I. Zeitgeschichte im Kontext veränderter Rahmenbedingungen
Neben Bilanzen zum 20. Jahrhundert, Konzepten einer Weltgeschichte, dem Gebrauch und Missbrauch von Geschichte wie den unterschiedlichen Erinnerungs- und Geschichtskulturen ging es beim Welthistorikertag in Oslo im Jahr 2000 auch um das Thema Globalisierung. Gesamtbetrachtungen, Periodisierungen und Systematisierungen waren gefragt. Seit dem Ende des Kalten Krieges ist das Geschehen komplexer und nicht mehr so einfach deutbar - "ordnungsstiftende" Interpretationen sind notwendig, denn Zeitgeschichte droht aufgrund dramatisch gewandelter Rahmenbedingungen in Sprachlosigkeit zu versinken. Sie muss sich aufgrund einer in Bewegung geratenen Welt fragen, was sie noch zu sagen hat. War der Warschauer Pakt bereits am 1. April 1991 am Ende, so steht die Funktion der NATO infolge unterschiedlicher Vorstellungen von der zukünftigen Weltordnung zur Diskussion. Der auf politische Stabilität ausgerichtete Wirtschafts- und Währungsverbund EU und die verbliebene militärische Supermacht USA mit globaler Hegemonieabsicht haben sich seit dem Ende des Ost-West-Konflikts auseinander gelebt. Der 11. September 2001 hat diese Entwicklung noch verschärft.
Nicht nur deshalb geht es hier um Zeitgeschichtsschreibung zwischen Europäisierung und Globalisierung.
Zeitgeschichte wurde auch nach 1945 überwiegend national konstituiert und im staatlichen Rahmen ausgerichtet, was der Weitung ihres Horizonts hinderlich ist. Erschwerend kommt hinzu, dass es ihr oft an Distanz zu sich selbst mangelt. Das von Hans Rothfels 1953 so bezeichnete "Epochenjahr" 1917 mit dem Doppelereignis Revolution in Russland und dem Kriegseintritt der USA als Ausgangspunkt einer universalen Zeitgeschichte erfuhr durch den Zusammenbruch der post-stalinistischen Regime in Ost- und Mitteleuropa, den Zerfall des Sowjetimperiums 1989-1991 und den völlig unberechenbaren und weltweit möglichen Massenterror - der 11. September 2001 ist nur ein Beispiel - eine Bestätigung für eine an europäischen und globalen Fragestellungen orientierte Zeitgeschichte, die regionale Begrenztheiten, nationale Verengungen und daraus erwachsende Einseitigkeiten und Überinterpretationen vermeiden will. Derartige Bemühungen sind in der Geschichtswissenschaft nicht neu, in der Zeit vermehrter Globalisierung aber verstärkt erforderlich.
II. Vergleich des historisch Spezifischen im Mehrebenensystem
Ein immer dringlicheres Desiderat ist daher der historische Vergleich. Er war aufgrund des globalen Arrangements zwischen den Supermächten, ideologischer Rücksichtnahmen und übertriebener politischer Vorsicht vielfach tabuisiert. Im Grunde ist er gar nicht neu, weil er geschichtswissenschaftliche Tradition hat - auch wenn einzuwenden ist, dass Geschichte aus Unvergleichbarem besteht. Vergleichen muss aber nicht Gleichsetzen heißen. Partielle Übereinstimmungen festzustellen muss noch keine "Relativierung" bedeuten, als ob dies etwas per se Schlechtes wäre, wie im "Historikerstreit" um die umstrittenen Thesen von Ernst Nolte unterstellt wurde - ohne zu realisieren, dass mit dem komparativen Ansatz die Einzigartigkeit des NS-Massenmords an den Juden eigentlich erst deutlich wurde. Der Comparative History ist an Gründen, Intentionen und Wirkungen im historischen Prozess gelegen. Es geht um Abgrenzungen, Differenzierungen, Kontrastierungen und Generalisierbarkeit. Der historische Vergleich ist nicht nur für lokale und regionale, sondern gerade für nationale und übernationale Sachverhalte notwendig, weil dadurch erst ihre spezifischen Merkmale hervortreten.
Vergleiche werden immer notwendiger, um Geschichte in der Komplexität, ihre dialektischen Prozesse und wechselseitigen Abhängigkeiten zu erfassen. Regionale Geschehnisse sind nicht nur als Ergebnis staatlicher Konstellationen, sondern nationale Verhältnisse auch als Folge europäischer und globaler Prozesse zu verstehen, wobei interdependente Beeinflussungen von "oben" nach "unten" und vice versa erfolgen, z.B. Machtkonzentrationen und Koalitionen auf einer mittleren Ebene (z.B. EU-Staaten) und oberen Ebene (z.B. IWF, UNO und WTO) und deren Folgewirkungen, d.h. Gegenaktionen "von unten" (z.B. Maßnahmen der Globalisierungsgegner in Seattle und Genua oder Regionalisierung in EU-Staaten). Zu erforschen sind aber auch Wechselbeziehungen von subjektivem Handeln starker Einzelpersönlichkeiten (z.B. Jacques Delors als Kommissionspräsident) und strukturellen Bedingungen (z.B. nationale Administrationen, von EU-Institutionen und internationalen Organisationen, Mentalitäten von Akteuren und Apparaten, Traditionen in Staaten etc.). Nicht nur solche Mehrebenenbetrachtung, sondern auch der gleichzeitige Ebenenvergleich lohnt.
Zeitgeschichte wird dadurch aufwändiger, sowohl was die Forschung als auch die Darstellung anlangt. Aufgrund weitgehend fehlender vergleichender übernationaler Zeitgeschichten gibt es noch keine verbindliche Periodisierung, zu wenig ist bisher im Sinne einer Gesamtschau gearbeitet worden: Brüche und Zäsuren werden nach wie vor nationalgeschichtlich festgeschrieben, sieht man von übernationalen Einschnitten wie 1918, 1945 und 1989 ab.
III. Selbstkritik, Streitkultur und Unabhängigkeit einer innovativen Zeitgeschichte
In der Zeitgeschichte besteht immer wieder die Gefahr der Politisierung und Ideologisierung. Enthüllungen und Moralisieren sind aber nicht mehr so gefragt. Der Kalte Krieg ist zu Ende; Weltanschauungen müssen nicht mehr produziert werden. Umfassende Analysen, nüchterne Rekonstruktionen und Historisierungsversuche sind in einem neuen internationalen System mit Blick auf die alte Ordnung erforderlich. Zeitgeschichte darf sich dabei weder von Stimmungen des politischen Moments erfassen noch sich beim Vergleich von Unterschieden für tagespolitische Vorteile, weltanschauliches Wunschdenken oder für schnelllebige Parteipolitik einspannen lassen.
