I. Geschichtsbilder: Begriff und Bedeutung
Der Sondergesandte der USA auf dem Balkan, Richard Holbroke, schrieb, dass nach der Lektüre einer Untersuchung über die Geschichtsvorstellung der Balkanvölker viele Politiker in den USA den Versuch zur Beilegung des Konflikts als aussichtslos betrachteten.
Den Streit um die Deutung der Geschichte finden wir immer dort, wo Divergenzen im Selbstverständnis einer Gesellschaft aufbrechen.
Der Begriff "Geschichtsbilder" ist eine Metapher für gefestigte Vorstellungen und Deutungen der Vergangenheit mit tiefem zeitlichen Horizont, denen eine Gruppe von Menschen Gültigkeit zuschreibt.
Als gedeutete Vergangenheit beeinflussen sie Gegenwartsverständnis und Zukunftserwartung. Sie sind Elemente der "gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit"
Offenbar werden Geschichtsbilder nicht durch argumentativen Diskurs, sondern nur durch den Gang der Geschichte bestätigt oder widerlegt. Zur Bestätigung reichen kleine Siege, zur Widerlegung sind tief greifende Katastrophen notwendig. Geschichtsbilder können zur politischen Agitation benutzt werden, sind aber mehr als die bald verbrauchten historischen Argumentationen, Zwecklegenden, Propagandawaffen - von Fälschungen und Lügen ganz zu schweigen. In archaischen Gesellschaften sind auch die Geschichtsbilder als mentale Selbstverständlichkeiten in Geist und Gefühl eingelagert - einer Wagenburg vergleichbar. In modernen, komplexen Gesellschaften ist es anders: Die Unterschiedlichkeit der Gruppen, Klassen, Parteien, Religionen, Regionen und Generationen, die Vielzahl verschiedener Erfahrungen und die Differenz der Erwartungen bringt verschieden akzentuierte, konkurrierende Geschichtsbilder hervor - eine Begleiterscheinung pluralistischer Verhältnisse. Unsere Geschichtsbilder streiten nicht nur gegen fremde, sondern auch untereinander.
Das betrifft vor allem die sensible Zone des Übergangs selbst erlebter Vergangenheit in überlieferte Geschichte - also in der Regel ein halbes Jahrhundert zurückliegende Ereignisse. Entsteht hier ein Dissens zwischen der Erinnerung der noch Lebenden und dem Urteil der Nachgeborenen, wird der Streit um Geschichtsbilder besonders heftig. Als Beispiel dafür kann die sog. Wehrmachtsausstellung dienen.
Im Folgenden geht es aber um die tiefer liegenden, Selbstverständnis und Zusammengehörigkeit durch Jahrhunderte stiftenden Geschichtsbilder, die - mit den Begriffen Jan Assmanns - jenseits der "kollektiven Erinnerung" im "kulturellen Gedächtnis" eingelagert sind.
II. Universale und partikulare Geschichtsbilder
Damit sind wir bei Geschichtsbildern jenseits einzelner Gemeinschaften, die den Verlauf und den Sinn, den Ursprung und das Ziel der Geschichte der gesamten Menschheit mit dem Anspruch auf universale Gültigkeit deuten. Das nationale Geschichtsbild weitet sich zum Weltbild, und umgekehrt wirken solche Weltbilder auf nationale Geschichtsbilder zurück.
Immer wieder haben Künstler in solchen Zeiten Vorstellungen und Deutungen von Geschichte in Bildern verdichtet. Sie können, wie Leitfossilien, Wegweiser für die Funktion von "Geschichtsbildern" im metaphorischen Sinne sein. Wir erinnern an ein bekanntes Beispiel: Altdorfers Bild "Die Alexanderschlacht" (1529) ist kein Abbild der Schlacht bei Issos 333 v. Chr., sondern ihre weltgeschichtliche Deutung.
