Einleitung
"Ist es ein Widerspruch zu unserem Engagement in Europa, in dem wir fest verankert sind, wenn wir gleichzeitig sagen, es gibt deutsche Interessen? Leisetreterei bei der Vertretung der eigenen Interessen war noch nie angetan, Respekt auch bei den Partnern zu finden. Insofern, wenn wir das betonen, was in unserem eigenen Interesse liegt, tun wir zugleich etwas für Europa."
I. Normalisierung als "Machtgewöhnung"
Der 11. September 2001 hat nach Ansicht vieler Beobachter eine neue Zeitrechnung eingeläutet. Für Bundeskanzler Gerhard Schröder jedenfalls brachten die Terroranschläge in den USA auch weit reichende Folgen für die deutsche Außenpolitik mit sich. "Ich denke, wir haben Grund", so Schröder in einer Regierungserklärung im Oktober 2001, "bei der Formulierung und Durchsetzung unserer Außenpolitik ... das eine oder andere zu verändern." Deutschland müsse sich "in einer neuen Weise der internationalen Verantwortung" stellen. "Noch vor zehn Jahren hätte niemand von uns erwartet, dass Deutschland sich anders als durch so etwas wie ,sekundäre Hilfsleistungen' - also Zurverfügungstellung von Infrastruktur oder Gewährung von Finanzmitteln - an internationalen Bemühungen zur Sicherung von Freiheit, Gerechtigkeit und Stabilität beteiligt. ... Diese Etappe deutscher Nachkriegspolitik ... ist unwiederbringlich vorbei. Gerade wir Deutschen ... haben nun auch eine Verpflichtung, unserer neuen Verantwortung umfassend gerecht zu werden. Das schließt - und das sage ich unmissverständlich - auch die Beteiligung an militärischen Operationen zur Verteidigung von Freiheit und Menschenrechten, zur Herstellung von Stabilität und Sicherheit ausdrücklich ein."
Die meisten Beobachter interpretierten diese Erklärung als Verabschiedung jener "Kultur der militärischen Zurückhaltung", die für die alte "Bonner Republik" kennzeichnend war.
Die unmissverständliche Absage Schröders zu einer Beteiligung deutscher Soldaten an einer militärischen Operation zur Beseitigung des Regimes von Saddam Hussein im Bundestagswahlkampf 2002 stellt vor diesem Hintergrund keinen Widerspruch zu der ein knappes Jahr zuvor verkündeten "uneingeschränkten Solidarität" dar. Vielmehr konnte sich Schröder in beiden Fällen sicher sein, dass seine Position von großen Teilen der Bevölkerung geteilt wurde und zumindest insofern "deutschen Interessen" entsprach.
Am veränderten militärischen Engagement Deutschlands - seiner gewachsenen Bereitschaft, sich aktiv zu beteiligen oder eben auch unter Berufung auf deutsche Interessen sich selbst dann zu enthalten, wenn die alte Maxime einer strikt multilateralen Politik eine Beteiligung gebietet - zeigt sich sicherlich am eindringlichsten, wie sehr sich Deutschlands Außenpolitik seit der Vereinigung verändert hat.
II. Veränderte Rahmenbedingungen, neuer Problemhaushalt
Mit der deutschen Vereinigung und dem damit einhergehenden Ende des Ost-West-Konflikts hatte Deutschland an Gewicht gewonnen, frühere (selbst gewählte und fremdbestimmte) politische Abhängigkeiten abgeworfen und zugleich ein sichereres Umfeld gewonnen. Parallel zur gestiegenen Gestaltungsmacht stellte allerdings auch der neue Problemhaushalt wachsende Anforderungen. Im Laufe des vergangenen Jahrzehnts haben die tief greifenden Transformationsprozesse im östlichen und südöstlichen Europa daher nicht nur die Funktionen der aus deutscher Sicht wichtigsten internationalen Institutionen, der EU und der NATO, sondern auch die Ziele und die Mittel deutscher Außenpolitik verändert. "Stabilitätsexport" verdrängte Wohlstands- und Überlebenssicherung.