Der Blick zentraleuropäischer Zeitgeschichte ist überwiegend auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts - den Faschismus, Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg - konzentriert (gewesen). Überbetonungen blieben aufgrund dieser Fokussierungen nicht aus. Unausgewogenheit in der Themenwahl und Einseitigkeiten bei der Beurteilung waren daher auch für die Darstellung der Zeit nach 1945 die Folge. Unzureichend reflektierte Begriffe und fallweise undifferenzierter Umgang mit der "Erlebnisgeneration" kamen hinzu. Nachdenklich sollte stimmen, dass erst durch den Zusammenbruch des "real existierenden" Sozialismus in Mittel- und Osteuropa und vor allem der Sowjetunion das Ausmaß der Verbrechen dieser Regime allmählich ins Bewusstsein rückte, aber nur kurzzeitig in die medienvermittelte Geschichtsdebatte Eingang fand. Bis dahin genoss der Kommunismus infolge seiner Bündnispartnerschaft mit dem demokratisch-kapitalistischen Westen gegen Hitler einen beträchtlichen politischen Bonus. Ideologische Rücksichtnahme und Tabuisierungen des Diktatur-Vergleichs standen tiefer gehenden Erkenntnissen für die Zeit vor 1989 eher im Weg.
Erst das nicht unumstrittene "Schwarzbuch des Kommunismus" und weitere Publikationen zu diesem Themenkomplex machten deutlich, was vorher nur unmittelbare Zeitzeugen wussten oder von Fachleuten erahnt werden konnte: Der Unrechtscharakter, der Repressionsapparat, das Verfolgungssystem und das Zerstörungspotenzial des Kommunismus waren umfassender und eliminatorischer als das Instrumentarium des Nationalsozialismus - von der Quantität der Opfer nicht zu sprechen, was aufgrund der längeren Herrschaftszeit und der damit verbundenen größeren Wirksamkeit des weltweiten Terrors nicht verwundert. Der Wahn von der klassenlosen Gesellschaft kostete über 80 Millionen Menschen das Leben. Was man sich durchaus schon vor 1989/90 denken konnte, wagte aber selbst in den westlichen Demokratien kaum jemand offen auszusprechen. Diese nicht unerheblichen Lücken der Zeitgeschichte - u.a. auch bedingt durch die jahrzehntelange Unzugänglichkeit ostmitteleuropäischer und sowjetisch-russischer Archive - können erst jüngere Forschergenerationen füllen.
Neben dem rassenpolitischen Massenmord der Nationalsozialisten und dem klassenpolitischen Massenmord der Kommunisten - beide genozidartig angelegt - ist an die kolonialpolitischen Massenmorde zu erinnern. So hat es in Afrika durch die Ausbeutungspolitik Belgiens unter König Leopold II. bis 1908 etwa zehn Millionen Sklaventote gegeben - ein völlig tabuisiertes Kapitel europäischer Politik der Neuzeit. Nahezu völlig der westlich-europäischen Wahrnehmung verborgen blieb ebenso Maos Massenmord, der große chinesische Hungertod von 1958 bis 1961, der zwischen geschätzten 15 bis 40 Millionen Opfer gekostet haben soll. Zu den gleichfalls tabuisierten Verbrechen gehört auch der türkische Genozid an den Armeniern. Nicht zuletzt sei hier hingewiesen auf die immer wieder verschwiegene oder relativierte völkermordartige Vertreibung der Deutschen. Von den dabei betroffenen über zwölf Millionen Menschen sind etwa zweieinhalb Millionen umgekommen. Große Teile Deutschlands wurden ohne Friedensvertrag annektiert.
Neben mangelnder Bereitschaft zur Beschäftigung mit derartigen Themen - wobei insbesondere nach den Gründen dafür zu fragen wäre - gibt es unterschiedliche Geschwindigkeiten in der Aufarbeitung von Vergangenheiten. Die "Weltmeister" der Minimierung, Verdrängung und Verleugnung von Geschichtsverbrechen sind oft weniger in zentraleuropäischen Ländern zu finden, als gemeinhin durch eurozentrierte Betrachtungen suggeriert wird. In Europa wird Zeitgeschichte weit mehr als Bürde empfunden als z.B. in den USA, in deren Geschichtsbewusstsein die eigenen Völkermorde (Indianer) und Kriegsverbrechen kaum eine Rolle spielen. Durch die zunehmende Moralisierung der Geschichtspolitik (samt finanzieller Entschädigungen) ist ferner eine daraus erwachsende neue staatliche Verantwortung für Verfehlungen und Versäumnisse in der Aufarbeitung der eigenen jüngeren Geschichte - und dies nicht nur für Deutschland - feststellbar. Daraus resultierten neue Verpflichtungen für die Zeitgeschichte insgesamt. Mehr Mut zu kontroversen Fragestellungen und nonkonformistischen Thesen ist notwendig.
IV. Vergleichende Betrachtungen europäischer Zeitgeschichten
Eine vergleichende Betrachtung muss sich auf publizierte Werke beschränken. Aber auch diese sind schwierig zu überblicken, abgesehen von der kaum mehr zu bewältigenden Aufsatzflut in Fachzeitschriften. In der Regel bedarf es einiger Zeit, bis neuere Forschungen zur Kenntnis genommen und verarbeitet werden. Sieht man von diesen Einschränkungen ab, ergibt ein grober Vergleich zeitgeschichtlicher Trends in Westeuropa vor allem analoge, aber auch unterschiedliche Befunde.
1. Frankreich: Vive la France! La crise de l'histoire?
Die Zeitgeschichtsschreibung in Frankreich ist auf zahlreiche Institutionen verteilt und wird im großen Rahmen der histoire contemporaine betrieben. Urteile fallen unterschiedlich kritisch aus; ein französischer Beobachter spricht von "la crise de l'histoire" . Forschungen über die äußere Dimension der französischen Geschichte, d.h. über auswärtige Relationen, die über den größeren nichtfrankophonen Kontext hinausgehen, fehlen vielfach. Die großen Zeiten eines Pierre Renouvin, Jean-Baptiste Duroselle oder René Girault scheinen vorbei - sieht man von namhaften Ausnahmen ab: Die relations internationales wurden z.T. modern profiliert. Neuaufgelegte Gesamtdarstellungen zur Europäischen Integration sind zu nennen, und die "klassische" Diplomatiegeschichte wird auf höchstem Niveau vertreten. Während die mittelalterliche und neuere (= moderne) Geschichtsschreibung grosso modo aufgeschlossen, fortschrittlich und internationalisiert ist, gibt es im engeren Bereich der Zeitgeschichte (histoire du temps présent) methodisch nicht immer viel Innovatives und z.T. Theorierückstand.