Im Jahre 1529 stehen die Türken vor Wien. Altdorfers Bild beschwört angesichts der Türkengefahr den Sieg des Abendlandes über das Morgenland. Der auf den Perserkönig zustürmende Alexander trägt die Züge Maximilians I. Das Bild ist ein Appell an Kaiser und Fürsten, das Römische Reich, die letzte Weltmonarchie, die nun die Deutschen tragen, zu retten. Die Erhaltung des Reiches ist die Voraussetzung für das Fortdauern der Geschichte, für das Noch-Fernesein des Jüngsten Gerichts, das man im Volk bereits kommen sah.
Altdorfer hat in seinem Bild eine durch Jahrhunderte überlieferte Deutung des Geschichtsverlaufs den Bedrohungen der Gegenwart als Hoffnung entgegengehalten. Es ist wahrhaft universal: Alles menschliche Dasein eine Bühne, auf der sich die Geschichte der Menschheit, gegliedert in vier Akte zwischen Schöpfung und Jüngstem Gericht, abspielt. Auf diesem theatrum mundi erscheint die Geschichte der Völker und Herrscher als universales Arsenal der Vorbilder rechten Lebens (und der Gegenbilder), als "magistra vitae", als die sie schon Cicero gepriesen hatte.
Die Universalität dieses Geschichtsbildes bot nicht nur Raum, sondern erforderte geradezu die Ausfüllung durch engere, auf bestimmte Völker oder Herrscher bezogene Geschichtsbilder. Die Sachsen leiteten ihre Herkunft und Macht von den Assyrern, die Franken von den Trojanern legitimierend ab. Die klassische Konkretion ist die Deutung des göttlichen Auftrages an die Römer in Vergils Aeneis. Vergangenheit enthält die Zukunft als Aufgabe: "Du bist ein Römer, dies sei Dein Beruf, die Welt regiere, denn Du bist ihr Herr ..." Die deutschen Könige übernahmen als Kaiser des Römischen Reiches Deutung und Anspruch dieses universalen Bildes der Geschichte, das ihnen die Priorität unter den Fürsten der Christenheit verlieh.
Wie verblassen Geschichtsbilder, wie wurden sie relativiert? Im gleichen Jahr, als Altdorfer sein Bild vollendete, wurde Jean Bodin geboren, dessen politische Theorie am Ende des 16. Jahrhunderts am schärfsten die universale Weltreichlehre als Herrschaftsideologie der deutschen Könige und Kaiser verwarf, deren Suprematie bestritt und an ihrer Stelle die Souveränität der Monarchien Europas begründete - ein neuer Deutungsversuch der politischen Ordnung als polyzentrischer Mächtekonstellation.
Auch diese parzellierten Geschichtsbilder waren hungrig nach - wenigstens rhetorischer - universaler Beglaubigung. Zunächst bezogen sie diese noch aus dem religiösen Weltbild: Die spanischen Monarchen nannten sich "die Katholischen", der französische König der "allerchristlichste", Cromwells Ironsides fühlten sich alttestamentlich legitimiert, und noch die "Heilige Allianz" bettete ihr Programm der Ordnung Europas in ein religiös-christliches Weltbild ein. Aber dieser Universalitäts-Bezug war ohne realhistorische Entsprechung und Kraft, war - modern gesprochen - Ideologie. Es folgte der Kampf der Monarchien untereinander. Im prekären Konzept von Gleichgewicht oder Hegemonie, im ius publicum Europaeum, entstand ein Bild Europas als eines Bezirks politischer Ordnung mit gleichartigen Formen und Konventionen, der sich vom Rest der Welt deutlich absetzte.
III. Das Konzept der "Moderne" - Geschichte als Fortschritt
Keineswegs das einzige, wohl aber das dominante Geschichtsbild - das Grundmuster, zu dem sich fortan partikulare Geschichtsbilder ins Verhältnis setzen mussten - ist die Vorstellung der Geschichte als eines immanenten Fortschritts zum Besseren: ein Geschichtsbild europäischer Herkunft, das universelle Geltung beansprucht. Es bestimmt seit dem Ende des 18. Jahrhunderts Vergangenheitsdeutung und Zukunftserwartung.