Die Neubestimmung ihrer Funktionen akzentuierte allerdings auch die unterschiedlichen nationalstaatlichen Interessen innerhalb der NATO und der EU. Die Ausdehnung der westlichen Stabilitätszone durch eine Erweiterung der Mitgliedschaft in diesen beiden Organisationen bildete zwar den gemeinsamen Nenner westlicher Politik. Dieser fiel insgesamt aber nicht allzu groß aus, weil der kollektive Stabilitätsgewinn gerade im innereuropäischen Verhältnis auch auf seine Implikationen für Zugewinne oder Verluste an nationalstaatlicher Macht kritisch geprüft wurde. Für die NATO fiel diese Kalkulation weniger stark ins Gewicht, weil die Dominanz der USA in allen denkbaren Szenarien offensichtlich blieb. Im Zuge der Ereignisse des 11. September 2001 und der damit einhergehenden weiteren Entwertung des westlichen Bündnisses aus amerikanischer Sicht verlor sie weiter an Bedeutung.
Mit der Herabstufung Europas auf der Prioritätenliste Washingtons bricht jedoch das Fundament einer der beiden Säulen früherer deutscher Außenpolitik weg. Die USA überlassen die Europäer im Allgemeinen und die Deutschen im Besonderen ihrem Schicksal. Verschärfend kommt hinzu, dass sie immer mehr den paradigmatischen Gegenpol dessen markieren, wofür Deutschland in den internationalen Beziehungen stehen will. Während die Ereignisse des 11. September 2001 die immer schon vorhandene Präferenz der Weltmacht USA für ein Maximum an Bewegungsfreiheit in der internationalen Politik deutlich verstärkten, haben sie die deutsche Präferenz für eine Zivilisierung der internationalen Beziehungen nicht nachhaltig geschwächt. Die beiden wichtigsten Mitglieder der NATO marschieren damit in zentralen Fragen der internationalen Politik - vom Klimaschutz über den Internationalen Strafgerichtshof bis zur Irak-Politik - entschiedener denn je in entgegengesetzte Richtungen - mit weit reichenden Folgen für die strategische Ausrichtung deutscher Außenpolitik.
III. Das unvollendete Projekt der europäischen Integration
Wenn sich in Europa nach wie vor (wenn auch in abgeschwächter Form) "das alte und immer wieder neue Problem der ,kritischen Größenordnung' Deutschlands" stellt und mit der zunehmenden Abkehr der USA von Europa deren klassische Funktion als machtpolitischer Übervater der westeuropäischen Befriedung im Allgemeinen und als Rückversicherungsinstanz gegenüber verbliebenen Restängsten vor einem dominierenden Deutschland im Besonderen entfällt, lastet ein umso schwereres Gewicht auf der traditionellen zweiten Säule deutscher Nachkriegsaußenpolitik, der EU. Neben der NATO wurde vor allem mit dem Projekt der europäischen Integration die Hoffnung verbunden, das "ordnungspolitische Grundproblem" der europäischen Neuzeit zu lösen. Die Beziehungen innerhalb Europas sowie zwischen Deutschland und seinen Nachbarn mussten so organisiert werden, dass "Deutschland in Europa existieren und sich entfalten kann, ohne einen bestimmenden Einfluss in Europa zu erlangen"
Auf den ersten Blick kann man die Entwicklung der vergangenen zehn Jahre als durchaus angemessene Antwort interpretieren. Erstens haben die integrationswilligen Mitglieder auf Vorschlag Deutschlands und Frankreichs eine gemeinsame Währung eingeführt, welche die wechselseitigen Abhängigkeiten und Kooperationszwänge deutlich verstärkt hat. Zweitens hat die Gemeinschaft aus den desillusionierenden Erfahrungen einer anfangs zerstrittenen EU-Außenpolitik auf dem Balkan ihre Lehren gezogen. Anfängliche "Sonderwege", wie sie vor allem im Zusammenhang mit der einseitigen deutschen Anerkennung von Kroatien und Slowenien wahrgenommen wurden, haben sich genauso wenig als überlebensfähig erwiesen wie jene anfänglichen Koalitionsbildungen entlang klassischer Allianzlinien des Zweiten Weltkrieges, mit denen kurzzeitig einige Diplomaten in europäischen Außenministerien liebäugelten (z. B. Deutschland und Kroatien oder Frankreich/Großbritannien und Serbien). Die gegenwärtigen Differenzen zwischen Frankreich, Großbritannien und Deutschland im Blick auf die europäische Irak-Politik