Von Frankreichs Zeitgeschichtsforschung gehen trotz dieser kritischen Befunde wichtige Impulse aus, wofür Übersetzungen ins Amerikanische sprechen. Zum Vichy-Syndrom wurde im größeren Kontext von Pierre Noras Konzept der lieux de mémoire übernationale Modellarbeit geleistet, und die französische Perspektive ist internationalisiert worden. Geographisch betrachtet existieren aber so gut wie keine Arbeiten über Großbritannien, kaum etwas nennenswert Neues gibt es über Deutschland, abgesehen von Studien ohne archivalische Basis. Einige Arbeiten sind aufgrund entsprechender Forschungen der Ecole Française de Rome über Italien geschrieben worden; nur wenig liegt über Osteuropa und die ehemalige Sowjetunion vor. Die USA und ihre Politik stellen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, terrae incognitae dar; einige jüngere Wissenschaftler haben sich der arabischen Welt und Indochina zugewandt. (Nord-) Afrika ist ein Fall für sich: Die Darstellung des Kolonialismus und der Entkolonialisierung ist gekennzeichnet von den Befangenheiten einer political correctness. Es geht um Kolonialismus-Diskurse, Fragen der Kultur und des Rassismus. Hier wäre auf Arbeiten von Alain Ruscio und Claude Liauzu zu verweisen. Es gibt, von Ausnahmen abgesehen, kaum Überlegungen im Maßstab europäischer Geschichte. "Global History" findet nicht statt.
Thematisch folgt französische Zeitgeschichte den Trends der Zeit: l'histoire des intellectuels und Ideengeschichte, Vichy und Résistance. Kontroversen gibt es nach wie vor über den Ersten Weltkrieg. Die Politikgeschichte bewegt sich nur partiell: Zwischen "Traditionalisten" und den "Aposteln alles Kulturellen" (Pierre Grosser) verlaufen noch Trennlinien. Fragestellungen der Politikwissenschaft und Soziologie werden weitgehend ignoriert, anglo-amerikanische Forschungen kaum wahrgenommen. Einen unwiderstehlichen Reiz bilden nach wie vor die dreißiger Jahre sowie faschistoide Splittergruppen. Kaum besteht noch Interesse an der Sozialgeschichte, wie dies in früheren Jahrzehnten der Fall war. Fortschritte verzeichnet aber die Frauengeschichte.
Die Befunde sind auch Ergebnis politischer Entwicklungen: Korruptionsfälle, Krisenerscheinungen und die wechselhaften Erfolge des Front National unter Jean-Marie Le Pen mit nicht unerheblichen Erschütterungen für das politische System. Der Vichy-Komplex mit der das nationale Prestige belastenden collaboration wirkt seit den achtziger Jahren in der öffentlichen Debatte um François Mitterrand und den vélodrome d'hiver (Judendeportation) nach. Die "schwarzen Jahre" (Thomas Angerer) dominieren in der Forschung bis heute. Der Zweite Weltkrieg hat die Grande Revolution als zentrales Thema abgelöst. Frankreich hat keine erstrangige politische Stellung in Europa mehr, und seine globale Rolle als Militär- und Atommacht ist limitiert. "Rang" und "ordre" als Kategorien sind fragwürdig geworden, intellektuelle Selbstbespiegelungen, Rückwärtsorientierungen auf die Zwischenkriegszeit und den Ersten Weltkrieg verwundern kaum. Gefragt wurde zuletzt, wie aktuell die französische Zeitgeschichte überhaupt sei. Ein weiteres Problem besteht nicht nur in ihrem Frankozentrismus, sondern auch in ihrem "Vernetzungsmangel", im "Vorbeischreiben an der internationalen Historiographie" (Angerer). Im Vergleich zum Englischen gibt es z.B. sehr geringe und weiter abnehmende Deutsch- und Deutschlandkenntnisse.
2. Großbritannien: Der äußeren Welt noch am nächsten
Die britische Zeitgeschichte wird mit 1939/45 beginnend datiert. Das Journal of Contemporary History hat erst kürzlich beschlossen, primär über die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu veröffentlichen. In der Historiographie lassen sich verschiedene Schwerpunkte benennen: "Großbritannien und die Welt" ist ein erster Komplex, der sich mit der "Weltmacht im Niedergang" und ihrer stärkeren Zuwendung zum Kontinent befasst. Es gab zuletzt umfangreiche Forschungen zu den auswärtigen Beziehungen des Vereinigten Königreichs, vor allem zu "UK and Europe." Hier liegt der Schwerpunkt bei den Jahren bis 1961, dem Jahr des ersten britischen EWG-Beitrittsantrags bzw. bis zu de Gaulles paukenschlagartiger Ablehnung am 14. Januar 1963. Den Untersuchungen ging es nicht nur um diplomacy and statecraft, sondern um wirtschaftliche Interessen, die Eliten und ihre gewandelten Einstellungen zu "Europa", auch hinsichtlich historischer Vorbelastungen der britischen Politik.
Ein zweiter Themenbereich berührt die Beziehungen zu den USA; aus ihm sind zahlreiche Arbeiten hervorgegangen, vor allem Überblicksdarstellungen, die sich mit der special relationship, u.a. hinsichtlich der Nuklearpolitik, sowie auch mit der Rolle als junior partner und den Folgen - u.a. den enger werdenden Beziehungen zu Europa - befassen. Daraus ergibt sich wieder ein Bezug zum decline, eine der zentralen Kategorien, um die sich breite Diskussionen entfaltet haben, z.B. über den relativen britischen Niedergang mit Blick auf Wirtschaft, Militär und Politik, die unterschiedlich gewichtet werden. Diese Diskussion ist vergleichbar mit ähnlichen europäischen Debatten über das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert, korrespondierend mit kultur- und wirtschaftshistorischen Thesen vom Niedergang ehemaliger Großmächte.
Decolonisation ist ein dritter Forschungsschwerpunkt, der mit Arbeiten über Indien und die zunehmende Entkolonialisierung in den sechziger Jahren hervorsticht, der inzwischen auch - etwa zur Rhodesien-Frage - stärker die Problematik der kolonialpolitischen Belastung für das Königreich und dessen Rolle in der säkularen Phase der Dekolonialisierung in den Blick nimmt. Hierbei werden auch die Interessen der USA und der "Abwehrkampf" gegen den Kommunismus in der "Dritten Welt" in Betracht gezogen. Vergleichbare Historikerkommissionen wie in der Schweiz oder Österreich zu strittigen Fragen der eigenen Zeitgeschichte, z.B. zu den englischen Kolonialkriegen, gibt es in Großbritannien allerdings nicht.
Ein viertes Themenfeld ist mit der Gesellschaftspolitik gegeben. Hier wird u.a. danach gefragt, inwieweit zwischen 1945 und 1970 eher Konsens in der britischen Wirtschafts- und Sozialpolitik existierte mit Blick auf den Ausbau des Sozialwesens, die Reprivatisierungen bzw. die Beibehaltung teilweiser Verstaatlichungen, oder aber ob die konservativen und sozialdemokratischen gesellschaftspolitischen Konzepte nicht doch sehr verschieden voneinander waren.
