I. Einleitung
Kein sicherheitspolitisches Thema wird in Europa derzeit so kontrovers diskutiert wie die Außen- und Verteidigungspolitik der Bush-Administration. Neuester Gegenstand der Kritik ist die am 20. September 2002 veröffentlichte neue Nationale Sicherheitsstrategie der USA (NSS).
Das von Präsident Bush jr. vorgelegte Strategiepapier ist das erste dieser Administration. Verfasst wurde es unter Federführung der nationalen Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice. Die NSS formuliert die grundlegenden Ziele der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Mittel zu ihrer Umsetzung. Sie hat damit richtungweisenden Charakter für die Politik auf allen internationalen Feldern. Der Bogen spannt sich von traditioneller Militärpolitik bis hin zu neuen Formen der Diplomatie und Entwicklungshilfe. NSS ist somit - entgegen der gängigen Meinung - keine "Bush-Doktrin" des präemptiven Erstschlags.
Das Papier ist insofern von übergreifender und grundlegender Bedeutung, als es den strategischen Veränderungen im internationalen System seit dem Ende des Kalten Krieges und den damit verbundenen neuen Chancen und Risiken Rechnung trägt. Was sich vorher auf akademische Debatten beschränkte, setzt die NSS nun in konkrete politische Zielsetzungen um.
II. Grundelemente der Nationalen Sicherheitsstrategie
In der kritischen Rezeption der Nationalen Sicherheitsstrategie wird zumeist nur Bezug genommen auf die in dem Papier enthaltenen Passagen zur militärischen Prävention bzw. Präemption.
Hinter der NSS steht ein politiktheoretisches Ordnungskonzept, welches Elemente von Realismus mit Liberalismus und Institutionalismus mischt.
Eine neue Form des sicherheitspolitischen Realismus, bei dem nicht mehr traditionelle Großmachtkonflikte im Vordergrund stehen, sondern die neuen Gefährdungen der US-amerikanischen wie internationalen Sicherheit: Terrorismus und die Proliferation von Massenvernichtungswaffen (MVW).
Ein klassischer ökonomischer Liberalismus im Sinne von Adam Smith, bei dem die Ausbreitung von Marktwirtschaft und Freihandel als Instrumente zur persönlichen Entfaltung und zur Herstellung von Wohlstand und Frieden betrachtet werden.
Ein klassischer republikanischer Liberalismus im Sinne von Immanuel Kant, wonach Demokratie und die Garantie von Menschenrechten als Grundlage von Frieden und Gerechtigkeit verstanden werden.
Ein neuer Institutionalismus, geprägt durch die Entschlossenheit, das bestehende System der internationalen Kooperation den Gegebenheiten der Gegenwart anzupassen und dabei auch radikale Reformen internationaler Institutionen vorzunehmen.
Kernpunkt des Dokuments ist das Bekenntnis der USA, ihre "beispiellose militärische Stärke sowie ihren großen wirtschaftlichen und politischen Einfluss" zu nutzen, um ein "Mächtegleichgewicht zu schaffen", das sich zugunsten der Freiheit neigt und dadurch die menschliche Freiheit fördert und das gleichzeitig im Verbund mit anderen Mächten jenen Bedrohungen durch "Terroristen und Despoten" begegnen soll, die dieses Gleichgewicht gefährden könnten. Diplomatie und militärische Macht sind die beiden Säulen der US-amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik. Zur Durchsetzung dieser Ziele verfolgt die Strategie einen dreiteiligen Ansatz, bestehend aus: einer Neuordnung der Großmachtbeziehungen im internationalen System, der Förderung von Demokratie und freier Marktwirtschaft und der internationalen Lösung dringlicher Menschheitsprobleme sowie der aktiven Bekämpfung von Terroristen und Schurkenstaaten.
