Einleitung
Die PISA-Studie, der internationale Vergleich der Schulleistungen, steht immer noch im Zentrum der bildungspolitischen Diskussion. Völlig verdeckt wird offenbar davon ein Gutachten zur Schulentwicklung, das im Jahr zuvor die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung in Bonn vorgelegt hatte mit dem Titel "Demokratie lernen und leben". Es enthält ein Programm gegen Schulverdrossenheit, gegen Gewaltbereitschaft und gegen die Verführung durch rechtsextremes Gedankengut, das Jugendlichen häufig als Kompensation demütigender Erfahrungen in der Schule dient. Schule soll - so das Gutachten - den Schülerinnen und Schülern die Chance geben, die Erfahrung der eigenen Kompetenz zu machen, sich Demokratie fördernde Verfahren und Verhaltensweisen anzueignen, und sie soll dadurch zugleich der demokratischen Entwicklung von Gesellschaft und Politik dienen.
Dieses Reformprogramm für eine demokratische Schulkultur aus dem Jahre 2001 war auch der Kern der Umerziehungspolitik der westlichen Besatzungsmächte gewesen, als sie nach der Niederlage und Befreiung Deutschlands von der Naziherrschaft 1945 darangingen, in ihren Besatzungszonen gegenüber dem besiegten Gegner nicht eine Vernichtungspolitik, sondern eine Erziehungspolitik zu verfolgen. Eine Erziehung zur Demokratie und zu demokratischem Verhalten sollte die Wiederkehr nationalsozialistischer Bestrebungen unmöglich machen und die Wiederholung totalitärer Herrschaft in Deutschland verhindern.
2001 und 1945: Man fragt sich, ob denn die Zeit stehen geblieben sei, wenn heute offenbar ein Gutachten "Demokratie lernen und leben" - immer noch oder wieder? - notwendig ist. Muss der Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg wiederholt werden? Was ist in der Zwischenzeit geschehen oder nicht geschehen? Die folgenden Abschnitte versuchen eine Antwort auf diese und andere Fragen zu geben.
I. Bildungsreform von außen: die so genannte "Re-education"
Die Niederlage der Deutschen 1945 war endgültig und tief greifend. Mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Streitkräfte am 7. und 8. Mai hörte der deutsche Staat auf zu existieren. Deutschland war von den alliierten Truppen vollständig besetzt. Die Zerstörungen durch den Land- und Luftkrieg waren unermesslich. Millionen von Menschen befanden sich auf der Flucht vor den sowjetischen Truppen. Zu der militärischen Niederlage kam die moralische Katastrophe des deutschen Volkes. Der noch im November 1945 beginnende Kriegsverbrecherprozess in Nürnberg führte allen Menschen die Verbrechen der NS-Diktatur vor Augen. Die blutige Herrschaft der Deutschen in den von ihnen besetzten Gebieten und die systematische Vernichtungspolitik waren so unglaublich, dass beispielsweise in der amerikanischen Diskussion um die Nachkriegspolitik psychopathologische Begriffe verwendet wurden. Es wurde von den "mentally sick German people" gesprochen.
Es entsprach dieser Diagnose, wenn auf die "Entnazifizierungspolitik" die Politik der "Umerziehung zur Demokratie" folgte. Für die Amerikaner standen dabei die Reform des Bildungswesens und seine Demokratisierung im Mittelpunkt. Ihr Ziel war die Übertragung des amerikanischen Schulsystems in ihre Besatzungszone, und das bedeutete: Stufen- oder Einheitsschule (heute würden wir sagen: Gesamtschule), egalitäre Erziehung mit Chancengleichheit, kooperatives Verhältnis zwischen Lehrer und Schülern, Erziehung zur Selbstständigkeit im Denken und Handeln, Vermittlung von demokratischen Grundwerten sowie Einführung eines Unterrichtsfaches für die politische Bildung - analog zu den "Social Studies" in den USA.
Leitend war die amerikanische Idee von der Demokratie als Lebensform. Schon 1916 hatte der amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey in seinem Buch "Demokratie und Erziehung" geschrieben: "Die Demokratie ist mehr als eine Regierungsform; sie ist in erster Linie eine Form des Zusammenlebens, der gemeinsam und miteinander geteilten Erfahrung."
1946 zog eine amerikanische Erziehungskommission, welche die Besatzungsmacht beriet, eine bildungspolitische Folgerung: Wenn die Familie "in ihrer inneren Gestalt ausgeprägt ,preußisch' bleibt, so wird die Demokratie bereits an der Quelle vergiftet"
Die Briten gingen etwas vorsichtiger vor. Das Wort "Re-education" wurde von ihnen früher als bei den Amerikanern vermieden. Man merkte, dass die deutsche Übersetzung "Umerziehung" von den Deutschen nur schwer akzeptiert wurde. Später hieß es "Reorientierung". Die Briten folgten vor allem dem Prinzip der Nichteinmischung, der indirekten Lenkung und Förderung, und das übernahmen später auch die Amerikaner. Bei beiden Besatzungsmächten dienten dann die Einladungen, z. B. die zu den "Wilton Park Conferences" in England für Teilnehmer aus der britischen Besatzungszone
II. Restauration des deutschen Bildungssystems
Wandel der weltpolitischen Situation
Zwei Jahre nach Beendigung des Kriegs wurde der "Kalte Krieg", die bipolare Blockkonfrontation unter den Führungsmächten USA und Sowjetunion, wahrnehmbar. Er begann 1947 mit der Verkündigung der Truman-Doktrin des amerikanischen Präsidenten ("... dass es die Politik der Vereinigten Staaten sein muss, die freien Völker zu unterstützen"
In dieser Situation gab es jedoch Konflikte mit den politischen Parteien, weil keine von ihnen die Besatzungspolitik insgesamt unterstützte. Die CDU und die CSU der westlichen Besatzungszonen entwickelten sich immer mehr zu marktwirtschaftlich orientierten Parteien, waren aber im Gegensatz zu den Amerikanern bildungspolitisch konservativ, strebten also die Restauration des alten Schulsystems an. Die SPD hingegen war bildungspolitisch progressiv und bewegte sich in dieser Hinsicht auf der Linie der Amerikaner, aber sie hatte ein planwirtschaftliches Wirtschaftsprogramm, das mit den Vorstellungen der westlichen Alliierten kollidierte. Die Westalliierten und vor allem die Amerikaner arbeiteten immer mehr mit den Unionsparteien zusammen, weil sie diese zur Unterstützung ihrer antikommunistischen und marktwirtschaftlichen Politik brauchten. Dafür mussten sie aber auf die Bildungsreform verzichten, weil sie diese nur mit Hilfe der SPD hätten durchführen können. Im Dilemma zwischen außenpolitischer und wirtschaftspolitischer Stabilisierung einerseits und bildungspolitischer Reform andererseits erhielten die Außen- und Wirtschaftspolitik Vorrang; bei der Bildungspolitik mussten Abstriche gemacht werden; sie wurde zur Sache allein der Deutschen erklärt.
Widerstände gegen die alliierte Bildungspolitik
Ein Konflikt in der amerikanischen Besatzungszone ist für dieses Dilemma exemplarisch. In der amerikanischen Besatzungszone war mit den Landtagswahlen vom 1. 12. 1946 der parlamentarische Aufbau der Länder Bayern, Hessen und (damals noch) Württemberg-Baden abgeschlossen. Die von oben ernannten Ministerpräsidenten bekamen jetzt eine parlamentarische Legitimation. Trotzdem zwang die amerikanische Besatzungsmacht den bayerischen Kultusminister Alois Hundhammer, ihr Bildungsprogramm dem Landtag vorzulegen. Als dieser ablehnte, eskalierte der Konflikt zur Auseinandersetzung mit der demokratisch gewählten Volksvertretung. Die Amerikaner sahen sich mit ihrem selbst geschaffenen Anspruch konfrontiert, die Demokratie nach Deutschland zu bringen. Der Konflikt endete mit einem Kompromiss, aber dadurch unterblieb letztlich die Reform des bayerischen Schulsystems.