Dass Deutschland in allen diesen Fragen nie der (keineswegs völlig irrealen) Versuchung erlag, die Stabilisierung seines Umfeldes "aus eigenen Sicherheitszwängen ... alleine und in der traditionellen Weise zu bewerkstelligen"
Nun resultieren Lernprozesse in der Außenpolitik wie in allen anderen Bereichen auch aus einem (in der Selbstwahrnehmung der Akteure) intelligenten Umgang mit Problemen. "Irreversibel" sind solche Prozesse allerdings schon deshalb nicht, weil (Ir-)Reversibilität keine signifikante Kategorie im Prozess kreativen Handelns ist. Zudem lassen sich verlässliche Urteile über Erfolg oder Misserfolg einer spezifischen Lernerfahrung häufig erst in deutlichem Abstand zu den jeweiligen Ereignissen fällen. Ein zweiter Blick auf die nunmehr mit Abstand wichtigste Säule deutscher Außenpolitik lässt daher bei aller Zuversicht über die erzielten strukturellen Erfolge zur Lösung des ordnungspolitischen Grundproblems Europas zur Vorsicht mahnen. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass man die immer wieder auftauchenden, in einem großen geschichtlichen Kontext keineswegs unplausiblen, vor dem Erfahrungshintergrund des europäischen Integrationsprojektes jedoch recht anachronistisch anmutenden "realistischen" Szenarien eines Europa unter deutscher Dominanz nicht leichtfertig ad acta legen sollte.
1. Deutsche Interessen
Wie die brüske Zurückweisung des drohenden "Blauen Briefes" durch Bundeskanzler Schröder im Frühjahr 2002 sowie seine polternd vorgetragene Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung deutscher industriepolitischer Interessen gezeigt hat, wächst mit zunehmenden innenpolitischen Problemen die Versuchung der auf Machterhalt erpichten Spitzenpolitiker, mit einem Fingerzeig auf "Brüssel" von der eigenen Verantwortung abzulenken. Sowohl in Brüssel wie auch in anderen Hauptstädten ist dies mit großer Verärgerung registriert worden.
Ohnehin wird seit mehreren Jahren und in allen Umfragen ein klarer Trend gemessen, dass die Bevölkerung eine stärkere Berücksichtigung deutscher Interessen einfordert. Zwar wird auf der einen Seite gesehen, dass der deutsche Einfluss in der EU in den vergangenen zehn Jahren zugenommen hat (im Januar 2002 sahen dies 53 Prozent der Befragten so, 30 Prozent meinten, der Einfluss sei gleichgeblieben, 9 Prozent meinten, er hätte abgenommen) und auch absolut "groß" (57 Prozent) oder sogar "sehr groß" (13 Prozent) sei.
Allerdings zeigen andere Umfragen auch, dass in der öffentlichen Wahrnehmung auf deutsche Interessen "nicht genügend Rücksicht genommen" wird. In einer Umfrage von Emnid aus dem Jahr 2000 stimmten 23 Prozent der Befragten dieser Aussage "vollständig" und weitere 26 Prozent "eher" zu. Unentschieden zeigten sich 29 Prozent, und nur 20 Prozent lehnten diese Einschätzung eher oder vollständig ab. Im Vergleich zu anderen internationalen Organisationen würden deutsche Interessen zwar noch am ehesten in der EU "sehr gut" (6 Prozent der Befragten) oder "eher gut" (25 Prozent) durchgesetzt werden, aber 50 Prozent sind hier unentschieden, und 16 Prozent sehen deutsche Interessen eher schlecht oder sehr schlecht vertreten.