An seinem Beginn stand die Erfahrung der Perfektibilität menschlicher Erkenntnisse und Verhältnisse. Der Aufstieg der Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert, ihre Lösung von den antiken Dogmen, aber auch die Verbesserung der Umstände des Lebens und schließlich die Rationalisierung von Verwaltung und Recht, von Finanz- und Kriegswesen führten zu der Vermutung oder Gewissheit, dass Geschichte nicht immergleiche Wiederholung von Aufstieg und Fall von Herrschaft sei, sondern dass ihr eine in die Zukunft weisende eigene Energie zur Verbesserung aller menschlichen Verhältnisse innewohne. Geschichte war nicht mehr nur Bühne, sondern Bewegung in der Zeit, deren Ziel Verbesserung der menschlichen Gesellschaft und Entwicklung der menschlichen Natur zu der ihr innewohnenden Vernunft und Humanität sein müsste.
Damit weitete sich das universale Geschichtsbild zum Weltbild. Durch die Geschichte beantwortet sich die zentrale Sinnfrage: Was ist der Mensch? Darauf gibt sie als Prozess der Verwirklichung der Vernunft die Antwort. Kant hat als Erster den Entwurf einer "Universalgeschichte in weltbürgerlicher Absicht" aufgestellt, Schiller sah zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Menschheit schon fast am Ziel der "Universalgeschichte".
IV. Nationale Geschichtsbilder als Konkretion der Universalgeschichte
Neben und mit diesem "Projekt" formten sich länger angelegte, aber seit den napoleonischen Kriegen virulent werdende nationale Geschichtsbilder. Sie verstanden sich als die Konkretisierungen des universalen Fortschrittspostulats; denn "Menschheit" ist ein Abstraktum, existiert real nur in den zahlreichen Sprach- und Geschichtsgemeinschaften, die sich als Nationen zu konstituieren anschickten. So wurden die National-Geschichten - nicht mehr die der Herrscher - als der eigentliche Gegenstand der Wissenschaft und der Lehre begriffen,
Die großen Nationen - angesichts der industriellen, politischen, demographischen und wissenschaftlichen "Revolutionen" - nahmen für sich in Anspruch, an der Spitze der Bewegung der Geschichte zu marschieren: Frankreich, in Verklärung der Ideen der Revolution, expandierte politisch und militärisch mit der Legitimation, Freiheit und Gleichheit unter den Nachbarn, schließlich auch in den Kolonien zu befördern. Wegen seines egalitären, menschheitlichen Zivilisationsauftrages reklamierte die "Grande Nation" ein Recht, als Zentrum der Freiheits- und Gleichheitsideen zu gelten mit den daraus folgenden Ansprüchen auf Einfluss und politische oder kulturelle Hegemonie. Widerstand dagegen erschien als Reaktion oder als Barbarei.
England - der Feind der revolutionären Republik, der politischen Ideen von 1789 und des französischen Empire - identifizierte seine Nationalgeschichte gleichfalls mit dem Fortschritt der Freiheit in der Welt. John Robert Seeley zeichnete die Entstehung und Ausbreitung des britischen Empire als einen vorherbestimmten teleologischen Prozess, in dem der Sinn der englischen Geschichte als Weltmission der Freiheit und des Fortschritts in einem föderalen Weltreich sich entfalte.
