziel sein - solange sie nicht den Unterschied der Prozesse verdeckt, und damit den der Mittel und der Akteure: Im Osten geht es zuerst um die Stärkung der gesellschaftlichen Akteure, denen die neuen Institutionen Möglichkeiten und Repräsentanz verschaffen müssen.

VII. Eine neue Agenda für die politische Bildung

Epochenwechsel, politische Umbrüche oder Systemkrisen stellen tradiertes politisches Wissen in Frage: Alle klassischen politischen Theorien wurden geradezu als Reflex auf epochale Krisen- und Unordnungserfahrungen formuliert. Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes betraf das zunächst bestimmte Aspekte des politischen Koordinatensystems, wie zum Beispiel den Wegfall der prägenden Antagonismen, ausgedrückt in den Systemalternativen "Demokratie oder Diktatur", "Sozialismus oder Kapitalismus". Trotzdem hinterließ die Wende von 1989/90 auch hier Legitimationsfragen - nicht nur in Bezug auf tragende Institutionen, die aufgrund der Systemkonfrontation entstanden waren, wie die Nordatlantische Verteidigungsgemeinschaft, sondern auch auf die Integration Westeuropas. Der Ost-West-Konflikt und das Bekenntnis gegen den Kommunismus waren ihrerseits ein "Eckstein des westlichen demokratischen Ethos" Zur Auflösung der Fußnote[14] , des demokratischen Selbstbehauptungswillens. Es fällt mit dem Objekt dieses Bekenntnisses auch ein identitäts- und gemeinschaftsstiftendes Moment weg. Was bedeutet das für die westlichen sozialstaatlichen Ordnungen, für Freizügigkeit und Liberalität, die in dieser Auseinandersetzung Markenzeichen der Demokratien waren?

Erst jetzt stellt sich das ganze Ausmaß der Veränderungen, die Dramatik der internationalen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungen dar - und damit auch das Ausmaß der zur Lösung anstehenden Probleme. Die zeitverschobene Bewusstwerdung dieser Lage hat damit zu tun, dass die Systemkrise und der Systemwandel von 1989/90 nur für einen Teil der deutschen und europäischen Gesellschaften unmittelbare Bedeutung hatte. Für den Westen bedeutete der Zusammenbruch des Kommunismus ohnehin keine Infragestellung der eigenen gesellschaftlichen Verfassung, sondern deren willkommene Bestätigung. Die politische Tagesordnung hieß deshalb nicht Reform im Westen, sondern Rekonstruktion im Osten.

Allmählich aber wird deutlich, dass die Veränderungen im Osten sich auch auf die politische Agenda im Westen auswirken. Zunächst galten z. B. Gewaltausbrüche wie die in der ersten Hälfte der neunziger Jahre einsetzenden ausländerfeindlichen Übergriffe oder die Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien als Übergangsprobleme des Ostens, also als gesellschaftliche bzw. geographische Randphänomene. Dass sie Rückwirkungen auf die Verhältnisse im ganzen Land oder ganz Europa hatten, musste erst gelernt werden. Noch weniger ist bewusst, dass die Öffnung der postkommunistischen Länder für die Marktwirtschaft Teil einer globalen Marktöffnung und der neuen internationalen Arbeitsteilung ist, deren Auswirkungen auf die Arbeitswelt und Sozialordnungen immer spürbarer werden. Solange die Vorteile dieses Prozesses vor allem bei uns lagen, war das Interesse an diesen Fragen gering.

Der Ruf nach Reformen, die Rede vom Reformstau am Ende der neunziger Jahre, hatte diese neuen Herausforderungen noch nicht im Blick. Die unter dem Stichwort "Globalisierung" geführten Debatten bieten aber eine Chance, die Aufmerksamkeit des Westens erneut auf bestimmte Entwicklungsprobleme des Ostens zu lenken. Ein wichtiger Zugang ist die wachsende Überzeugung, dass eine gesamteuropäische Antwort auf die globalen Probleme auch im Interesse Westeuropas ist. Die Osterweiterung der Europäischen Union ist keineswegs nur die Einlösung eines längst gegebenen politischen Versprechens, sondern ein Aspekt der Antwort auf die globalen Herausforderungen, vor denen das europäische Gesellschaftsmodell steht. Dahinter steht die Einsicht, dass der Westen (Deutschlands wie Europas) nur durch Integration und damit durch die Ausdehnung seiner Standards auf die Nachbarn im Osten sein eigenes Modell bewahren und weiterentwickeln kann. Nicht zufällig ist es die Bundesrepublik, die als stärkster Befürworter einer solchen Integrationspolitik auftritt. Sie erfährt im eigenen Lande, dass ein starkes Entwicklungsgefälle mit hohen Kosten verbunden ist - und dass dieses Gefälle langfristig auf die eigenen Verhältnisse negativ zurückwirkt. Der Schritt von der Ignoranz zur Akzeptanz einer neuen Realität ist gewiss ein Lernprozess, auch für die politische Bildung.

Wenn politische Bildung sich auf der "zweiten Hälfte des Weges" beim Aufbau Ost diesen zentralen Themen stellt, dann geht es um eben diese Fragen der gemeinsamen Zukunft. Politische Bildung für diese Zukunft ist zum Beispiel das Erlernen der Fähigkeit, mit Menschen verschiedener Kulturen zusammenzuleben. Das ist ein Thema Europas, und Europa ist das eigentliche große Thema der politischen Neugestaltung dieses Jahrzehnts.

"Die Vereinigung Deutschlands findet in einem vereinigten Europa statt." Dies war die Vision der Generation, welche die deutsche Teilung erlebte und sie überwinden wollte. Sie hat Recht bekommen und wird hoffentlich Recht behalten - auch was die Vollendung der Einheit betrifft. Schon deshalb ist es nötig, auch im Osten das Lernziel weiter zu stecken und überhaupt zu begreifen, dass es eines neuen Lernprozesses bedarf, einschließlich der Mittel und Träger dafür. Dies sind insbesondere die freien Träger der politischen Bildung, die auf die Förderung durch Bund und Länder angewiesen sind. Sie können besonders im Osten jene Lern- und Reflexionsräume bereitstellen, die eine demokratische Infrastruktur benötigt. Sie vermitteln lokale Angebote für politische Partizipation, Begegnung und Kompetenzerweiterung. Die Kosten für diese Investition in eine bürgernahe und pluralistische politische Bildung - verstanden als Veranstaltungen praktischen politischen Lernens und direkter Demokratie - stehen anderen Investitionen in ihrer Bedeutung für die Zukunft nicht nach.