2. Deutschland in Europa
Für eine dauerhafte Lösung des ordnungspolitischen Grundproblems Europas ist allerdings noch eine weitere Beobachtung von Bedeutung, welche die Komplexität der Beziehung Deutschland-EU zusätzlich unterstreicht. Denn es wäre eine irreführende Interpretation, aus dem Befund eines verbreiteten Gefühls der Benachteiligung Deutschlands und der gleichzeitigen Entschlossenheit zur selbstbewussteren Verfolgung deutscher Interessen schnell auf einen wachsenden Gegensatz zwischen Deutschland auf der einen und der EU bzw. den EU-Partnerstaaten auf der anderen Seite zu schließen. Gewiss, Spannungen nehmen zu, aber das Etikett der "Renationalisierung", das in diesem Zusammenhang manchmal verwendet wird, ist deshalb irreführend, weil es den viel interessanteren Befund einer zunehmend symbiotischen Beziehung zwischen Deutschland und EU-Europa verfehlt. Nicht der Gegensatz zwischen beiden ist bemerkenswert, sondern wie eng Deutschland und Europa in der Wahrnehmung sowohl der deutschen Eliten wie auch der Öffentlichkeit zueinander gehören und miteinander verflochten sind. Dies lässt sich an mehreren Indikatoren aufzeigen.
Erstens zeigt sich dies im politischen Diskurs in der steten Wiederholung von Formeln, welche die deutsche Außenpolitik als wesentlich über Europa definiert erscheinen lassen. Selbst bei Gerhard Schröder, der stets vor "Leisetreterei" gegenüber Brüssel warnt, lässt sich deutsche Außenpolitik nur begreifen als "Politik in Europa, für Europa und als Folge dessen auch von Europa aus"
Zweitens ist in einer ganzen Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen nicht nur aufgezeigt worden, wie sehr die EU als höchst passfähige Erweiterung des politischen Systems Deutschlands (gleichsam als logische vierte Ebene des Regierens) fungiert, sondern auch, wie weit "Europäisierung und Selbstbehauptung" als die zwei Seiten ein und derselben Medaille zu sehen sind.
Diese zunehmende Verschmelzung von europäischer und deutscher Politik spiegelt sich drittens auch in der Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit. Für viele Deutsche symbolisiert die EU nach wie vor ein großes Friedensprojekt unter den Völkern Europas.
All dies bedeutet sicherlich noch nicht, dass die Deutschen zugunsten eines "europäischen Staates" auf einen "selbständigen Staat" verzichten wollen. Aber wenn sie statt nach ihrer Präferenz nach ihrer Prognose gefragt werden, ob Deutschland in 50 Jahren "in einen europäischen Gesamtstaat eingegliedert" sein wird, erwarten dies mehr als zwei Drittel der Befragten.
3. Die EU und die Konkurrenz der Nationalstaaten
An dieser Stelle kommt als wichtiger dritter Bedingungsfaktor für die Entwicklung der deutschen Europapolitik die Politik der europäischen Partner, und insbesondere Frankreichs, ins Spiel. Nach Einschätzung der meisten Experten hat sich in der EU seit der Vereinigung eine weit reichende machtpolitische Verschiebung zugunsten der Deutschen ergeben. Vor allem die außenpolitische Elite Frankreichs, die dem internationalen Rang der Nation traditionell eine weit höhere Bedeutung beimisst als die deutsche Elite, hat dies als schmerzlichen Statusverlust registriert. Die möglichen Folgen dieser veränderten Wahrnehmung sind weit reichend. Nicht wenige Diplomaten und Wissenschaftler sprechen mittlerweile hinter vorgehaltener Hand davon, dass - aus einer gesamteuropäischen Perspektive betrachtet - das klassische "deutsche Problem" durch ein "französisches Problem" ergänzt, wenn nicht sogar verdrängt wurde.
Erschwerend kommt hinzu, dass diese Spannungen just in einer Phase zunehmen, in der - wie die obige Diskussion gezeigt hat - die Kompatibilität dieser drei zentralen Referenzpunkte für die Ausgestaltung von Außenpolitik im deutschen Fall eher zunimmt und dadurch die ohnehin gewachsene deutsche Macht zusätzlich akzentuiert wird. Obwohl seit dem Regierungswechsel in Frankreich im Frühsommer 2002 die innen- wie auch außenpolitische Lähmung durch die Kohabitation beseitigt wurde, ist das grundlegende Problem noch nicht gelöst, dass die französische Elite über keine hinreichend konsensfähige, vor allem aber auch realitätstaugliche Vorstellung verfügt, welche Rolle das Land in welcher Art von Europa anstreben soll. Die EU als Projektionsfläche globaler französischer Ambitionen und als internationales Gegengewicht zu den USA wird zwar von den Deutschen wohlwollender betrachtet als früher, aber zumindest gegenwärtig weder von ihnen noch von den Briten als neue strategische Vision unterstützt. Gleichzeitig erscheint die Fesselung deutscher Macht in einem Europa der Nationalstaaten zunehmend prekär, das, wie die stark in der gaullistischen Tradition stehenden französischen Vorschläge im Rahmen des Konvents zeigen,
Dieses "französische Problem" Europas ist aber gerade deshalb ein zentrales Problem Deutschlands, weil die Verwirklichung der übergreifenden Ziele deutscher Außenpolitik - d. h. die Stabilisierung des Ostens und Südostens Europas durch abgestufte Formen der Einbindung in oder Anbindung an die EU bei gleichzeitiger Verbesserung europäischen Regierens im Rahmen der EU - nach wie vor wesentlich von französischer Zustimmung abhängt. Die Rhetorik der Zentralität deutsch-französischer Zusammenarbeit hat sich im Übergang von der Bonner zur Berliner Republik zwar nicht verändert und mittlerweile auch einen festen Platz im Repertoire des anfangs eher anglophilen Gerhard Schröder gefunden. Aber die Begründung dieser Zusammenarbeit ist heute eine völlig andere. Einige Beobachter sprechen bereits davon, dass in den deutsch-französischen Beziehungen eine Ära zu ihrem Ende gekommen ist und ein "Prozess der Banalisierung" begonnen hat.
Nur wenn es gelingt, die wachsenden Zweifel der französischen Elite zu beseitigen, dass Frankreich in der zukünftigen europäischen Architektur wie auch bei der Neuverteilung der Gewichte zwischen den wichtigsten nationalen und institutionellen Akteuren einen seinem Selbstverständnis entsprechenden (und das heißt in vielerlei Hinsicht noch immer: hervorgehobenen) Platz erhält, wird das Integrationsprojekt die unterschiedlichen Kraftfelder innerhalb der EU wie auch in den angrenzenden Zonen auf ein europäisches Zentrum hin bündeln können. In dem Maße, in dem allerdings die Beziehungen "banal" erscheinen, wird die ohnehin bereits beobachtbare Tendenz einer neuen Generation deutscher Außenpolitiker wachsen, die Belastbarkeit der Beziehungen zu testen - und auch dies umso mehr, je stärker der innenpolitische Problemdruck und je ungerechter die Verteilung von Kosten (z. B. Agrarhaushalt) und Nutzen (z. B. Stimmenverteilung im Ministerrat) empfunden werden.
Die Entsendung von Außenminister Joschka Fischer in den EU-Konvent, seine Ankündigung neuer europapolitischer Initiativen, die über alles bisher Diskutierte hinausgehen und das Ziel "voller politischer Integration" beinhalten müssten
IV. Die Versöhnung deutscher und europäischer Interessen
"Außenpolitik ist Interessenpolitik. Sie geht aus vom nationalen Interesse, deutlicher gesagt: vom Eigennutz. Aber kein Staat dieser Erde kann heute seine nationalen Interessen allein und aus sich selbst heraus verwirklichen. Es ist nicht möglich, daß es der Bundesrepublik Deutschland allein gut geht, dass sie allein politisch, wirtschaftlich und sozial stabil ist, dass nur ihre eigene Sicherheit garantiert ist." Mit dieser Botschaft warb die sozial-liberale Koalition bereits vor mehr als zwanzig Jahren für ihre Politik.
Die Europäische Union ist heute für Deutschland aber weit mehr als die wichtigste internationale Institution zur Vertretung deutscher Interessen. In fast allen Lebensbereichen - d.h. weit über sichtbare Projekte wie den Euro hinaus - ist sie zu einem festen Bestandteil des politischen Systems Deutschlands geworden. Ob "Eigennutz" (im Gegensatz zum Nutzen der Partner) unter diesen Bedingungen noch eine sinnvolle handlungsleitende Kategorie darstellen kann, ist vor allem auch deshalb fraglich, weil die Grenzen dessen, was zu "uns" gehört, zunehmend verschwimmen. Seiner Führungsrolle wird Deutschland daher umso eher gerecht werden können, je weniger die nationalstaatlichen Grenzen in der Rede von den "eigenen" Interessen akzentuiert werden, d.h., je mehr deutsche und europäische Interessen versöhnt erscheinen.