Solchen herrschaftsgestützten Zivilisationsansprüchen selbst ernannter Träger des Fortschritts stand - abgesehen von allen konkreten Verhältnissen - ein Element der universalgeschichtlichen Doktrin selbst im Wege: das der Freiheit und Individualität, der Besonderheit und des politischen wie kulturellen Selbstbestimmungsrechtes jedes Volkes. So ist zu verstehen, dass in der Folge Geschichtsbilder entstanden, die angesichts der Übermacht der Fremden das Recht auf Autonomie der eigenen Nation proklamierten. Nationalgeschichtsbilder des 19. Jahrhunderts bildeten sich hier über den Willen zum Widerstand gegen fremde, universale Ansprüche und damit alsbald über den Katalysator von Feindbildern: Vorstellungen vom Feind, der die eigene Art und Unabhängigkeit unterdrückt, wurden zur schwarzen Folie des Selbstbildes. Das führte zur Entstehung von Geschichtsbildern der "kleinen Nationen" in Europa. Auch das herrschende Geschichtsbild des kleindeutschen Nationalstaats erhielt seine Impulse aus solchem Widerstand.
Die Vorstellung vom universalen Fortschritt der Geschichte hielt das deutsche Geschichtsverständnis gleichwohl fest, freilich mit einem anderen Modell als dem französischen der "Gleichheit" oder dem angelsächsischen der "Mission": dass nicht ein generelles Muster, sondern die Entwicklung vielfältiger "Individualitäten" die Triebkraft des Fortschritts auf "Sonderwegen" sei.
Auf dem Höhepunkt nationaler Geschichtsbilder - die immer stärker wurden, je weniger die Realpolitik sich an die Zielsetzungen des universalen "Projekts der Moderne" hielt - findet sich eine Botschaft in einem Bild, das in die Zukunft blickt und zugleich die Vergangenheit beschwört: "Völker, Europas, wahrt Eure heiligsten Güter!" Auf hohem Fels stehen gerüstete, edle Frauengestalten - Allegorien der großen europäischen Nationen - und schauen hinab in eine weite Ebene, die von unendlichen Scharen heranstürmender, mongolenähnlicher Feinde bedeckt ist. Dieses Bild, von Wilhelm II. in Auftrag gegeben, thematisiert die zunächst in den USA beschworene Zukunftsangst vor der "Gelben Gefahr" als Bedrohung einer europäischen Kulturgemeinschaft.
Diese Vision der kommenden Geschichte zeigt, wie weit Geschichtsbilder von der Wirklichkeit entfernt sein können. Nicht die Chinesen bestürmten um die Jahrhundertwende die Festung Europa, sondern die Europäer erweiterten ihre Weltherrschaft mit der Gewalt der Technik, des Geldes und der Waffen, und die europäischen Staaten waren weit davon entfernt, sich als Verteidigungsgemeinschaft "heiligster Güter" zu fühlen; sie standen vielmehr kurz vor dem Ersten Weltkrieg, dem europäischen Bürgerkrieg, der auch ein Krieg der nationalen Geschichtsbilder war. Und dennoch deutet dieses Bild eine zukunftsträchtige Wendung an: eine neue Epoche, in der die Nationen sich als europäische Kulturgemeinschaft gegen eine vermeintliche Bedrohung zusammenfinden, in Verteidigung des einst universalgeschichtlichen Programms, das hier zum europäischen erklärt wird.
V. Das "Zerbrechen der Zeit": Das Schwinden der nationalen Geschichtsbilder und der Gewissheit des Fortschritts
Wir erleben seit einiger Zeit die Umbildung des Primats einst sakrosankter nationaler Geschichtsbilder als sinnstiftender Orientierungen. Das gilt nicht nur für eine hybride Deutung der deutschen Nationalgeschichte, die im sog. "Dritten Reich" real und mental zerbrochen ist; es gilt - weniger dramatisch - auch für die anderen großen europäischen Nationen, deren Selbstverständnis immer weniger auf sich selbst zentriert ist, vielmehr in ein supranationales Geflecht integriert wird. Der ausschließlich nationale Selbstbezug trifft kaum noch unsere Daseinserfahrung und Zukunftserwartung. Die Walhalla, so der die Zeittendenzen vorausnehmende Künstler, wird in einem Bild Anselm Kiefers zur leeren Scheune. Das Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald, 1875 im Beisein des Kaisers mit dem Choral "Ein' feste Burg ist unser Gott" eingeweiht, wird zum Gegenstand eines "Events", wenn der Cherusker im Trikot von "Arminia Bielefeld" für die Sponsorfirma "Herforder Pils" wirbt und uns das keineswegs empört, sondern eher belustigt. Die Frage ist, wie wir uns im Angesicht der Vergangenheit als Nation begreifen sollen.