Ein fünfter Themenkomplex bezieht sich auf die identity. Ältere Forschungen zur "imperialen Identität" spielten im Hinblick auf die Außenpolitik eine Rolle, während neuere Arbeiten Ansätze aus der Politikwissenschaft über "äußere" und "periphere" Identitäten, die geforderte Dezentralisierung und den tatsächlichen Dezentralisierungsprozess - bis zu den Volksabstimmungen in Wales und Schottland 1997 über die Bildung von Regionalparlamenten - berücksichtigen. In diesem Zusammenhang stellt sich die zentrale Frage: "What is England in a decentralized and more globalized world?" - zumal wenn nationale bzw. ethnische Identitäten an der "Peripherie" stärkeres Profil gewinnen als die eigene "innere" Identität. Es scheint, dass Großbritannien den Verlust seines Empire relativ verzögert wahrgenommen und erst sehr spät verarbeitet hat. Zeitgeschichte ist im Vereinigten Königreich weiterhin nationalstaatlich definiert und wenig komparativ oder transnational ausgerichtet. Aufgrund der Commonwealth-Dimension der britischen Geschichte sind die international relations intensiver ausgeprägt als auf dem Kontinent. Eine stärkere Einbeziehung der Sozialwissenschaften ist nicht feststellbar; Cultural Studies sind aber auch in der Zeitgeschichte einflussreich geworden.
3. Italien: Erosion des "antifaschistischen Paradigmas"
Das Risorgimento, die Resistenza, die Arbeiterbewegung, die Kommunismus- und zuletzt Antisemitismusforschung, aber auch die Agrargeschichte im engeren und die Sozialgeschichte im weiteren Sinne sind nennenswerte Themen der storia contemporanea. Wenige Spezialisten nur beschäftigen sich mit den äußeren bzw. internationalen Beziehungen sowie der italienischen Europa- und Integrationspolitik. Fragen zur Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der nationalen Identität standen im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte, die seit Ende der achtziger Jahre geführt wurde. Erstens ging es hier um die Relevanz von Widerstand und Antifaschismus als Basis für das republikanische Italien, zweitens um Zukunftsorientierung vor dem Hintergrund eines kriselnden Staats- und Nationalbewusstseins. Das Ende des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa sowie in der Sowjetunion stellte auch das italienische parteipolitische System in Frage. Der kommunistische PCI musste mit seiner stalinistischen Vergangenheit brechen und den Wandel zu einer sozialdemokratischen Partei vornehmen. Aber auch das über Jahrzehnte funktionierende System der Democrazia Cristiana brach zusammen. Giulio Andreotti stand unter dem Verdacht mafioser Verstrickung, während der Sozialist Bettino Craxi auf der Flucht war. Die Urnengänge brachten 1994 die Nachlassverwalter des Faschismus (vormals Movimento Sociale Italiano, umbenannt in Alleanza Nazionale) im Verbund mit Silvio Berlusconi an die Regierung. Vor diesem Hintergrund gewann eine revisionistische Historiographie Oberwasser, die fragte, ob der die Verfassung kennzeichnende Antifaschismus noch Sinn habe. Damit einher ging eine Relativierung der Resistenza. Strittig war und ist vor allem die konfliktbeladene Zeit vom Sommer 1943 bis April 1945, als Italien mit drei Kriegen konfrontiert war: mit einem "klassischen" zwischen regulären deutschen und anglo-amerika-nischen Armeen, ferner mit einem nationalen Befreiungskrieg zwischen Widerstand und deutschen Truppen, sodann mit einem italienischen Bürgerkrieg zwischen Resistenza und Faschisten.
Ausgehend von dieser komplizierten Konstellation formulierte der renommierte Mussolini-Biograph Renzo De Felice Kritik an der Zeitgeschichte, die einer radikalen Revision gleichkam. Erst der Fall der Berliner Mauer, der Untergang des Sowjetimperiums und die Öffnung russischer Archive hätten einen "Anfang der Wende" in der Widerstandshistoriographie eingeleitet. Viele Mythen seien bewusst geschaffen worden, wonach z.B. die Resistenza eine Massenbewegung gewesen sei. Der PCI habe daraus politische Legitimation gewonnen. Der Widerstand habe jedoch nur aus einer Minderheit existiert; die große Masse der Bevölkerung habe zwischen beiden Lagern gestanden. Damit berührte De Felice auch ein Problem des Widerstands gegen Hitler in anderen europäischen Ländern. De Felices Kritiker wandten ein, dass gerade diese Minderheiten durch ihre Aktivitäten zum Umschwung beigetragen und damit die Zukunft ihrer Länder (mit)gestaltet hätten. Mit der Absetzung Mussolinis durch nationalkonservative Eliten habe sich Italien aufgrund der Resistenza z.T. zweifellos selbst befreit, was De Felice ignoriere. Dieser warf seinerseits der Widerstandsforschung vor, die Konfrontation der Resistenza mit der Repubblica Sociale Italiana (RSI), jenem Marionettenstaat von Hitlers Gnaden, ausgeblendet und damit die Krise des Staates verdeckt zu haben. Der Widerstand sei nicht in der Lage gewesen, die Probleme des Landes zu lösen, ja er habe diese noch verschlimmert. Mussolini habe aus patriotischer Motivation mit der RSI eine Schutzschild-Funktion entwickelt, um zu verhindern, dass Hitler aus Italien ein zweites Polen machen würde. Apologie vermengte sich hier mit Revisionismus.
Das Thema wurde auch von der Politologie aufgegriffen: Wenn der italienische Staatsgedanke 1943 tot gewesen sei, dann deswegen, weil vorher bereits ein großer Teil der Italiener die Niederlage ihres Staates gewünscht habe, während Widerstand und die RSI mit ihren Aktivitäten vieles nur noch verschlechterten, indem sie dem Faschismus die Alleinverantwortung für Krieg und Niederlage zugeschoben hätten, um von ihren eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken. Bei aller Polemik setzte eine Historisierung des Faschismus ein - bis dahin galt eine seriös-wissenschaftliche Befassung mit dem Faschismus eher als "an sich schon unmoralisch" . Laut De Felice habe der Faschismus zur Modernisierung Italiens (Innovationen, Verstaatlichung der Industrie, Ausbau des Sozialsystems etc.) beigetragen. Seine Schuld sei begrenzt, da er im Unterschied zum Nationalsozialismus "vor der Anklage des Genozids geschützt" sei und daher nicht für den Holocaust mitverantwortlich gemacht werden könnte - wobei De Felice die Entrechtung der Juden durch die Rassengesetze Italiens von 1938 und die effiziente Zusammenarbeit mit der NS-Verfolgungspolitik ausblendete. Die wiederholt heruntergespielten Zusammenhänge zwischen dem immer noch als human geltenden römischen Kolonialismus, dem faschistischen Rassismus und dem späteren Holocaust waren tatsächlich weit enger. Kritik ist inzwischen kaum mehr möglich. Die Direktorin des Staatsarchivs, Paola Carucci, Vizepräsidentin des Forschungsinstituts des Widerstands, ist kürzlich vom Kultusminister abgesetzt worden, weil sie einen Sammelband über Faschismus mitveröffentlicht hat (Süddeutsche Zeitung, 13. 11. 2002).