III. Eine neue internationale Ordnung
Die zentrale, in der internationalen Kritik weitgehend unbeachtete Zielsetzung der NSS ist der Versuch einer Neuordnung der internationalen Beziehungen. Dabei steht die Neugestaltung der Großmachtbeziehungen im Vordergrund. Vereint durch eine gemeinsame Bedrohung, so das Papier, habe "die internationale Gemeinschaft die beste Chance seit dem Aufstieg des Nationalstaates im 17. Jahrhundert, eine Weltordnung zu schaffen, in der die Großmächte um den Frieden konkurrieren, anstatt sich ständig auf den Krieg gegeneinander vorzubereiten". Es sei heute möglich, eine internationale Ordnung zu schaffen, die nicht mehr die Konkurrenz der Großmächte reguliere, sondern die deren Zusammenarbeit bei der Bewältigung gemeinsamer Risiken organisiere.
Die Annahme, dass die strategischen Konflikte zwischen ideologisch divergierenden Großmächten so weit an Bedeutung verloren hätten, dass auf der Basis von Freiheit, Marktwirtschaft und Menschenrechten eine kooperative internationale Ordnung zwischen den Großmächten (und damit die Lösung globaler, übergeordneter Probleme) möglich werde, erinnert an Francis Fukuyamas Buch "Das Ende der Geschichte". Dieser hatte Anfang der neunziger Jahre die These aufgestellt, dass mit der Globalisierung und Ausbreitung von Marktwirtschaft und Demokratie eine neue Stufe der internationalen Entwicklung eingetreten sei. Was bisher Geschichte ausgemacht habe, die Konkurrenz zwischen den großen Mächten und die Auseinandersetzung zwischen Demokratie, Kommunismus und Faschismus, sei vorüber, so Fukuyama. Die westliche Ordnung aus liberaler Demokratie und Marktwirtschaft habe sich als überlegen erwiesen, und es gelte nunmehr, den Stand zu halten und gegen Zersetzung von innen und neue Gefährdungen von außen zu verteidigen.
Die NSS versucht, in dieser Logik konkrete politische Schritte zu identifizieren: Der Schlüssel zu einer Neugestaltung der internationalen Ordnung im Zeitalter der Globalisierung liege in der Integration Russlands und Chinas in die westliche Gemeinschaft. Während das Papier die Existenz von Konfliktfeldern in den amerikanisch-russischen bzw. amerikanisch-chinesischen Beziehungen nicht unterschlägt, geht es davon aus, dass die Erfahrungen des 11. September 2001 und die innenpolitischen Entwicklungen in China und Russland Anlass zur Hoffnung geben. Ein "wahrhaftiger globaler Konsens über grundlegende Prinzipien" wird für realistisch gehalten.
Die strategische Partnerschaft mit Moskau soll durch Schritte wie den gemeinsamen Kampf gegen den Terrorismus, die Unterstützung Washingtons für einen Beitritt Russlands in die World Trade Organization (WTO) und die vertiefte Kooperation im NATO-Russland-Rat in eine dauerhafte Struktur gegossen werden. Auch die Beziehungen zu Peking erfahren eine bedeutende Wendung. War zu Beginn der Amtszeit von George W. Bush noch vom "strategic competitor" die Rede, so begrüßt die neue Sicherheitsstrategie jetzt das "Aufkommen eines starken, friedlichen und gedeihenden Chinas". Pekings Eintritt in die WTO sowie die fortschreitende wirtschaftliche Modernisierung der Volksrepublik würden, so die in der NSS geäußerten Erwartungen, die chinesischen Machthaber zu einem kooperativen Kurs gegenüber dem Westen bewegen. Die USA suchen daher eine "konstruktive Beziehung mit einem sich wandelnden China".
IV. Förderung von Demokratie und freier Marktwirtschaft
"To make the world safe for democracy" - dieser Leitsatz von Woodrow Wilson wird in der NSS zu neuem Leben erweckt. Als strategischer und moralischer Imperativ haben die Entwicklung offener Gesellschaften und der Aufbau demokratischer Infrastrukturen oberste Priorität für die US-amerikanische Politik. Der 11. September habe gezeigt, "dass schwache Staaten wie Afghanistan eine ebenso große Bedrohung unserer nationalen Interessen sind wie starke Staaten. Armut macht aus armen Menschen keine Terroristen und Mörder. Doch Armut, schwache [staatliche] Institutionen und Korruption können schwache Staaten verwundbar gegen terroristische Netzwerke und Drogenkartelle machen." Und dieser Anspruch wird global erhoben: Eine Welt, in der über die Hälfte der Weltbevölkerung in Armut lebe, sei "weder gerecht noch stabil."
Vieles deutet darauf hin, dass hier vor allem eine Region im Zentrum der Aufmerksamkeit der Bush-Administration steht: der Nahe und Mittlere Osten. Dort hat sich in den vergangenen fünf Jahrzehnten so viel politischer und religiöser Extremismus entwickeln können, dass diese Region in den Augen führender Mitglieder der Bush-Administration heute als strukturell instabil und friedensunfähig, ja als weltweit friedensgefährdend gilt - vergleichbar Europa oder Ostasien in den dreißiger Jahren. Hauptursache des Extremismus sei die Unfähigkeit der arabischen Regierungen, ihre Gesellschaften im Sinne der Modernisierung umzugestalten. Dies schaffe immer stärkere Potenziale von Extremismus, die nicht mehr mit Scheckbuchdiplomatie beiseite geräumt werden können. Der Extremismus innerhalb der arabischen Welt und gerade unter den Palästinensern habe bislang alle Versuche in Richtung auf einen Friedensschluss mit Israel torpediert. Von daher sei ein Neuanfang im Nahen und Mittleren Osten notwendig.
Die NSS deutet etwas an, was für viele Europäer derzeit sehr schwer vorstellbar ist: Die USA könnten bereit sein, für den Nahen und Mittleren Osten ein ebenso starkes Engagement zu zeigen wie nach dem Zweiten Weltkrieg für Europa und Ostasien - möglicherweise sogar mit dem Irak als noch zu konstruierendem Modell einer Modernisierungsstrategie. Bekannt gewordene Pläne des Weißen Hauses für die Zeit nach Saddam Hussein deuten die Möglichkeit einer derartigen Politik an.
Der Nahe und Mittlere Osten wird aber nicht allein als gefährdete Region angesehen. Auch in anderen Regionen existiert ein erhebliches Konfliktpotenzial, sodass auch dort die Entwicklung zu Demokratie und Marktwirtschaft zu fördern ist. Die Hauptprobleme der meisten unterentwickelten Staaten werden in schlechter Regierungsführung sowie in einer zu hohen Staatsquote, Bürokratie und Korruption gesehen. Zudem gehen in diesen Ländern Entwicklungshilfe und Unterstützung seitens internationaler Hilfsorganisationen in die falschen Kanäle. Am wichtigsten sei die Teilnahme am freien Handel sowie die Unterstützung von intelligenten, den Entwicklungschancen der jeweiligen Länder angepassten Strategien zur wirtschaftlichen und politischen Modernisierung. Dies sei die beste Form einer präventiven Sicherheitspolitik. In diesem Zusammenhang wird die Aufstockung der US-Entwicklungshilfe um 50 Prozent in Aussicht gestellt, allerdings unter Bedingungen, die diesen Kriterien entsprechen. Damit sollen Regierungen gestärkt werden, die "gerecht regieren, in ihre Bevölkerung investieren und wirtschaftliche Freiheiten fördern".
In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass die Bush-Administration nicht auf Unilateralismus setzt. Sie hat jedoch deutliche Vorstellungen vom Multilateralismus, die größtenteils die traditionellen Formen der multilateralen Diplomatie herausfordern. In der US-Regierung findet seit einiger Zeit eine Neubewertung multilateraler Diplomatie und multilateraler Organisationen und Institutionen statt. Die Bilanz globaler Organisationen wie der Vereinten Nationen und ihrer Suborgane wird zunehmend kritisch gesehen.
Dies betrifft in erster Linie die Rolle des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, dem nach der VN-Charter eine zentrale Funktion bei der Erhaltung des Friedens zukommt. Der Sicherheitsrat habe seit dem Ende des Kalten Krieges bei entscheidenden Herausforderungen immer wieder versagt. Weder habe eine vollständige Beendi- gung des irakischen Massenvernichtungswaffenprogramms durchgesetzt noch der Bosnienkrieg und der Völkermord in Ruanda verhindert werden können. Zwar habe der Sicherheitsrat Resolutionen in großer Menge verabschiedet, entscheidend sei jedoch immer die Bereitschaft der ständigen Mitglieder und anderer wichtiger Staaten, für deren Umsetzung auch unter Nutzung militärischer Mittel zu sorgen. Gerade der Kosovo-Krieg habe deutlich gemacht, dass die divergierenden Interessen der ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat zur Teilnahmslosigkeit auch bei schwersten Menschenrechtsverstößen führen können. Erst als die von den USA angeführte NATO außerhalb des kodifizierten Völkerrechts militärisch einschritt, konnten Stabilität und Frieden in der Region wiederhergestellt werden. Auch das jüngste nordkoreanische Eingeständnis eines geheimen Atomwaffenprogramms - und damit eines klaren Verstoßes gegen den Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag - belegt, dass die internationale Ordnung mehr als Absichtserklärungen und Resolutionen erfordert.
Die NSS verfolgt eine Mischung aus Multilateralismus, Ad-hoc-Koalition und Unilateralismus. Explizit bekennen sich die USA zu Institutionen der kollektiven Sicherheit (UNO, OAS) und kollektiver Verteidigung (NATO). Zusätzlich sollen aber coalitions of the willing gebildet werden, um spezifischen Bedrohungen schnell begegnen zu können. Doch in einem wird die Sicherheitsstrategie ebenso deutlich: "Wenn es unsere Interessen und einzigartige Verantwortung erfordern, sind wir bereit, alleine zu handeln." Dies bedeutet keinesfalls das Ende eines amerikanischen Engagements in der UNO, aber einen gehörigen Druck auf die Weltorganisation.
In den USA gibt es viele, die den Zeitpunkt gekommen sehen, der UNO eine letzte Chance zu geben. Entscheidend sei das Verhalten dieser Organisation in Sachen Irak. Wenn die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates ihre Rolle primär darin sehen, die Bush-Administration "auszubremsen", und die Wahrung der Souveränität Iraks höher veranschlagen als die Verhinderung der Gefahren, die vom Irak ausgehen, so kann dies zu einer völligen Neuorientierung der US-Politik führen. Washington könnte dann seine globalen und regionalen Ordnungsaufgaben primär mit regionalen Organisationen wie der NATO ausüben oder aber auf Ad-hoc-Koalitionen setzen, um militärischen Herausforderungen wie der seitens des Iraks zu begegnen. Washington könnte auch einen neuen Multilateralismus schaffen. Dies wäre keinesfalls so neu: Schon während des Zweiten Weltkriegs, als die Irrelevanz des Völkerbundes mehr als offenkundig wurde, waren es die USA, die eine völlige Neuordnung der internationalen Politik vorantrieben - mit dem Ergebnis der Schaffung der Vereinten Nationen und des Währungssystems von Bretton Woods.
V. Erweiterte militärische Optionspalette
Weil die im engeren Sinne militärische Seite der NSS besonders im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, soll an dieser Stelle hierauf ausführlicher eingegangen werden. Die NSS beschreibt keinesfalls nur Prävention und Präemption, sondern entwirft ein breiteres Bild von den Bedrohungen der internationalen Sicherheit. Bedrohungen würden heute aus der Kombination von Extremismus und Technologie erwachsen. Das bedeute im Einzelnen, auf das Aufkommen von Akteuren zu achten, die bereit seien, auch extreme Mittel einzusetzen und selbst hohe Risiken einzugehen. Zwei Kategorien von Akteuren werden identifiziert: terroristische Netzwerke und Schurkenstaaten. Letztere - explizit genannt werden der Irak und Nordkorea - terrorisierten ihre Bevölkerung, missachteten internationale Normen, strebten nach Massenvernichtungswaffen, förderten den weltweiten Terrorismus und "hassen die Vereinigten Staaten und alles, wofür sie stehen". Bei den zu beachtenden Technologien gehe es in erster Linie um Massenvernichtungswaffen (MVW) und ballistische Raketen und andere Mittel zu deren Ausbringung. Die seit den frühen neunziger Jahren verbesserten Möglichkeiten zur Beschaffung von MVW und Trägersystemen (vor allem ballistische Raketen) verliehen Schurkenstaaten und Terrorgruppen bislang nicht vorhandene Möglichkeiten der Bedrohung von internationalen Interventionsstreitkräften und von Bevölkerungszentren westlicher Industriestaaten. Sie machten eine völlige Neuausrichtung westlicher Sicherheitspolitik notwendig.
Die NSS lässt den politischen Willen erkennen, diesen neuen Bedrohungen und Herausforderungen auf verschiedene Weise aktiv entgegenzutreten. Dabei bleiben die traditionellen Mittel der internationalen Zusammenarbeit im Vordergrund: "Diplomatie, Rüstungskontrolle, multilaterale Exportkontrollen sowie threat reduction assistance"
Der präventive Einsatz militärischer Mittel für den Fall, dass Gefährdungen amerikanischer oder internationaler Sicherheit durch Einsätze von Massenvernichtungswaffen anders nicht vermieden werden können.
Verstärkte Maßnahmen auf dem Gebiet der homeland security, wobei es vor allem darum geht sicherzustellen, dass keine wie auch immer gearteten Anschläge in den USA selbst stattfinden können.
Der weitere und verstärkte Ausbau von ballistischer Raketenabwehr, um auf diese Weise mögliche Pläne von Schurkenstaaten zu vereiteln, die USA direkt zu bedrohen.
Anstrengungen im Bereich des consequence management, um den Folgen von Angriffen mit ABC-Waffen begegnen zu können bzw. um potentiellen Angreifer zu demonstrieren, dass ihre damit verbundenen Ziele nicht erreicht werden können (z.B. Impfprogramme gegen biologische Waffen).
Zusätzliche Maßnahmen im Bereich der counterproliferation, d. h. primär militärische Vorsorge gegen mögliche Angriffe mit Massenvernichtungswaffen auf US-Truppen (Verbesserung des ABC-Schutzes, aber auch Verbesserung der Bekämpfung von solchen Waffen).
Sowohl die US-amerikanische als auch die internationale Kritik an der NSS beschränkt sich fast ausschließlich auf den dort diskutierten präventiven Einsatz militärischer Macht als eine Option unter vielen. In der Hauptsache wird kritisiert, dass dieses Konzept dem Völkerrecht widerspreche, insbesondere dem in der Charter der Vereinten Nationen ausdrücklich geschützten Prinzip der staatlichen Souveränität. Mit einer Politik der Prävention würden die USA ein Exempel statuieren, dem andere Staaten folgen könnten. Die strikte Wahrung der Souveränität sei ein zentrales Element internationaler Stabilität. Wenn dieses von den USA in Frage gestellt werde, gebe es kein Halten mehr und internationale Unordnung wäre die Folge. Der demokratische Senator Edward Kennedy wies zudem darauf hin, dass die Bush-Administration nicht sauber zwischen Präventivschlag und Präemption unterscheide: Während der Präventivschlag gegen eine unmittelbar drohende Gefahr gerichtet sei und im Völkerrecht akzeptiert werde, gelte dieses nicht für die Präemption, die gegen eine vermutete, erst im Aufbau befindliche Bedrohung gerichtet sei und allgemein als völkerrechtswidrig angesehen werde. Es habe in früheren Administrationen immer wieder diesbezügliche Überlegungen gegeben (auch bei seinem Bruder John F. Kennedy), diese seien aber aus guten Gründen stets wieder fallen gelassen worden.
Diese Argumente sind schwerwiegend und bedürfen der sorgfältigen Prüfung. Sie werden allerdings teilweise dadurch relativiert, dass ihre Vertreter das Konzept der Prävention nicht im größeren Kontext sehen oder sehen wollen. Die NSS grenzt die Option militärischer Präventivschläge nur auf Fälle der Bedrohung durch Terroristen und Schurkenstaaten ein - Prävention und Präemption sind die Ausnahme, nicht die Regel. Zudem stellt sich die Frage, was denn zu tun wäre, wenn es aufgrund der veränderten Bedrohungslage keine andere Option gibt? Die Option militärischer Präemption gegen Schurkenstaaten trägt immerhin der Erkenntnis Rechnung, dass diese nicht durch die klassische Form der nuklearen Abschreckung vom Einsatz von Massenvernichtungswaffen abgebracht werden können.
Schließlich bleibt die Frage der völkerrechtlichen Legitimität. In der Tat ist das, was die Bush-Administration mit Blick auf präemptive Optionen plant, mit dem heutigen Völkerrecht nicht vereinbar, da es gegen Art. 2 der Charter der Vereinten Nationen verstößt. Man kann auf dieser Sachlage die US-Politik verurteilen. Angesichts der neuen Qualität der Herausforderungen wäre dies allerdings zu kurz gegriffen. Die nationale Sicherheitsstrategie der Bush-Administration sollte vielmehr Anlass zu einer kritischen Sichtung und gegebenenfalls einer Reform des Völkerrechts sein. Sowohl die NSS als auch die Rede von Präsident Bush vor der Generalversammlung der UNO vom 12. September 2002 müssen als Aufforderung zu einer derartigen Reform interpretiert werden. Andernfalls werden sich die USA zukünftig das Recht zu militärischen Präventivmaßnahmen (d. h. auch zur Präemption) vorbehalten.
Hinter dieser Entschlossenheit steht der Druck, sich nach dem 11. September 2001 ernsthafter als bisher mit den neuen sicherheitspolitischen Risiken auseinanderzusetzen. Damit geht auch ein neues Verständnis von den Grenzen staatlicher Souveränität einher. Staatliche Souveränität - so die NSS - kann nicht Schutz für Terroristen und Schurkenstaaten bedeuten. Die NSS streift diese Frage nur kurz. Doch haben hochrangige Vertreter der Bush-Administration anderenorts deutlich gemacht, dass das Prinzip der Unantastbarkeit der Souveränität in den internationalen Beziehungen, wie es sich seit dem Westfälischen Frieden entwickelt hat, in drei Fällen einzuschränken ist: wenn Staaten Terroristen beherbergen und unterstützen; wenn Diktatoren staatliche Souveränität als Vorwand nutzen, um Genozid zu verüben, und wenn Staaten unter Bruch internationaler Abkommen nach Massenvernichtungswaffen streben.
Bislang kennt das Völkerrecht nur eine Möglichkeit der Durchbrechung des Prinzips der Souveränität: Der Sicherheitsrat der VN kann Maßnahmen gegen einen Staat (oder mehrere) treffen, die dessen Souveränität verletzen, wenn er zuvor gemäß Abschnitt 7 der Charter festgestellt hat, dass Handlungen dieses Staates eine Gefährdung des internationalen Friedens darstellen, und wenn erkennbar ist, dass diese Souveränitätseinbußen notwendig sind, um dieser Gefährdung Herr zu werden. Die Herausforderung der Politik der Bush-Administration liegt heute darin, dass sie diese enge Einschränkung in Frage stellt. In der deutschen wie in der europäischen Diskussion herrscht die Neigung vor, diese Infragestellung rundweg abzulehnen und das Verhalten der Bush-Administration als völkerrechtswidrig zu brandmarken. Ob das eine kluge Strategie ist, mag bezweifelt werden. Besser wäre es, sich auch bei uns mit den neuen Herausforderungen für die Sicherheit zu beschäftigen und sich den Spielraum für wichtige Anpassungen des Völkerrechts nicht durch Rechtsdogmatismus zu verstellen.
VI. Auswirkungen auf das deutsch-amerikanische Verhältnis und die NATO
Die NSS ist die US-amerikanische Version eines strategischen Gesamtkonzepts internationaler Sicherheit. Sie wird die Diskussionsgrundlage der transatlantischen Allianz und der internationalen Staatengemeinschaft in den Auseinandersetzungen mit den sicherheitspolitischen Herausforderungen unserer Zeit werden. Sie hat zweifelsohne das Potenzial, zu einem Meilenstein US-amerikanischer und westlicher Außenpolitik zu werden, ähnlich dem als NSC-68 bekannt gewordenen Papier von 1950.
Für die deutsche Diskussion ist es wichtig, dass die NSS nicht nur unter dem Aspekt der Präemption betrachtet wird, sondern dass auch hier eine Debatte über die neuen Risiken und Gefahren geführt wird, um die sich sowohl die christlich-liberale wie die rot-grüne Koalition bislang gedrückt haben. In dieser Hinsicht bleibt die deutsche Debatte weit hinter derjenigen in Großbritannien und Frankreich zurück. Auch wenn man besonders in Paris nicht immer gleicher Meinung mit den USA ist, was den Einsatz militärischer Mittel betrifft, so stimmt man doch bezüglich der Risikoeinschätzung mit den USA überein. Für die Bundesrepublik gilt - mit Ausnahme eines überschaubaren Kreises von Experten -, dass Risiken und Gefahren außerhalb Europas in der politischen Debatte und im öffentlichen Bewusstsein nicht im Vordergrund stehen. Eine unvoreingenommene Diskussion über die NSS ist daher angebracht. Bleibt Deutschland aber bei seiner kritischen Haltung, wie zuletzt in der Irak-Frage geschehen, steht eine weitere Entfremdung beider Staaten zu befürchten. Die langfristige Folge wäre ein weiterer Einflussverlust Berlins auf Washington und auch auf die europäischen Partner. Dabei ist es angeraten, einen Blick nach Frankreich zu richten. Das traditionell US-kritische Frankreich hat sich den USA viel stärker angenähert, als es in Deutschland wahrgenommen wird. Dort wird nicht nur die amerikanische Risikoeinschätzung geteilt. Neben dem Ausbau der französischen Kapazitäten zur Machtprojektion hat Frankreich inzwischen auch seine Bereitschaft zu einem starken burden-sharing mit den USA erklärt, um diesen neuen Herausforderungen wirksamer entgegentreten zu können.
Es geht bei dieser Debatte auch um die Frage nach einer territorialen Ausdehnung der NATO. Dieses Thema stand schon einmal auf der Agenda, als es in der Vorphase des Washingtoner Gipfels vom April 1999 um die von den USA verlangte Öffnung der NATO für globale Fragen ging. Diesem Ansinnen wurde damals u. a. von Deutschland aufs heftigste widersprochen. Wer heute die US-Administration dafür kritisiert, dass sie im Nahen und Mittleren Osten unilateral handelt, sollte nicht vergessen, dass es diese beiden Regierungen waren, die sich dagegen ausgesprochen hatten, den erprobten Konsultationsmechanismus der NATO für derartige Fälle zu nutzen. Heute ist klar: Nach dem 11. September 2001 dürfte eine Beschränkung der Allianz lediglich auf den euroatlantischen Raum den USA nicht mehr ausreichen. Soll die NATO ihre Relevanz für Washington behalten, so ist eine globalere Rolle unerlässlich; und sollten die Deutschen an Mitbestimmung und an der Erhaltung der Allianz interessiert sein, dann sollten sie sich auch nicht mehr dagegen stemmen, Fragen regionaler Sicherheit in der NATO zu diskutieren, dort gegebenenfalls entsprechende Entscheidungen zu treffen und diese auch zu implementieren. Der Zeitpunkt für eine solche Debatte mag unglücklich sein, denn die Emotionen diesseits und jenseits des Atlantik in der Irak-Frage kochen hoch. Aber gerade die hitzige Debatte über Irak lässt den enormen Bedarf an Diskussionen über diese Fragen im transatlantischen Verhältnis erkennen.