Aber nicht nur die nationalen Geschichtsbilder, auch die Gewissheit vom Fortschritt der Menschheit als Sinn und Ziel der Nationalgeschichten ist ins Wanken geraten. Den demokratisch-liberalen Ordnungsvorstellungen vom nationalen Rechtsstaat traten nach dem Ersten Weltkrieg eine Reihe autoritärer, faschistischer oder kommunistischer Gesellschaftskonzepte entgegen. Von den Denkweisen und Verfahren europäischer Kolonialherrschaft gingen illiberale Rückwirkungen auf die Mutterländer aus,
Können wir nach dem politischen Untergang der faschistisch-rassistischen Ideologie und der Marginalisierung der politischen Bedeutung des "Histomat" dem westlich-liberalen Deutungsmuster der Geschichte noch Realität zusprechen: die Verbindung des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts mit der Erweiterung der Emanzipation, die Realisierung der Menschenrechte überall, gerechte Verteilung der Ressourcen des Globus, Freiheit des Individuums und Autonomie gewachsener Kulturen? Hat das "Konzept der Moderne" noch Glaubwürdigkeit und Kraft angesichts der Widersprüche und Ungewissheiten der selbst produzierten Komplexität und Antinomien der Evolution? Wird es Fortschritt und Freiheit glaubwürdig vorantreiben, sodass die wiederbelebten ethnischen und nationalen Selbstdeutungen der Völker des ehemaligen Sowjetimperiums oder der Kolonialreiche sich in diesem weltgeschichtlichen Programm wiederfinden können? Oder könnte auch das "westliche" universale Geschichtsbild mit dem Postulat menschheitlichen Fortschritts zu Freiheit und Wohlstand zerbrechen, wie es dem marxistisch-kommunistischen Konzept kurz vor dem Ende des Sowjetsystems geschah?
Wieder kann ein Auftragsbild diese Frage an die kommende Geschichte symbolisch vermitteln. Werner Tübkes Panoramabild in Frankenhausen sollte den Beginn der letzten Periode des Klassenkampfes und in der Niederlage der Bauern den künftigen Sieg des Proletariats beschwören.
VI. Perspektiven der "kommenden Geschichte"
Drei universale Perspektiven kommender Geschichte bietet die Diskussion der letzten Jahrzehnte an:
1. "Das Ende der Geschichte": Die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg brachten eine Zukunftswissenschaft hervor, die einen optimistischen Blick in die Zukunft warf und angesichts der vielen wissenschaftlich-technischen Fortschritte und der zunehmenden internationalen Vereinbarungen und Gremien das Ziel des Fortschritts nahe sah. Wenn auch im Einzelnen skeptisch aufgenommen, traf sie doch im Ganzen eine Grundstimmung. Gegen Ende des Jahrhunderts gewann dann die These vom "Ende der Geschichte" erhöhte Aufmerksamkeit. Nach der Auflösung des Sowjetimperiums schien die Verwirklichung von Frieden greifbar nahe, Wohlfahrt und Menschenrecht überall zu gewährleisten. Damit war das Ziel der Geschichte erreicht, jedenfalls im Prinzip; vorhandene Defizite galten als bald überwindbar. Die vernunftgemäß eingerichtete Gesellschaft der "posthistoire" bedarf wohl der ständigen Regulierung der verschiedenen Subsysteme: der Wirtschaft, der Politik, der Wissenschaft, der Kultur, aber nicht mehr solcher "Bilder", welche die Zukunftserwartung auf die Deutung der Vergangenheit stützen. Geschichte wird ein Magazin von Szenen der Menschenwelt, von Zuständen und Ereignissen, die man anschaut, erstaunt oder erschreckt wahrnimmt - dies aber letztlich unverbindlich und beliebig. Mit der Homogenisierung aller Informations-, Wissens- und Verteilungswege, mit der Möglichkeit globaler Behebung von Not tut sich eine Kluft zur Vergangenheit auf - sie ist für die Orientierung in der Gegenwart nicht mehr tauglich. Das Alte ist nicht mehr das Wahre, Innovation gilt mehr als Erfahrung; die Biotechnik, nicht mehr die Pädagogik begründet die Hoffnung auf den Fortschritt, den der Mensch an sich selbst vollzieht.