Die strittige Debatte über Fascismo und Resistenza ist in Italien noch nicht abgeschlossen. Erst wenn sie ihre politische Funktion verliert, können historisierende Kräfte ganz die Oberhand gewinnen. Dieser Prozess scheint mit der Entsakralisierung des "antifaschistischen Paradigmas" - laut De Felice ein "dogma insincero" - eingeleitet worden zu sein. Die Folgen bleiben abzuwarten.
4. Die Schweiz: Ein Igel mit weniger Stacheln
Der Begriff "Zeitgeschichte" wird in der deutschsprachigen Schweiz unterschiedlich verwendet. Seit Mitte der neunziger Jahre setzte eine intensive Auseinandersetzung mit der Rolle der Eidgenossenschaft im Zweiten Weltkrieg ein. Dank der Stärke der Armee sei es gelungen, von NS-Deutschland nicht erobert zu werden, die Unabhängigkeit zu wahren und neutral zu bleiben, lautete die offizielle Lesart, die jahrzehntelang in den Geschichtsbüchern nachzulesen war. Dieses Bild wankte spätestens seit bekannt wurde, dass in der Schweiz ein Großteil des von den Nationalsozialisten in den besetzten Gebieten geraubten Goldes gehortet wurde. Der Genfer Soziologe und sozialdemokratische Abgeordnete im Schweizer Parlament, Jean Ziegler, verfocht die massiv am bisherigen staatlichen Selbstverständnis rüttelnde These, dass damit die Bankiers seines Landes den Zweiten Weltkrieg verlängert hätten. Motive für die Komplizenschaft mit Hitler wären beabsichtigte Kriegsgewinne und ungebändigte Raffgier gewesen. Der "Mythenschlächter" sprach von einer unglaublichen Heuchelei und der Neutralitätslüge.
Georg Kreis verwies dagegen historisch differenzierter auf vier Nachkriegsdiskurse: erstens über Kollaboration und "Verräter", zweitens die Rolle der Neutralität, drittens die Armee und viertens die Behandlung von Asylsuchenden und Flüchtlingen sowie Antisemitismus. Er erkannte darin gesellschaftspolitisch ausgerichtete "Bewährungsdebatten", inwieweit die Schweiz den selbst gestellten Ansprüchen und propagierten Idealen auch gerecht geworden sei. Ende der neunziger Jahre habe dann "eine Reaktivierung aller Teildiskurse" eingesetzt. Die Historikerzunft hätte hierauf keinen bestimmenden Einfluss gehabt und bestenfalls "nachträglich ordnend und vertiefend" als eine Art "Aufräumkommando" mitgewirkt.
Feststeht heute, dass die Schweiz ihre Unabhängigkeit nicht ihrem Militär, sondern vor allem ihren Wirtschafts- und Finanzbeziehungen verdankte, und zwar sowohl mit Blick auf NS-Deutschland als auch auf die Alliierten, vor allem die USA. Nach 1945 sei die Armee als entscheidender Faktor hochstilisiert worden, während sich die Industrie- und Bankenwelt so klein gemacht hätte, "dass sie in der nostalgischen Rückschau auf die Kriegsjahre verschwand" .
Überblicksdarstellungen zur Geschichtsforschung zeigen, dass inzwischen Arbeiten zur Sozial-, Mentalitäts- und Kulturgeschichte dominieren, welche die ältere Geschichte des (National-)Staates vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1945 ablösten. Eine gewisse Rückbesinnung auf die Politikgeschichte erfolgte mit dem Nationalen Forschungsprogramm NFP 42; auch die im Zuge der öffentlichen Debatten und des internationalen Drucks eingesetzte "Unabhängige Expertenkommission Schweiz - Zweiter Weltkrieg" (UEK), auch benannt nach ihrem Vorsitzenden Jean-François Bergier, zeitigte umfangreiche Ergebnisse: 25 Einzelstudien und ein Syntheseband schlossen größere Lücken, vor allem im Bereich der Unternehmensgeschichte sowie der Finanz- und Wirtschaftsbeziehungen der Schweiz zum NS-Staat. Grundlage war ein Zugangsprivileg zu Firmen- und Privatarchiven (einschließlich Exportfirmen, Banken, Versicherungen usw.). Das von der UEK gezeichnete Geschichtsbild war differenziert, entmythologisierte die neutralité permanente und machte klar, in welch hohem Maß von 1939 bis 1945 die in der Gesellschaft vorhandenen erheblichen Handlungsspielräume nach allen Seiten hin genutzt worden sind. Die Ergebnisse der Bergier-Kommission haben auf das Schweizer Geschichtsbild eingewirkt und zur Bewusstseinsänderung beigetragen. Bei der Abstimmung am 3. März 2002 gab es nicht zuletzt deshalb eine 54,6 Prozent-Ja-Mehrheit für den UNO-Beitritt. Inzwischen wird aber wieder nachlassendes öffentliches Interesse an der Zeitgeschichte registriert.
Ein Kritikpunkt an der UEK besteht darin, dass sie klassische Nationalgeschichtsschreibung praktiziert und davon abgesehen hat, die Schweiz und ihre Gesellschaft in einen größeren Kontext zu stellen, sie etwa mit anderen kleineren und mittleren Staaten zu vergleichen. Größere wissenschaftliche Debatten und bilanzierende Darstellungen zur Zeit nach 1945 gibt es kaum. Die eidgenössische Forschung ist wie die österreichische durch die Kleinräumigkeit des Landes gekennzeichnet. Man kennt sich gut bis persönlich, was Kontroversen kaum fördert und Ausdruck politischer Konsens- und Kompromissverhältnisse ist. Das Schweizer Parlament weist seit 1959 eine Regierung in stets der gleichen Parteienzusammensetzung auf.
5. Österreich: Erosion der Opferthese - Löchrige "Käseglocke" Neutralität
Nach 1945 gab es in der zweiten Alpenrepublik eine insgesamt über 30 Jahre währende Große Koalition von Konservativen (ÖVP) und Sozialdemokraten (SPÖ) (1947-1966; 1987-2000). Die österreichische Zeitgeschichte weist der Schweiz ähnliche Charakteristika auf: Lange herrschte Konsens. Österreichs Zeitgeschichte stand und steht im "langen Schatten des Staates" - daneben war und ist sie einer starken (Partei-)Politisierung ausgesetzt. Tabus wurden nur berührt, wenn sie unausweichlich geworden waren. "Heiße" Themen nahm man in Angriff, wenn es politisch opportun war. Dies lässt sich z.B. für die Debatte um Kurt Waldheim und die krude Diskussion über die "Lebenslüge" der Zweiten Republik (vor allem die "Opferthese" ) sagen: Eine von der Bundesregierung 1987 beschlossene und dann eingesetzte Internationale Historikerkommission befand 1988 in einem einmaligen Akt der Weltgeschichte über die Kriegsvergangenheit eines amtierenden Staatsoberhaupts. Das Ergebnis: Kriegsverbrechen konnten dem ehemaligen UNO-Generalsekretär und Bundespräsidenten (1986-1992) nicht nachgewiesen werden, aber auf seine Mitwisserschaft wurde insistiert. Waldheim hatte im Wahlkampf 1986 selbst mit seiner Äußerung von der Pflichterfüllung in der Wehrmacht zur Erosion der offiziellen Selbstdarstellung des österreichischen "Opferstatus" beigetragen und damit den Skandal erst ausgelöst. Seine Aussage lenkte die Aufmerksamkeit der Forschung stärker auf Anpassung, Mitwirkung und Täterschaft von Österreichern im NS-System. Sie machte damit auch Versäumnisse und die Marginalisierung des Widerstands deutlich. Der 1995 geschaffene "Nationalfonds für Opfer des Nationalsozialismus" war eine reichlich verspätete Geste gegenüber den Überlebenden des Terrorregimes und zeigte auf, wie schwer sich Österreich bis dahin mit der selbstkritischen Aufarbeitung seiner Vergangenheit getan hatte.
Tabu-Themen reichten in Österreichs Zeitgeschichte weiter zurück als in der deutschen. Es fällt auf, dass erste Analysen zu Themen wie Antisemitismus, Heimwehren und Faschismus oder "Heimatfront" in Österreich von britisch-amerikanischen Historikern (Peter G. Pulzer, Bruce F. Pauley, Francis L. Carsten, Radomir Lua, Evan Burr Bukey) stammten, bevor die heimischen Kollegen sich trauten. Eine Biographie des gebürtigen Österreichers Adolf Hitler seitens der österreichischen Zeitgeschichte ist nicht zu nennen, was auf die anhaltende "Externalisierung" des NS-Täter-Komplexes (Adolf Eichmann, Ernst Kaltenbrunner, Arthur Seyß-Inquart etc.) verweist und sich erst sehr spät ändern sollte. Allein die Bestsellerautorin Brigitte Hamann widmete sich den prägenden Jahren des späteren Diktators in Wien, während Evan Burr Bukey über "Hitlers Österreich" publizierte.
Eine durch staatlichen Beschluss vom 29. September 1998 eingesetzte Historikerkommission mit einer größeren Zahl von Mitarbeitern forschte seither gezielt über Arisierungen, Banken, Lebensversicherungen und Firmen in der NS-Zeit, über den Vermögensentzug, Übernahmen von NS-Enteignungen nach 1945 wie auch über verzögerte bzw. verhinderte Entschädigungen sowie über die Zwangsarbeiter und deren Entschädigung. Mit größeren dokumentarischen Publikationen ist zu rechnen. Die im Kontext der im Februar 2000 eingeleiteten EU-14 Staaten-Sanktionen unter massiven internationalen Druck geratene ÖVP-FPÖ-Regierung machte dann ab 2001/2002 mit der materiellen Entschädigung für arisierte Vermögen, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter Ernst - ein Anliegen, welches die Große Koalition lange verschleppt hatte.
Die Öffentlichkeit bewegende Debatten wie in der Bundesrepublik die "Fischer-Kontroverse" oder der "Historikerstreit" fehlen allerdings nach wie vor. Gegenwartsbezüge sind Österreichs Zeitgeschichte fremd, auch internationale Perspektiven gehören nicht zu ihrer Präferenz. Arbeiten zu den siebziger, achtziger und neunziger Jahren sind kaum vorhanden. Die europäische Dimension fehlte bis in die neunziger Jahre fast völlig. Trotz der mit dem EU-Beitritt verbundenen Öffnung des Landes ist österreichische Zeitgeschichte weiterhin fast nichts anderes als Zeitgeschichte Österreichs. Dieses hier besonders stark ausgeprägte Phänomen ist allerdings kein Austrospezifikum.
6. Exkurs: Deutsche Wendungen nach innen
In Deutschland verhält es sich kaum anders. Internationale Geschichte hat dort nach wie vor einen schweren Stand. Hochkarätige Arbeiten zu Außenpolitik und internationalen Beziehungen sind selten. Spätestens aber mit dem Ende des Kalten Krieges und der alten Grabenkämpfe zwischen "Diplomatie-" und "Gesellschaftsgeschichte" ist die Politik(geschichte) wieder zurückgekehrt. Damit beschäftigen sich nun auch ihre traditionellen Kritiker. Der Zusammenbruch des Kommunismus und die Rolle Michail Gorbatschows sind allein gesellschaftsgeschichtlich kaum erklärbar. Aber auch die (moderne) Politikgeschichte kann bisher nicht für sich reklamieren, eine umfassende und überzeugende Interpretation für diesen einmalig schnellen Zerfallsprozess eines Großreichs geleistet zu haben.
In Deutschland wirkt das Zweistaatlichkeits-Paradigma bzw. das Teilungssyndrom weiter nach: Der lange Schatten des westlichen Frontstaats als zentraler Akteur im Kalten Krieg ist immer noch lebendig. Deutsche Zeitgeschichte, jedenfalls die institutionalisierte, ist überwiegend Geschichtsschreibung aus west(staat)licher Perspektive mit einem impliziten Alleinvertretungsanspruch: eine Art Hallstein-Doktrin-Zeitgeschichte, mit der Bundesrepublik als dem "guten", "besseren" und "wahren" und der DDR als dem lange nonexistenten, dann "bösen", "schlechteren" und "unwahren" Deutschland. Spätestens 1989/1990 wurde allen, die von der Bundesrepublik wie selbstverständlich als "Deutschland" sprachen, bewusst, dass es die DDR auch noch gab - mit all ihren Schattenseiten. Das führte in der Forschung zu einer noch stärkeren Wendung nach innen und erschwerte ihre Öffnung für Perspektiven nach außen.
Ob mit "Westernisierung" für eine mehr internationalisierte und globalisierte deutsche Zeitgeschichte als "master narrative" eine befriedigende Lösung gefunden werden kann, erscheint fraglich, zumal die Veröstlichung (oder Russifizierung) der ehemaligen DDR ebenso mit überlegt werden müsste, wenn nicht der (neue oder gar alte) bundesrepublikanische Raster einfach auf den historischen Raum der fünf neuen Bundesländer übergestülpt werden soll. Deutsche Zeitgeschichte nach 1990 kann schwerlich die fortgesetzte Festschreibung einer ("westernisierten") Teil-Geschichte Deutschlands sein. Internationalisierung und Globalisierung als rein westliche Phänomene zu begreifen, bleibt außerdem einseitig und entspricht nicht einer synthetisierenden und integrierenden Zeitgeschichte. Vor neuer Ideologie-Produktion wurde bereits gewarnt wie auch selbst von Vertretern des Konzepts "Westernisierung" (ein Unwort, das viel über seine Herkunft verrät) gefragt wird, ob die Berliner Republik eine "sinnstiftende Meistererzählung" brauche.
V. Zwischenbilanz
Fünfzehn Thesen lassen sich formulieren:
1. Was Zeitgeschichte bedeutet, ist nicht immer klar; sie steht jedenfalls nach wie vor im Schatten nationaler Paradigmen. Thematisch ist eine tendenzielle Rückzugsbewegung nationaler Aspekte festzustellen. Dieser erkennbare Trend ist aber nicht besonders stark; das Nationalstaatliche als Bezugspunkt dominiert weiter.
2. Parallel dazu ist eine partielle Hinwendung zu europäischen und transnationalen Themen bemerkbar. Mit der Multiplikation der Fragestellungen bis zur Beliebigkeit und Unüberschaubarkeit geht allerdings auch fehlender Mut zu zusammenfassenden Thesen einher.
3. Die überwiegend national konstituierten - vielfach staatlich institutionalisierten - Zeitgeschichten nehmen sich wechselseitig nur wenig wahr. Ein System "kommunizierender Röhren" muss sich erst noch herausbilden, wobei die neuen Informationsmedien längst Voraussetzungen dafür bieten.
4. Der Bezug zu nationalen Debatten ist eng; Zeitgeschichte ist häufig Reflex auf politische Diskurs-Konjunkturen in den jeweiligen Staaten. Die Forschung meldet sich dabei häufiger als früher in den Medien zu Wort und bezieht auch mehr Position.
5. Identitäten gerade von jungen oder "verspäteten" Nationen (Deutschland, Italien, Österreich) hängen auch vom Intensitätsgrad öffentlicher Debatten über Zeitgeschichte ab. Dies hat auch Wirkungen auf andere Geschichtsdisziplinen.
6. Die vormals neutralen Kleinstaaten, aber auch die NATO-Länder Frankreich und Italien, haben sich erst in den letzten 15 Jahren nationalen Geschichtsmythen zugewendet. Auch der Kalte Krieg hatte vieles zu Tabuthemen gemacht, die jetzt wieder "entdeckt" werden.
7. Die Beschäftigung mit strittigen Themen wie dem Sinn und Wert der Neutralität, staatlicher oder individueller Kollaboration mit dem Nationalsozialismus und der Ambivalenz des Verhaltens (Täter-Opfer-Debatte, Anpassung, Opposition, Resistenz und Widerstand) in der NS-Diktatur und den von ihr besetzten Ländern sowie dem Umgang mit Holocaust und Nationalsozialismus nach 1945 haben ländervergleichende Studien, die Komparatistik, nicht unbedingt gefördert, sondern vielfach zur Festschreibung nationaler Engführungen beigetragen und die Europäisierung der Zeitgeschichte mitunter sogar blockiert.
8. Mit der Entmythologierung nationaler Geschichtsikonen (Antifaschismus, Résistance, Opferthesen, Neutralität etc.) ging in einigen Ländern - nicht unbedingt in Deutschland - eine sinkende Neigung zum Moralisieren und eine deutlichere Hinwendung zur Historisierung einher. Im Unterschied zum beispiellos untersuchten "Dritten Reich" gibt es zu anderen europäischen autoritären Regimen und Diktaturen noch erhebliche Rückstände in der Forschung.
9. Die Angst vor nachlassender Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus oder einer Relativierung des NS-Regimes führte nicht nur zur Fixierung, sondern teilweise auch zur Paralyse der Zeitgeschichte - eine Gefahr, die hinsichtlich ihrer negativen Wirkungen ernster genommen werden sollte als die Sorge, dass die Schatten der NS-Verbrechen verblassen könnten. Diese "Gefahr" ist aufgrund der medialen Dauerthematisierung und der Präsenz des Holocausts im kollektiven Gedächtnis Europas relativ gering.
10. Eine ausschließlich oder überwiegend mit dem Nationalsozialismus befasste Zeitgeschichte bleibt nicht nur rückwärtsgewandt, sondern auch rückständig; eine gegenwartsorientierte Zeitgeschichte kann an den genannten neuen Herausforderungen nicht vorbei. Diese müsste sich z.B. extremistischen Bewegungen nach 1945 oder dem Rechtspopulismus in seiner europäischen Dimension widmen und damit dieses Feld nicht allein der Politikwissenschaft überlassen.
11. Die italienische und französische Zeitgeschichte weisen keinen signifikant höheren Internationalisierungsgrad auf als die österreichische und schweizerische, wie überhaupt die jeweilige nationale Zeitgeschichte stärker mit sich selbst beschäftigt und "nach innen" ausgerichtet ist. Bedingt durch ihren Status als Kolonialmächte gibt es in Frankreich und Italien allerdings mehr Bezüge nach außen, so z.B. zur (nord-)afrikanischen Region, im Falle der französischen Geschichtsschreibung auch zur asiatischen Welt (z.B. Indochina).
12. Großbritannien hingegen bietet als historische Weltmacht ein weites Feld globaler Beziehungen und Politik. Naturgemäß ist die britische contemporary history wie selbstverständlich mit den imperialen Mächten, den internationalen und globalen Beziehungen sowie weltwirtschaftlichen Konstellationen und damit auch mit vergleichenden Perspektiven mehr konfrontiert als andere, auf territorialstaatliche Nationen fixierte Zeitgeschichten. Zuletzt gab es auch eine stärkere Hinwendung nach Europa.
13. Eine Europäisierung der europäischen Zeitgeschichten ist bisher weder inhaltlich-thematisch im Sinne des Vergleichs noch theoretisch-methodisch im Sinne einer Europäistik auf breiter Ebene gelungen. Sie ist zwar in Herausbildung begriffen, wird aber von der Mehrheit der Forscher noch nicht praktiziert. Es überwiegen nationale Perspektiven auf und Zugänge nach Europa.
14. Auf politikgeschichtlicher Ebene gibt es zwar additive, aber wenig gesamtgeschichtlich-integrierende Ansätze. Wenn man so will, herrscht eine Art Intergouvernementalisierung der europäischen Zeitgeschichtsschreibung vor, die von vergemeinschafteter, d.h. einer Supranationalität der Zeithistoriographie noch weit entfernt ist. Die Dinge sind allerdings in Bewegung geraten, und neue Trends brechen sich Bahn, was ein Ergebnis des Vordrängens jüngerer Generationen ist.
15. In Europas nationalen Zeitgeschichten wirken die Folgen einer anhaltenden doppelten Nationalisierung nach: Sie sind sowohl inhaltlich (Themen) als auch arbeitsorganisatorisch (Netzwerke, Theorien und Methoden) deutlich mehr national fokussiert als europäisch ausgerichtet. Größere Befreiungsschläge wären hier wünschenswert - dies nicht zuletzt im Hinblick auf die angestrebte zusätzliche europäische Identität.
VI. Europäisierung und Globalisierung als Chancen für Zeitgeschichte
Dieser Beitrag plädiert darüber hinaus für eine Öffnung der bisherigen eher kleineuropäischen Perspektive, dies zumal im Hinblick auf die latecomer im Kontext der Erweiterungen der Europäischen Gemeinschaften. Dabei ist nicht nur an eine "alte" Geschichtsschreibung von Staaten in ihrem Verhältnis zur Integration gedacht, sondern an eine vergleichende transnationale Gesellschafts-, Identitäts- und Öffentlichkeitsgeschichte, die für Teile Westeuropas ja bereits vorhanden ist, samt ihrer Verbindung mit moderner Diplomatie-, Politik- und Wirtschaftshistoriographie.
Das Postulat einer "integrativen Zeitgeschichte" (Wolfram Kaiser) kann nur eingelöst werden, wenn sie differenziert, d.h. von einem umfassenden Ansatz, einem breiten integrationspolitischen und gesellschaftsgeschichtlichen Begriffsinstrumentarium ausgeht und dieses sowohl zeitlich in die Entwicklung des 20. Jahrhunderts einbettet, als auch räumlich diversifiziert. "Integrative Zeitgeschichte" schließt exklusives Denken aus. Sie setzt neben einer nuancierenden Beurteilung von "Abweichlern" und Sonderfällen eine umfassende geographische Betrachtung voraus. Eine Geschichtsschreibung der Integration wird Mittel- und Osteuropa nicht erst einbeziehen können, wenn es der "Union" angehört, sondern muss schon die Beziehungen zum "Binnenmarkt" ("Europa-Abkommen", Assoziierungsverträge), aber auch das Verhältnis der Staaten untereinander (COMECON und Visegràd) sowie deren EG-Perzeptionen vor 1989 berücksichtigen. Kooperationen mit Historikern aus Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn etc. werden notwendiger.
Eine europäisierte Geschichtsschreibung kann nicht nur über Verbindendes, sondern muss auch über Trennendes berichten. Es kann nicht nur um "Integration" gehen; "Desintegration" war im 20. Jahrhundert mindestens ebenso bedeutsam, wenn nicht geschichtsmächtiger. Es sind ferner Tendenzen erkennbar, bei der Darstellung des Integrationsprozesses supranationale Elemente zurückzudrängen. Die liberal-intergouvernementale Interpretation als Erklärung für die Motive der Integration erlebt z.B. durch Andrew S. Moravcsik eine Renaissance, ausgehend von der These staatlicher Interessenpolitik mit zweckrationalem Handlungskalkül. Trotz "Binnenmarkt", einheitlicherem Rechtsraum und der weitgehend realisierten Währungsunion, trotz Konvergenz- und Homogenitätsstreben bei gleichzeitiger Denationalisierung sind parallele Tendenzen zur Renationalisierung in Europa unübersehbar. Für eine stärkere Würdigung des neorealistischen Ansatzes mit einer "liberal-intergouvernementalistischen Synthese" sprechen nicht nur die Schwierigkeiten mit der anstehenden EU-Erweiterung.
In einem ähnlich dialektischen Verhältnis stehen Tendenzen der Nationalisierung und die Globalisierung zueinander. Die lange schon zunehmende Globalisierung beeinflusst Zeitgeschichte bereits; die Problematisierung ihrer festgelegten Positionen hat eingesetzt, die Öffnung verengter Blickwinkel beginnt, nationalstaatliche Positionen werden immer mehr obsolet, und selbst die Relativierung begonnener eurozentrierter Perspektiven zeichnet sich ab. Europäisierung ist nur eine Übergangsform bzw. Zwischenstufe zur Globalisierung. Nationalzentrierte Zeitgeschichte wird weiter möglich sein im Zeichen einer europäisierten und globalisierten Welt, aber das Wissen um internationale Trends und spezifische Globalisierungseffekte ermöglicht, ja erfordert erweiterte Perspektiven und Interpretationsmöglichkeiten auch für die nationale und regionale Geschichtsschreibung.
Ein neues Bewusstsein für die verschiedenen Ebenen im historischen Prozess und ihrer Darstellung beginnt sich zu entwickeln. Neben territorialen Räumen sind traditionell wie innovatorisch historische, geographische, ethnische, mentale und kulturelle Räume intensiver wahrzunehmen. Da sich die Globalisierung primär im Welthandel, auf den Finanz- und Kapitalmärkten sowie in den Kommunikationstechnologien abspielt, ist eine Um- und Neuorientierung der Forschungspraxis hinsichtlich entsprechender Wissenskategorien erforderlich. Teamarbeit ist die logische Folge; die Verknüpfung mit unkonventionellen Ansätzen ist zu leisten.
Der Staat bleibt vorerst Reverenzpunkt zeitgeschichtlicher Forschung; seine Verfassungsgewalt in der longue durée ist wirkungsmächtig. Aber es ist hier wieder auf Hans Rothfels und seine Auffassung zurückzukommen, wonach nationale Zeitgeschichte nur aus der "universalen Konstellation" heraus begriffen werden könne. Der Beitrag endet daher mit dem Plädoyer für eine interdependente Zeitgeschichte, die regionale, nationale, internationale, europäische und globale Ebenen einzuschließen versucht. Einen Teilbereich herauszugreifen oder nur noch "Weltgeschichte" betreiben zu wollen wäre Ausdruck einer neuen Einseitigkeit, denn es gilt, die vielfältigen wechselseitigen Einflussnahmen und Abhängigkeiten zwischen Regionen, Staaten und Nationen, internationalen Arenen, Europa und der Welt zu erfassen. Der breite Sockel regionaler und nationaler Geschichte bleibt unverzichtbar, um die Europäisierungs- und Globalisierungsprozesse zu untersuchen und besser zu verstehen. Nicht nur Verbindendes und Integrierendes, sondern auch Gegenläufiges und Widersprüchliches ist im Auge zu behalten. Europäisierung und Globalisierung schließen sowohl desintegrative wie integrative Elemente ein.