In den anderen Ländern war es nicht viel anders. In Niedersachsen griff die britische Besatzungsmacht selbst dann nicht ein, als der sog. Grimme-Plan des niedersächsischen Kultusministers, der eine einheitliche Schule für die Sekundarstufe I bis zum 8. Schuljahr vorsah, wegen des heftigen Widerstandes der Pädagogen aus dem Gymnasium nicht durchgesetzt werden konnte. Auch der französischen Besatzungsmacht, die ihr eigenes, laizistisches Schulsystem in der französischen Zone einführen und dadurch die Wiederkehr des Gymnasiums vermeiden wollte, gelang es nicht, gegen die Kultusverwaltungen der Länder ihrer Zone und gegen die Kirchen die Wiederherstellung des dreigliedrigen Schulsystens mit Volksschule, Realschule und Gymnasium sowie der Konfessionsschule zu verhindern.
Waren das restaurative Tendenzen? Restauriert wurde ja nicht die NS-Schule mit ihrem Zentralismus, der Umwandlung des Gymnasiums in die "Deutsche Oberschule" und der Abschaffung der Konfessionsschule, sondern die Schule vor der NS-Zeit. Dass die Nationalsozialisten das Gymnasium angetastet hatten, gab vor allem den Politikern der Union moralischen Rückhalt, auf der Wiederherstellung des traditionellen Gymnasiums als Mittel der Umerziehung zu bestehen. Sicherlich war dies ein Antifaschismus, aber ein restaurativer; man suchte die Ursache des Nationalsozialismus im "Abfall von Gott"
Inzwischen wissen wir, dass der soziale Wandel, den die Amerikaner durch ihre egalitäre Schulreform bewirken wollten, damals längst im Gange war. Martin Broszat sprach von einer stark nivellierten "Notgesellschaft", die sich schon seit 1943 und dann vor allem durch Flucht und Vertreibung herausgebildet hatte und die "die ganze deutsche Gesellschaft durchschüttelte"
Fehlende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit
Schon früh hatten die Kirchen zu der Frage der Verantwortung für die Untaten des NS-Staates Stellung genommen; so die katholischen Bischöfe in einem Hirtenbrief vom 23. 8. 1945, kurz darauf die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) im "Stuttgarter Schuldbekenntnis" vom 19. 10. 1945. In diesem wurde schonungslos ausgesprochen: "Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden."
So gab es viel Apologetik. Gegen eine spezifisch deutsche Schuld wurde beispielsweise angeführt: das "moderne Massenmenschentum" als Ursache der deutschen Katastrophe (Gerhard Ritter), die Französische Revolution, mit welcher der Prozess der zunehmenden "Vermassung" eingesetzt habe - Symptome einer "verfallenden Kultur" seien die Folge gewesen (Friedrich Meinecke), oder die Dämonisierung: Die NS-Zeit könne man nicht ohne die "Kategorie des Dämonischen" verstehen (Helmuth Thielecke).
In der Bundesrepublik dauerte es sehr lange, bis die Wahrheiten über den NS-Staat sich im Bewusstsein der Deutschen durchsetzten. Die Debatten über die Vergangenheit kreisten zunächst um die Rehabilitierung und Versorgung der sog. "131er" nach Art. 131 GG, also um die nach 1945 entlassenen Beamten und Soldaten, ferner um eine Amnestie für Taten aus der NS-Zeit und um die nach den Nürnberger Nachfolgeprozessen und den Dachauer Prozessen einsitzenden Kriegsverbrecher.
III. Politische Bildung in der Schule der fünfziger Jahre
So nimmt es nicht Wunder, dass es für die politische Bildung in den Schulen große Schwierigkeiten gab. Eine Situationsbeschreibung veröffentlichte 1955 der Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen, das erste bildungspolitische Bund-Länder-Gremium der Bundesrepublik, in seinem Gutachten "Politische Bildung und Erziehung". Über die Lehrer hieß es dort: Sie seien durch den Wechsel der Systeme und die Erfahrungen der Entnazifizierung unsicher geworden.
Dies sind vorsichtige Hinweise auf die mangelnde Bereitschaft und die Hemmungen bei vielen Lehrern in der damaligen Zeit, die Aufgaben der politischen Bildung zu übernehmen. Folgende Ursachen wurden aufgezählt: Entnazifizierungsschock, Angst vor der Expansion der Sowjetunion, Perversion der politischen Erziehung im Nationalsozialismus, die fehlende demokratische und parlamentarische Tradition, der Wechsel der Staatsformen, die Vorläufigkeit der Bundesrepublik.
Ausschließliche Gemeinschaftserziehung bot sich als Ausweg an. Viele Pädagogen setzten sich für sie ein, allen voran Friedrich Oetinger in seinem Buch über die "Partnerschaft".
IV. Antikommunismus
Die innenpolitische Kehrseite des Kalten Krieges war in der Bundesrepublik der Antikommunismus. Er wurde durch die Existenz eines zweiten deutschen Staates fortdauernd wach gehalten. Der Antikommunismus galt bei der Gründung der Bundesrepublik 1949 als Konsens zwischen den Parteien, vor allem zwischen CDU und SPD - ungeachtet der Tatsache, dass beide in Fragen der Wirtschaftspolitik weit auseinander lagen. Bei dieser Übereinstimmung im Grundsätzlichen standen alle Parteien der Bundesrepublik auf der Seite des Westens.
Von diesem Klima blieb die Schule nicht unberührt. In einem weit verbreiteten Schulbuch (Nebelsiek, Der Gemeinde-, Staats- und Weltbürger, 1. Aufl. 600 000 Expl.) las man in der 2. Aufl. 1962, also verfasst kurz nach dem Mauerbau 1961: "In dem weltweiten Ringen zwischen der kommunistischen Ideologie und der westlichen Idee der Freiheit geht es jetzt um Sein oder Nichtsein; denn der Ausgang dieses Ringens wird darüber entscheiden, ob Freiheit und Menschenwürde erhalten bleiben oder ob sie im Chaos des kommunistischen Terrors untergehen. Dieses Buch will zu seinem Teil dazu beitragen, dass der Sieg auf Seiten der Freiheit ist!"
Allgemein wird über die Schulbücher der fünfziger und sechziger Jahre gesagt: Die wertgeladene Sprache und die Schwarzweißmalerei korrespondierten mit einer Idealisierung der Zustände in der Bundesrepublik. Die kritische Analyse der Realität trete zurück hinter der normativen Komponente. Politische Bildung verstehe sich als "moralische Erziehung" und Gesinnungsbildung. Die Norm werde für die Realität ausgegeben.
Nach dem Mauerbau nahmen die militanten Stimmen zu den Ost-West-Beziehungen langsam ab. Am 7. 3. 1963 wurde ein deutsch-polnisches Handelsabkommen abgeschlossen und noch im selben Jahr das erste Passierscheinabkommen für Westberliner zum Besuch Ost-Berlins. Es begann die Phase der Koexistenz zwischen den beiden Weltmächten, in der man über die östlichen Systeme abgewogener urteilen konnte. Und so vermehrten sich die kritischen Stimmen gegen einen Antikommunismus in der Schule. Für den Unterricht gab es jetzt als Alternative den Systemvergleich nach der "immanent-kritischen" Methode, die in der westdeutschen DDR-Forschung verwendet wurde. Die DDR wurde ernst genommen, auch an ihrem eigenen Anspruch gemessen und mit dem westlichen politischen System verglichen.
Das Resümee: Der Antikommunismus hatte auch in der Schule eher als Erkenntnisbehinderung gewirkt; Feindbilder integrieren zwar, aber sie vernebeln auch. Verheerend war ferner die Instrumentalisierung des Antikommunismus als Kampfmittel gegen innenpolitische Gegner. Mit dem heutigen Abstand sehen wir jedoch, dass die Gegnerschaft zum Kommunismus, wenn sie damals reflektiert vollzogen wurde, auch zur Erhellung der eigenen politischen Position beitragen konnte; sie ließ die Vorzüge des eigenen Systems erkennen, aber auch seine Schwachstellen.
V. Die sechziger Jahre
Außen- und Innenpolitik im Wandel
1957 hatte die erste erfolgreiche Umkreisung der Erde durch einen sowjetischen Satelliten in den USA den "Sputnik-Schock" verursacht. Der feste Glaube an die technologische Überlegenheit des Westens war in Frage gestellt. 1961 signalisierte der amerikanische Präsident Kennedy bei seinem Amtsantritt eine veränderte Politik, indem er der Sowjetunion wissenschaftliche und ökonomische Kooperation anbot. Nach der Kuba-Krise 1962 begann ein Wandel in den politischen Beziehungen der beiden Supermächte, welcher vom Kalten Krieg zum "Wettkampf der Systeme" führte. Dieser Wettkampf war als friedlicher Wettbewerb gemeint. In der Bundesrepublik nahm die Vorstellung von der Bedrohung durch den Osten ab. Der Mauerbau in Berlin 1961 brachte zunächst zwar eine Verschärfung des Kalten Krieges, auf die Dauer aber entspannte die Mauer das Verhältnis zwischen den beiden Teilen Deutschlands. Immer mehr verstanden sie sich faktisch als zwei selbständige Staaten. Eine neue deutsch-deutsche Politik bahnte sich an, eine Politik der wirtschaftlichen Kooperation. Egon Bahr, der "Chefdenker" der SPD, prägte für diese neue Politik 1963 das Wort vom "Wandel durch Annäherung".
In der Bundesrepublik folgte auf Adenauer 1963 die Regierung von Ludwig Erhard, der aber während einer innenpolitischen Krise bereits 1966 zurücktreten musste. Die nächste Regierung trug die Große Koalition zwischen CDU/CSU und SPD von 1966 bis 1969. Sie verursachte eine Umwälzung des Parteiensystems, denn die Sozialdemokratische Partei, bisher in der Bundesrepublik "ewige" Oppositionspartei, war jetzt regierungsfähig geworden. 1969 fand dann der sog. "Machtwechsel" statt; die SPD unter Willy Brandt übernahm die Regierung zusammen mit der FDP. Jetzt erst hatte die Bundesrepublik die parlamentarische Demokratie vollständig übernommen, weil eines ihrer Hauptmerkmale, der Wechsel der Regierungen, Realität geworden war.
In der Bundesrepublik war dies ein Jahrzehnt des Wandels; vom "Ende der Nachkriegszeit" wurde gesprochen. Ein "Durchbruch zu mehr ,Modernität' "
Der Rechtsradikalismus nahm in diesen Jahren zu. Zwar begann 1958 die gerichtliche Aufarbeitung der NS-Verbrechen (z. B. der Auschwitz-Prozess 1963), und im Bundestag wurden die gesetzgeberischen Voraussetzungen für ihre unbefristete juristische Verfolgung geschaffen (Verjährungsdebatten und -gesetze). Aber in den Jahren 1966 bis 1968 zog die rechtsradikale NPD in sieben Landtage der Bundesrepublik ein. Erst die Bundestagswahl von 1969 machte ihren Erfolgen ein Ende; die NPD verfehlte damals knapp die Fünf-Prozent-Marke (4,3 Prozent).
Generationenwechsel in der politischen Bildung
Es gab also in den sechziger Jahren zahlreiche Impulse für Innovationen in der politischen Bildung, und diese wurden getragen von einer neuen Generation von Lehrern und Pädagogen. Sie gehörten, soweit sie jetzt auch publizistisch zu Wort kamen, fast ausnahmslos den Jahrgängen 1926 bis 1930 an, waren also ihren Erlebnissen nach nicht mehr Kriegsgeneration, sondern allenfalls Spätkriegsgeneration und frühe Nachkriegsgeneration.
Bei ihnen gibt es so etwas wie das Generationstypische. Untersucht wurde dies an den Jahrgängen 1926 bis 1928, die seit 1943 als damals sechzehnjährige Schüler zum Dienst bei den Flugabwehreinheiten herangezogen wurden. Rolf Schörken, ihnen selber zugehörig, hat diese Generation in einem auf Befragungen fußenden Buch beschrieben.
Rezeption der Sozialwissenschaften
Schörken beklagte für die Fachdidaktiker der politischen Bildung das Fehlen gesellschaftspolitischer "Begriffe" wie Interesse, Partizipation u. a. Dieses Defizit war der Anstoß für die Rezeption der Sozialwissenschaften im Bereich der politischen Bildung, aber die Soziologie war noch in der Gründungsphase. Erst 1961 legte der Soziologe Ralf Dahrendorf mit seinem Aufsatz "Die Funktionen sozialer Konflikte"
Schon 1955 hatte die KMK die Empfehlung ausgesprochen, zur Förderung der politischen Bildung Lehrstühle für Politik an Universitäten zu errichten. Besetzt wurden sie zuerst überwiegend mit zurückgekehrten Emigranten. Diese Politikwissenschaftler wurden mit dem Bildungsauftrag berufen, Demokratiewissenschaft zu lehren. Dies war auch ihr eigenes Anliegen, denn als politische Emigranten waren sie von der Intention geleitet, 1933 dürfe sich nicht wiederholen. Die Politikwissenschaft dieser ersten Phase leitete eine "Verknüpfung empirischer und normativer Betrachtungsweise" ein
Wichtig wurden für die politische Bildung neben den Methoden die Inhalte, welche die Wissenschaft vermittelte. Die Politikwissenschaft dieser Anfangsphase sah eine dringliche Aufgabe darin, den "deutschen Sonderweg" sichtbar zu machen und die Erkenntnisse zu vermitteln, welche die Rückkehr Deutschlands in den Kreis der westeuropäischen Demokratien ermöglichten. Dazu gehörten:
- Das Aufzeigen der "historischen Vorbelastungen des deutschen Parlamentarismus"
- Die Korrektur der bisher wenig ausgeprägten Vorstellung von der Bedeutung von Werten in der Politik: Die Menschenrechte als Voraussetzung für staatliches Handeln und normative Grundlage auch streitiger Politikprozesse.
- Die Korrektur des mangelnden Verständnisses für eine pluralistische Gesellschaft. Prägend war in Deutschland bisher der Glaube an ein homogenes Volk. Der Kerngedanke der Pluralismustheorie hingegen ist: Das Verfolgen von partiellen Interessen ist nicht nur legitim, sondern geradezu erwünscht, weil sich das Gemeinwohl im Wettbewerb der Interessen nachträglich herausbilden kann und nicht, wie im totalitären Staat, im Voraus festgelegt wird und dann durch die Staatsmacht erzwungen werden muss.
- Der Abbau der Konfliktfeindlichkeit im Bewusstsein vieler Bürger. Gegen den "deutschen Hang nach Synthese" hatte Dahrendorf seine Theorie des sozialen Konflikts entwickelt.
Gemeinsam war diesen Gedanken der Versuch, Demokratie verständlich, einsehbar und beobachtbar zu machen. Sie richteten sich sowohl gegen die antiparlamentarische Tradition des Obrigkeitsstaates als auch gegen den Staat im anderen Teil Deutschlands, der auf diese Weise immer mit den Gegenbegriffen beschrieben wurde.
Fachwissenschaft und Didaktik der politischen Bildung
Fachwissenschaftliche Erkenntnisse sind für sich genommen nicht schon Inhalte von Unterricht. Schüler werden nicht mit der wissenschaftlichen Forschung vertraut gemacht, sondern mit durch die Wissenschaft gesicherten Inhalten und Erkenntnissen. Aber mit welchen? Die Sozialwissenschaften bestehen aus drei Teildisziplinen: Politikwissenschaft, Soziologie und Ökonomie. Angesichts der Fülle des Wissens drängen sich die Fragen auf: Was und wie sollen Schüler lernen? Mit diesen beiden Fragen beschäftigt sich seit diesem Jahrzehnt die Fachdidaktik der politischen Bildung. So hat Hermann Giesecke 1965 als erster eine "Didaktik der politischen Bildung" geschrieben.
Der Kern von Gieseckes didaktischer Theorie ist die Übertragung der soziologischen Konflikttheorie Dahrendorfs in die Alltagserfahrung eines Konflikts wie die "Spiegel-Affäre". Die Schüler lernen also nicht den "Spiegel-Konflikt", sondern die Art und Weise, die Methode, wie sie angesichts von politischen und gesellschaftlichen Konflikten immer wieder begründet Stellung nehmen und sich gegebenenfalls auch an Konfliktlösungen beteiligen können. Dieser Weg von der soziologischen "Konflikttheorie" in die Alltagserfahrung von Politik und hin zur eigenen Urteilsbildung ist die didaktische Transformation des wissenschaftlichen Wissens in Erfahrungswissen. Giesecke dient hier als ein (frühes) Beispiel. Andere Didaktiker wie Kurt Gerhard Fischer, Wolfgang Hilligen, Bernhard Sutor oder Rolf Schmiederer haben eigene Lösungen gefunden. Aber immer ging es um dasselbe didaktische Problem.
VI. Protestbewegung und beginnende Demokratisierung
1966 bis 1969 bildeten die CDU mit Kurt Georg Kiesinger als Bundeskanzler und die SPD mit Willy Brandt als Vizekanzler und Außenminister die Große Koalition. Die SPD war regierungsfähig geworden - ein Lehrstück in Parlamentarismus. Jetzt wusste man, dass die Opposition als die Regierung im Wartestand gilt. Der Nachteil der Großen Koalition war jedoch, dass als Opposition im Parlament nur noch die FDP als kleiner Rest mit 50 Abgeordneten übrig blieb. Viele andere Kritiker der Regierungspolitik sahen sich nicht mehr im Parlament vertreten. Eine außerparlamentarische Opposition entstand, kurz "APO" genannt. Sie war eine Protestbewegung, die sich insbesondere im Hinblick auf zwei Anlässe formierte: die Notstandsgesetzgebung und die Studentenunruhen.
Die Notstandsgesetze im Grundgesetz sollten die Vorbehaltsrechte der westlichen Alliierten ablösen. Sie waren der letzte Schritt auf dem Wege zur staatlichen Souveränität der Bundesrepublik. In der Protestbewegung gegen diese Gesetze fanden sich die Gewerkschaften zusammen mit einer kleinen, aber öffentlichkeitswirksamen außerparlamentarischen Opposition von Hochschullehrern, Schriftstellern, Pastoren und Studenten, die sich im "Kuratorium Notstand Demokratie" organisierten.
Dauerhafte Wirkung hatte die Forderung nach Demokratisierung. Demokratie sollte nicht auf den Bereich des Staates beschränkt bleiben, sondern alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringen. Von hier kamen auch die Impulse für die Hochschulreform. Es wurden Elemente der Mitbestimmung an den Universitäten eingeführt. Doch ging die Wirkung der Protestbewegung über die Hochschulen hinaus. Jürgen Habermas hat von einem durch die Studentenbewegung ausgelösten "Prozess der Fundamentalliberalisierung"
Es gab auch eine Protestbewegung bei den Schülern. Das Konfliktmodell, wonach den Schülern die Vertretung eigener Interessen innerhalb der Schule gestattet werden sollte, wurde Leitbild. Das Ziel war, den obrigkeitsstaatlichen Charakter der Schule, den schon die Amerikaner kritisiert hatten, zu verändern. In den bisherigen Vorstellungen sah sich die Schule eher als "Schulfamilie". In den Schulgesetzen der Bundesländer gab es durchweg die Formel, die Schülermitverantwortung oder -verwaltung (SMV) diene "der Pflege des Gemeinschaftslebens in der Schule und der Erziehung der Schüler zur Selbstverantwortung", wobei Gemeinschaftsleben groß und Selbstverantwortung klein geschrieben wurde,
Schule im Zwiespalt
Aber es zeigte sich, dass diese Gedanken auch Wandlungen im Selbstverständnis der Lehrer und der Schulverwaltungen erforderten. Eine soziologische Analyse der SMV ergab damals, dass die Berechtigung von "Interessenvertretung" der Schüler durch den Funktionswandel der Schule bedingt war. "In einer Gesellschaft, die in zunehmendem Maße Positionen nach dem Kriterium geprüfter und verbriefter Leistung vergibt, ist die Schule in stärkerem Maße als früher eine ,soziale Dirigierstelle für Rang, Stellung und Lebenschancen des Einzelnen'."
Es gab entsprechende Differenzen zwischen Theorie und Praxis. Eine quantitative Untersuchung der didaktischen Literatur weist aus, dass in der aktuellen pädagogischen Theorie das Konzept der Gemeinschaftserziehung längst ausgedient hatte; 1966 dominierte Erziehung zu Kritik und zu Konflikt.
Die Politik und die politische Bildung
Trotz allem: Die politische Bildung nahm in den sechziger Jahren an Bedeutung zu und hatte in der Zeit der Großen Koalition sogar ein Konjunkturhoch. Bundestag und Bundesregierung beschäftigten sich 1968 mit ihr. Im Bundestag lagen "Große Anfragen der Fraktionen des Deutschen Bundestages zur politischen Bildung" vor. Am 23. September 1968 gab die Regierung Kiesinger/Brandt darauf ihre "Antwort".
Der Kompromiss ist auch in der Kombination heterogener Elemente zu erkennen: Neben den aktuellen Prinzipien der politischen Didaktik (Interesse, Konflikt, Macht) finden sich traditionelle Bestände in diesem Text, so die Aufgabe, ein "Staatsbewusstsein" zu vermitteln, oder die Forderung, ein unvoreingenommenes Verhältnis zur eigenen Geschichte und zum eigenen Volk herzustellen, ohne dass eine Auseinandersetzung mit der NS-Zeit erwähnt wurde. Die Tabuisierung des Nationalsozialismus dauerte fort.
Die politische Bildung erhielt in der "Antwort" auch eine politische Funktion: "Es ist eine Situation entstanden, die es allen gesellschaftlichen Kräften und auch dem Staat dringend gebietet, dem verbreiteten Unbehagen entgegenzuwirken und das Bewusstsein vom Wert unserer freiheitlichen Staatsordnung und den Möglichkeiten ihrer zeitgerechten Fortentwicklung zu stärken."
Die Kehrseite war andererseits das nur kurzfristige, im Grunde zweckbezogene Interesse der politischen Akteure an der politischen Bildung. Es schwand in dem Augenblick, da sichtbar wurde, dass durch Förderung der politischen Bildung nicht Bewusstseinsprozesse gesteuert werden können, dass sie nicht das Wasser liefert, mit dem legitimatorische "Brände" schnell gelöscht werden können. Im Gegenteil: In den nächsten Jahren erschien politische Bildung vielen Politikern sogar als zusätzliches Öl für das Feuer. Der in der "Antwort" gefundene Kompromiss der Großen Koalition über die Prinzipien der politischen Bildung hatte nur einen vorübergehenden Konsens geschaffen. Er endete, als die Große Koalition sich nach den Bundestagswahlen von 1969 auflöste, und machte einer bildungspolitischen Polarisierung Platz, in die auch die politische Bildung hineingezogen wurde.
Die Bilanz der Bildungspolitik bis zum Ende der Großen Koalition ist an den Reformgesetzen zur inneren Schulverfassung abzulesen. Nach dem Beschluss der KMK zur "Schülermitverantwortung" vom 3. 10. 1968 kam es in den Folgejahren in vielen Bundesländern zu einer Novellierung der SMV-Erlasse und der Schulgesetze, die eine stärkere Beteiligung der Eltern und Schüler am Schulleben ermöglichte.