Zwar widerspricht die Realität diesem Bild. Aber: Breite Schichten der Bevölkerung in der "Ersten Welt" verhielten sich so, als ob ein solcher Zustand eingetreten sei, als ob wir nicht kommende Geschichte, sondern "vollendete Gegenwart" vor uns hätten - d.h. keine "Zukunft", die etwas anderes und Besseres ist als die Gegenwart. Das "Vergehen der Zukunft"
2. Die Geltung des Projekts der "Moderne" als Vision einer besseren Welt: Entschieden widersprechen die Verfechter und Erben des Aufklärungs- und Fortschrittskonzepts dieser Position. Weder habe die Geschichte ihr immanentes Ziel erreicht, noch sei die Deutung ihrer "kinetischen Energie" als Vordringen der Vernunft widerlegt. Die ökonomische und technische Globalisierung kann als ein mit Gefahren verbundener Schritt, aber doch als ein Fortschritt und ein Versprechen erscheinen, das auf die Humanisierung der sozialen Verhältnisse und die politische Emanzipation auf dem Erdball weist. Hier ist das meiste noch zu tun, und das universale Geschichtsbild einer freien, zivilen Gesellschaft sowie der weltweiten institutionellen Sicherung von Frieden und Recht gilt als Zukunftsauftrag und braucht noch Kraft, um überkommene Traditionalismen der Norm allgemeiner Vernunft zu unterwerfen. Weder ist dieser Prozess am Ende, noch ist er als Wille und Vorstellung unserem Handeln entzogen. "Geschichte als Selbstgestaltung und Selbstauslegung der Menschen" entziehe sich nicht "wirklich ihrer Aufklärung ... Blockiert ist nur ... die entschiedene Umsetzung dieses Wissens für das Selbstverständnis des Menschen"
3. Der "Kampf der Kulturen": Einer empirisch ansetzenden Deutung des an Konflikten überreichen Zustandes unserer Welt erscheint dieses Konzept eines allgemeinen Fortschritts als Ideologie der "westlichen" Zivilisation, die als universal gültig ausgegeben wird, um globale Dominanz zu legitimieren, tatsächlich aber ein partikulares Geschichtsbild einer Kultur ist. Im Kampf gegen die technisch, militärisch und wissenschaftlich überlegene, nach Sitte, Moral und Recht jedoch als fremd oder verderbt empfundene Zivilisation formieren sich unter Aneignung der wertneutralen wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten des Westens die außereuropäischen Kulturen, suchen und finden in Rückbesinnung auf ihre eigene Geschichte ihre Identität in Abgrenzung vom "Westen". Die kommende Geschichte wird, statt die "eine Welt" zu bringen, die Scheidung der Menschheit in Kulturkreise verschärfen; sie sind zwar vielfältig vernetzt durch alles, was technischer und wissenschaftlicher Fortschritt und ökonomischer Austausch hervorbringen mag, aber deutlich getrennt durch die Werteskala, nach der sich Individuum und Gemeinschaft bilden. Alte Geschichtsbilder werden aktualisiert, sie weisen auf die Unterschiede zwischen den Kulturen hin, auf die früheren Kämpfe und vergangene Überlegenheiten. Ob es schließlich zum "Clash of Civilizations"
Die fanatischen Potenziale in diesem Streit der Kulturen und deren technische Möglichkeiten sind so beschaffen, suchen so neue und gefährliche Wege, dass man die Prävention nicht vernachlässigen darf. Diese Zukunftserwartung drängt auf Stärkung des Zusammenhalts im eigenen Kulturkreis, seiner in der Geschichte gewachsenen Wertvorstellungen und Selbstbehauptungskraft im geistigen, wirtschaftlichen und militärischen Bereich. Der westlich-europäische Kulturkreis ist uns näher als die Welt. Seine Geschichte und seine Zukunft sind unser Teil - daraus folgt die Anerkennung der Besonderheit anderer Kulturen, nicht aber die Vermischung oder gar ihre Einebnung und Integration in das europäische Konzept der Moderne.
Das ist eine Repartikularisierung des universalen Geschichtsbildes vom Fortschritt der Menschheit. Kann es zur besseren Regelung der Konflikte beitragen, wenn die sozialen, politischen und kulturellen Eigenarten der Kulturen nicht einem Leitmodell folgen müssen? Die Normen der Friedenswahrung, des Völkerrechts und der Menschenrechte - bereits in globalen Resolutionen und Institutionen bekräftigt - wären dann als der europäisch-westliche Beitrag zu einer Universalgeschichte zu verstehen, die im Übrigen der Eigenart jeder Kultur ihren Raum lässt. Dieses Konzept erlaubt einerseits, am Bild einer "Universalgeschichte der Menschheit in weltbürgerlicher Absicht" festzuhalten, und andererseits, kulturelle Differenz zu achten. Vielfalt der Kulturen ist anzustreben, die durch wenige, zentrale Universalismen ihr Miteinander regeln. So wird "angstfreies Andersseindürfen für alle ermöglicht ... Universalisierung ist nur als Pluralisierungsermöglichung gerechtfertigt, nur als Buntheitsförderung."
Diese drei Positionen werden jede für sich oder in wechselnden Kombinationen die im Hintergrund der öffentlichen Vermittlung von Geschichte stehenden "Geschichtsbilder" dominieren und verorten lassen. Im Hintergrund der viel berufenen "Geschichtskultur" wartet die Aufgabe theoretischer Klärung, normativer Auseinandersetzung und pragmatischer Umsetzung der Ziele und Verfahrensweisen bei der Präsentation von Geschichte im Hinblick auf die künftige "Zeitperspektive", die wir der Vergangenheitsdeutung geben.
VII. Das Geschichtsbild "Europa" und die deutsche Nationalgeschichte
In Europa ist das "Projekt der Moderne" entstanden. Können wir es nur durch Repartikularisierung für den westlichen Kulturkreis bewahren, und müssen wir damit seinen universalen Anspruch zurücknehmen?
Im Durchgang durch die Epoche der Aufklärung, der Zeit der Entstehung oder Vorbereitung des modernen Nationalstaates, entstand das bei allen Differenzen die Nationen Europas verbindende Geschichtsbild - die Nationalgeschichten sind als Elemente des europäischen Geschichtsbildes nicht wegzudenken und auch nicht auf das "weltbürgerliche" Prinzip der Republik zu reduzieren. Das universal gedachte, europäisch realisierte Konzept braucht die Vielfalt wie die Gemeinsamkeit des Partikularen - als abstrakt-unitarische "Staatsnation" wird sich Europa nur in den Vorstellungen politischer Systematiker realisieren.
Die politische Teilung Deutschlands spaltete auch die deutschen Geschichtsbilder: Die machtgeschützte Doktrin des "Histomat" einerseits, die prononcierte "Westorientierung" im Wertungshorizont geschichtlicher Vorgänge andererseits blockierten - ungeachtet eines intensiven und vielfältigen Forschungsbetriebs - zunehmend eine breitere öffentliche Diskussion um eine Deutung oder gar Wertung der deutschen Geschichte. Die zweite Blockade war Folge des unerhörten Traditionsbruchs der NS-Zeit - in Ost und West unterschiedlich auf die Gegenwart bezogen, aber überall als Verdunkelung oder Abriss der historischen Kontinuität unserer Geschichte wahrgenommen. Das Bild der deutschen Geschichte war zerbrochen: Sie wurde entweder marginalisiert - bis hin zum Zweifel an der Existenz ihres Zusammenhangs - oder stigmatisiert als bloße Vorgeschichte der Barberei des Hitler-Regimes.
Die Entstehung eines Geschichtsbildes mit europäischem Horizont hinter bzw. in der Nationalgeschichte löst diese Blockaden. Der Zusammenhang deutscher Geschichte - sieht man ihre Verflechtung in gesamteuropäische Zustände und Bewegungen - wird wieder formulierbar und macht die deutschen Eigenheiten als Varianten und Beiträge zur europäischen Gemeinsamkeit in Kultur und Wissenschaft, Recht, Politik, Technik und Wirtschaft im vergangenen Jahrtausend sichtbar. Die Geschichtswissenschaft hat in heftigen, die Öffentlichkeit bewegenden Kontroversen - wie im "Historikerstreit" der achtziger Jahre - sowie in einer Anzahl breit angelegter Synthesen der deutschen Geschichte die Komplexität ihres Zusammenhangs dargestellt; und die Lehrbücher für den Unterricht, angestoßen durch diese Entwicklung und durch transnationale Diskussionen, folgen - nicht nur in Deutschland - dieser Tendenz zu einem die jeweilige Nationalgeschichte integrierenden europäischen Geschichtsbild.
So gewinnt das Bild der deutschen Geschichte Substanz im Rahmen europäischer Geschichtsdeutung mit ihren universalen Postulaten. Das könnte den verlorenen Zusammenhang zwischen partikularem und universalem Geschichtsbild wiederherstellen und eine Zeitperspektive vermitteln, die das Verständnis der Möglichkeiten und Forderungen der kommenden Geschichte fördert. In dieser Perspektive ist die Variation der Sprechchöre während der "friedlichen Revolution" im November 1989 von dem Demokratie einfordernden Ruf "Wir sind das Volk" zu dem die Einheit der Nation einfordernden Satz "Wir sind ein Volk!" nicht zu diskreditieren als Rückfall in ein nationalistisches Geschichtsbild und als Widerspruch zum "Konzept der Moderne". Sie ist vielmehr als Bekenntnis zu einer Verantwortungsgemeinschaft zu werten, der es aufgegeben ist, sich gemeinsam der Schuld zu stellen, die sie geerbt hat und gemeinsam die Bestände der Geschichte zu prüfen, die diesem Volk einen Platz in einem europäischen Geschichtsbild geben.
VIII. Der Geist der Zeit, die Wahrheit und die Muse der Geschichte - mehr als eine Allegorie
Geschichtsbilder lassen sich nicht verordnen, aber die professionelle Geschichtsvermittlung in der Öffentlichkeit wie in der Schule bleibt blind, wenn sie sich nicht Rechenschaft ablegt über die Perspektiven der kommenden Geschichte, die sie anbieten. Sie muss sich im Spektrum der skizzierten Optionen orientieren, will sie nicht in die "Geschichtsfalle" laufen, Funde aus dem Labyrinth der Vergangenheit in nicht befragter Anordnung vorzeigen oder als Traumtänzer imaginärer Projekte auftreten. Es liegt ein hoher, aber notwendiger Anspruch in dem Appell an die Vermittler historischer Kenntnis und Bildung, an der Auseinandersetzung um die Zeitdeutung und Zukunftsperspektive teilzuhaben, um auf die Frage nach dem Ziel der Lehre von der Geschichte zwar keine einfachen, aber doch begründbare Antworten zu finden.
Goya hat vor zweihundert Jahren das alte Motto von der Geschichte als "lux veritatis" auf eine neue, uns sehr betreffende Weise dargestellt: