Die Feiern zur deutschen Wiedervereinigung erinnern in Bildern und Atmosphäre häufig eher an eine große Familienfeier als an einen mit Glanz und Leidenschaft begangenen Staatsfeiertag. Das ist vor allem der deutschen Geschichte geschuldet und auch gut so. Der Unabhängigkeitstag in den USA und der 14. Juli in Frankreich haben dagegen eine viel stärkere Symbolkraft und drücken den Stolz auf die Gründungsakte der jeweiligen Republiken und Demokratien aus. In anderer Weise gilt das fast noch stärker für Polen. Dort wird stets am 11. November an die Gründung der Zweiten Polnischen Republik 1918 erinnert: Nach 123 Jahren der Teilung durch Preußen, Österreich-Ungarn und Russland erlangte das Land damals endlich seine Unabhängigkeit, die zunächst jedoch nur zwei Jahrzehnte hielt.
In den Stolz hat sich zuletzt aber auch ein Gefühl der Zerrissenheit gemischt. In den vergangenen Jahren begleiteten Demonstrationen und Gegendemonstrationen, heftige Konfrontationen und Krawalle das offizielle Staatszeremoniell zum Unabhängigkeitstag und zeigten, wie kontrovers der Bezug auf die Zweite Republik ist, wie gespalten die Erinnerung daran. Tatsachen und reale Geschehnisse werden bisweilen von Legenden und Mythen überlagert. Dies gilt für die Vorgeschichte der Staatsgründung und die Gründungssituation selbst. Es gilt für Gefährdungen und Konflikte, denen die wiederentstandene polnische Republik in ihrer zwanzigjährigen Existenz ausgesetzt war. Es gilt schließlich für ihr Ende durch den doppelten Überfall Hitler-Deutschlands und der Sowjetunion 1939 und die Erinnerung daran.
Versuche der Vermittlung scheiterten, wie der des damaligen polnischen Staatspräsidenten Bronisław Komorowski, der 2012 zu einem "Marsch für die Einheit Polens" aufrief. Doch die Konfrontationen wurden nur heftiger und heftiger, die Radikalisierung nahm zu. Im November 2017 marschierten in Warschau mehr als 60.000 Anhängerinnen und Anhänger der seit 2015 amtierenden Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) gemeinsam mit rechtsnationalistischen Gruppierungen zur Verteidigung des "wahren" katholischen Polen auf. Zum hundertsten Jahrestag der polnischen Unabhängigkeit, der am 11. November 2018 stattfinden und bereits mit großem Aufwand vorbereitet wird, werden sich somit völlig gegensätzliche Visionen des polnischen Staates zeigen. Zum Verständnis dieser Gegensätze hilft ein Blick in die Geschichte.
Ursprünge und Kontinuität "negativer Polenpolitik"
Drei Teilungen Polens in den Jahren 1772, 1793 und 1795 besiegelten das Schicksal der polnisch-litauischen Adelsrepublik, die jahrhundertelang als europäische Großmacht existiert hatte. Von Zeitgenossen und Nachgeborenen wurden die Teilungen entweder als historisches Verbrechen, als Tragik oder selbstverschuldeter Untergang eingestuft. So divergierend die Interessen der Teilungsmächte Russland, Preußen und Österreich auch sein mochten, in der Realisierung einer "negativen Polenpolitik" trafen sie sich. In ihrer Sicht hatte Polen sich seinen Niedergang und Untergang durch innere Widersprüche, Anarchie und Schwäche selbst zuzuschreiben. Polnische, aber auch deutsche Historiker stellten später klar, dass Polen, bei allen selbstverantworteten Momenten des Niedergangs, zum Opfer einer expansionistischen Politik seiner Nachbarn, allen voran Russlands und Preußens, geworden war.
Mit der dritten Teilung war Polen als Staat von der Landkarte verschwunden und sollte nach dem Willen der Teilungsmächte nie wieder auftauchen. Diese sahen sich als Eckpfeiler der sogenannten europäischen Pentarchie, der spätestens mit dem Wiener Kongress von 1814/15 begründeten Ordnungsarchitektur Europas. Russlands europäisches Hegemonialstreben hatte sich bereits seit Peter dem Großen (1672–1725) auf die Entmachtung, Schwächung und letztlich die staatliche Liquidierung Polens gerichtet, das sich mit der inneren Gestalt einer Adelsrepublik scharf vom asiatisch-despotischen Charakter des Moskauer Großreiches abhob. Nicht anders waren die Ziele Preußens im Zuge seiner Ostexpansion im 17. und 18. Jahrhundert zu sehen. Das habsburgische Österreich kam verspätet dazu und komplettierte das Bündnis der "drei schwarzen Adler".
Die Reaktionen der Polen auf den Verlust der Unabhängigkeit nahmen verschiedene Formen an. Sie konnten mit einer romantischen Verklärung der Vergangenheit und den "Träumen vergangener Größe" verbunden sein. Sie mündeten in Revolten und Aufständen, führten polnische Legionäre und Soldaten an die Seite Napoleon Bonapartes, der den Polen erneute Souveränität versprach. Es gab Phasen der Anpassung und Akzeptanz, in denen das Arrangement mit der jeweiligen Teilungsmacht und das Streben nach einem gewissen Maß an Autonomie im Vordergrund standen. Darin enthalten war ziviler und kultureller Widerstand gegen eine Politik der sprachlichen, kulturellen und religiösen Unterdrückung und Assimilation. Auch die Gründung legaler und konspirativer Vereinigungen und Parteien mit rechtsklerikalem, konservativem, liberalem, sozialistischem und kommunistisch-anarchistischem Profil gehörte dazu.
Dies alles nahm die Zerrissenheit der politischen Landschaft der Zweiten Republik ab 1918 vorweg. Rechte und konservative Kräfte hatten sich im 19. Jahrhundert mit den Umbrüchen und Auswirkungen der europäischen Moderne konfrontiert gesehen, mit dem Vordringen sozialistischer, liberaler und laizistischer Ideen. Ein erneut unabhängiges katholisches Polen, das ihnen nun vor Augen stand – in völliger Souveränität oder Anlehnung an eine der Teilungsmächte, deren Existenz unverrückbar schien – sollte als Verteidigungsmauer gegen die dekadenten, zersetzenden Tendenzen des Westens wirken. Die "wahren" Polen wurden ethnisch und konfessionell bestimmt; nationale Minderheiten, wie Ukrainer, Litauer und Vertreter anderer Konfessionen, so auch Juden, wurden bestenfalls geduldet, nicht jedoch als vollwertige Staatsbürger akzeptiert. Das überlegene Preußen beziehungsweise Deutschland schied als Erzfeind für die Rolle der künftigen Protektionsmacht aus. Für die Wortführer der damaligen polnischen Rechten, allen voran Roman Dmowski, blieb als Option nur die Anlehnung an das ungeliebte Russland, dem man sich zivilisatorisch überlegen fühlte.
Die polnischen Sozialisten unter ihrem langjährigen Anführer und späteren Staatschef Józef Piłsudski hingegen hatten entgegengesetzte Vorstellungen vom Weg in die Unabhängigkeit. In ihrem noch vor der Wende zum 20. Jahrhundert entstandenen Programm strebten sie volle Souveränität an und schlossen jede einseitige Abhängigkeit aus. Für sie sollte sich Polen auf die toleranten und liberalen, multiethnischen und multikonfessionellen Traditionen der alten Adelsrepublik beziehen und die Signale der europäischen Moderne auf eigenständige Weise aufnehmen und verarbeiten. Sie waren davon überzeugt, dass die von ihnen angestrebte soziale Emanzipation, ihr Gerechtigkeitsstreben nur im Rahmen eines souveränen, demokratischen Staatswesens gelingen könnte. Revolutionäre Methoden wollten sie nur im Kampf gegen die zaristische Despotie anwenden.
Damit standen sie dem reformistischen Teil der deutschen und internationalen Sozialdemokratie nahe, wurden von Rosa Luxemburg und ihren polnischen und deutschen Anhängern jedoch als anachronistische, fossile Nationalisten angesehen. Für Luxemburg und ihre protokommunistische Ausrichtung sollten sich polnische, jüdische, russische, ukrainische Arbeiter nicht mit ihren nationalen Unterschieden aufhalten, sondern gemeinsam kämpfen, sprachliche und kulturelle Autonomie in Anspruch nehmen und in einer künftigen internationalen Gemeinschaft aufgehen. In ihrer Wahrnehmung der nationalen Frage und des Nationalstaates irrte Luxemburg jedoch tief und grundsätzlich.
Hier bewiesen die polnischen Sozialisten um Piłsudski den größeren Realismus. Piłsudski war zwar weder Hellseher noch Prophet, aber er war bereits vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs davon überzeugt, dass nur der Zerfall und Sturz aller Teilungsimperien die Chance auf ein erneutes souveränes Polen im Herzen Europas eröffnen würde. Dafür mussten die Polen aber selbst kämpfen und durften nicht nur Kanonenfutter in den Armeen der drei Teilungsmächte sein. Piłsudski setzte auf die Tradition der polnischen Aufstände, wollte aber den Mythos der Niederlage in eine Erfahrung des Sieges verwandeln und wurde mit Kriegsbeginn zum Schöpfer der Polnischen Legionen. Deren Angehörige, darunter häufig Akademiker und Intellektuelle, kämpften als Freiwillige zunächst auf der Seite Österreichs gegen das zaristische Russland. In den Brigaden der Legionen fanden sich Polen, Ukrainer, Litauer und Angehörige anderer Nationen zusammen, ebenso zurückgekehrte Emigranten und Juden.
1916 verschob sich die Waage des Krieges im Osten auf die Seite der Mittelmächte; die Deutschen besetzten Warschau und wollten die polnischen Einheiten als Teil der polnischen "Wehrmacht" eingliedern. Damit konfrontiert, stellte Piłsudski eine Bedingung: Die Verbände sollten kein Teil des deutschen Heeres sein und als polnische Legionen weiterhin einem eigenen Kommando unterstehen. Folgerichtig lehnte er auch die Eidesleistung für den deutschen Kaiser ab und wurde im Sommer 1917 mit einem großen Teil seiner Offiziere und Mannschaften interniert. Eine von vielen Zeitgenossen als abenteuerlich und sinnlos angesehene Entscheidung machte ihn zum nationalen Volkshelden, der auch die Anerkennung der letztlich siegreichen Entente-Mächte gewann. Anderthalb Jahre später wurde er zu einem der entscheidenden Gestalter des neuen Polen.
Staatsgründung
Als Piłsudski am 10. November 1918 in Warschau eintraf, lag ihm die Macht nicht zu Füßen, wie in späteren Darstellungen suggeriert wurde (bereits hier setzte die Legendenbildung ein). Durch den Kriegseintritt der USA im April 1917 wurde der US-Präsident Woodrow Wilson zu einer entscheidenden Person der im Januar 1919 beginnenden Pariser Friedenskonferenzen. In seinen berühmten 14 Punkten vom Januar 1918 entwarf er die Umrisse einer künftigen europäischen Friedensordnung. Er forderte für Polen die Wiedererrichtung als unabhängigen Staat, mit einem freien Zugang zum Meer und international gesicherten Grenzen. Was diese Vorstellungen für die Größe und das Gewicht eines polnischen Staates bedeuteten, blieb jedoch vieldeutig und umstritten. Zu endgültigen Entscheidungen darüber kam es durch die abschließenden Vereinbarungen, deren Aushandlung sich bis 1923 hinzog. Politische und militärische Tatsachen wurden von Beginn an in Polen selbst geschaffen.
Die deutsche Seite hatte Piłsudski am 9. November 1918 aus der Festung Magdeburg nach Warschau bringen lassen, da die Revolutionswirren und die Revolte der Truppen bereits auf die polnische Hauptstadt übergriffen. Im deutschen Oberkommando gab es die irrige Hoffnung, dass sich Piłsudski, der jede Loyalitätserklärung verweigerte, mit der Besatzungsmacht unter General Hartwig von Beseler arrangieren würde. Die noch im Osten stehenden deutschen Truppen sollten als Ordnungsfaktor und Faustpfand für die Waffenstillstandsverhandlungen erhalten bleiben. Von den drei Vertretern des polnischen Regentschaftsrates – der mit den Deutschen kooperierenden Pseudoregierung – wurde Piłsudski als weiteres Mitglied empfangen. Erst als er diese Rolle ablehnte und die Entwaffnung sowie den geordneten Abzug der deutschen Truppen in Gang setzte, wurde er vom Regentschaftsrat mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet. Er schuf vollendete Tatsachen und war zugleich nach allen Seiten zu Kompromissen genötigt.
Seine alten Weggefährten, die polnischen Sozialisten, hatten in Lublin bereits eine Gegenregierung gebildet, unterstellten sich ihm aber. Sie hofften, mit seiner Hilfe möglichst viele ihrer politischen und sozialen Forderungen durchsetzen zu können. Piłsudski kannte Polen zu gut, um nicht zu wissen, dass er mit einer einseitig sozialistischen Option alle Chancen auf die Einheit und den Zusammenhalt des Landes verspielt hätte. Er setzte sich jedoch dafür ein, dass bereits unter der ersten Übergangsregierung entscheidende soziale Rechtsakte und Gesetze verabschiedet wurden. Dazu gehörte die Einführung des Achtstundentages, bezahlter Urlaub und der Ausbau sozialer Sicherungssysteme. Ein demokratisches Wahlrecht mit dem allgemeinen Wahlrecht für Frauen folgte. In der im März 1921 verabschiedeten Verfassung wurde der Charakter Polens als säkulare, demokratische Republik festgeschrieben. Für den Staatsaufbau war die Anlehnung an Prinzipien der französischen Verfassung bedeutsam.
Der Wortführer der zersplitterten Rechten, Roman Dmowski, stand seit dem Sommer 1917 an der Spitze eines in Paris beheimateten polnischen Auslandskomitees. Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Popularität und das Gewicht Piłsudskis anzuerkennen, er rechnete aber mit einer Mehrheit für konservative und rechte Kräfte bei künftigen Wahlen. Die Verhandlungssituation in Paris und der schwierige Beginn der Republik machten einen Kompromiss zwischen Piłsudski und Dmowski nötig. Dieser kam mit Hilfe des weltbekannten Pianisten und Komponisten Ignacy Jan Paderewski zustande, der als Anhänger Dmowskis galt, aber loyal zu Piłsudski stand. Er selbst wurde in einer extrem schwierigen Situation zum Ministerpräsidenten und trug entscheidend dazu bei, dass die Vermittlung zwischen den verfeindeten Seiten im ersten Jahr der Republik halbwegs gelang.
Ohne die Akzeptanz und die Unterstützung der Entente-Mächte – obgleich diese nur zögerlich kam – wäre die Zweite Polnische Republik nicht zustande gekommen. Ein genauerer Blick auf die Vorgeschichte und die Umstände der Staatsgründung zeigt jedoch, wie bedeutsam die Momente der Selbstbefreiung waren. Man kann dem Publizisten Adam Krzeminski folgen, der davon spricht, die Zweite Polnische Republik sei "erkämpft, erschlichen und erzwungen" worden.
Druck von außen und innen
Die Fülle der Aufgaben, die sich vor dem jungen Staat auftürmten, war erdrückend. Der Weltkrieg hatte mit Zerstörungen, Verwüstungen und massenhaften Deportationen alle Teilungsgebiete überrollt. Es galt, aus den extrem unterschiedlich entwickelten und mit diversen Rechts- und Finanzsystemen ausgestatteten Regionen ein gesellschaftlich, ökonomisch und kulturell funktionierendes Staatswesen aufzubauen.
Am drängendsten war jedoch die militärische Herausforderung. Bis zur endgültigen Machtergreifung der Bolschewiki konnte Polen die Hoffnung haben, dass in Russland nach dem Sturz des Zarenreiches konstitutionell-demokratische Kräfte an die Macht kämen. Mit ihnen wären ein Ausgleich und Verhandlungen über die Gestaltung der Verhältnisse im östlichen Europa möglich gewesen. Mit Wladimir Iljitsch Lenin und seinen Genossen setzte sich der imperiale zaristische Herrschaftsanspruch jedoch unter rotem Vorzeichen fort. Die Ukraine, Belarus, die baltischen Staaten und der östliche Teil Polens mussten mit einer militärischen Invasion der gerade erst entstehenden Roten Armee rechnen. Die Bolschewiki wollten die Fackel der sozialen Revolution über Polen nach Deutschland und Westeuropa tragen und bestenfalls ein Räte-Polen als Vasallenstaat neben sich dulden.
Auf der anderen Seite weigerte sich Deutschland als Kriegsverlierer, das Existenzrecht eines unabhängigen Polen anzuerkennen und territoriale Verluste zu akzeptieren. Die Deutsche Revisionspolitik, die mit diplomatischen und politischen Mitteln betrieben wurde, aber auch geheime Militärkooperation mit der Sowjetunion einschloss, wurde zur Bedrohung und permanenten Belastungsprobe für Polen.
In dieser Situation brachten Piłsudski und Offiziere der Polnischen Legionen das schier Unmögliche zustande: Aus dem Kern der rund 30.000 Legionäre und weiterer Freiwilliger entstand bis Ende 1919 eine einsatzfähige Armee mit 700.000 Soldaten. Die notwendige Bewaffnung und Ausrüstung konnte nur mit Hilfe der westlichen Alliierten beschafft werden. Eine eigene polnische Verteidigungsindustrie existierte noch nicht. Die alliierte Hilfe kam spärlich und verspätet, da maßgebliche Politiker in England und Frankreich in Polen einen Aggressor sahen, der die friedliebende Sowjetunion bedrohe. Bis 1922/23 gab es keine endgültigen Festlegungen zur polnischen Ostgrenze, sodass die militärischen Auseinandersetzungen auf den Territorien der Ukraine, der baltischen Staaten und Belarus anhielten. Unter Mithilfe des in allen Teilen Europas präsenten Propagandaapparates der Kommunistischen Internationale (Komintern) und der mit ihr verbundenen nationalen kommunistischen Parteien wirkte die Moskauer Friedenslegende bis weit in sozialdemokratische und bürgerlich-liberale Kreise des Westens hinein. Politiker wie Winston Churchill, die bereits zu dieser Zeit die Gefahr erkannten, die vom Expansionismus und Revolutionsexport der Moskauer Kommunisten ausging, waren die große Ausnahme.
Das Jahr 1920 zeigte, wie berechtigt die polnischen Befürchtungen waren. Nach militärischen Auseinandersetzungen während des gesamten Jahres 1919 und dem gescheiterten Versuch Piłsudskis, die ukrainische Staatsbildung unter Symon Petljura zu unterstützen, kam es im Sommer 1920 zur Großoffensive der Roten Armee. Die Reiterarmeen Semjon Michailowitsch Budjonnys und Michail Nikolajewitsch Tuchatschewskis drangen bis Warschau vor. Sie hätten bei weiteren Vorstößen sogar noch die Unterstützung der deutschen Reichswehr gehabt, deren Führung das Ende eines souveränen Polen herbeisehnte. Gegen Skeptiker, Zweifler und falsche Ratschläge westlicher Militärbeobachter setzten Piłsudski und ein Teil der polnischen Militärführung im Angesicht höchster Gefahr auf die Kampfkraft ihrer Armee, die Tapferkeit ihrer Soldaten und eine bespiellose gesellschaftliche Mobilisierung. Zu Hilfe kam ihnen die Konkurrenz unter den sowjetischen Militärführern, vor allem zwischen Tuchatschewski und Josef Stalin. In einer als "Wunder an der Weichsel" in die Militärgeschichte eingegangenen Abwehrschlacht mit nachfolgendem Umfassungsmanöver wurden die Roten Truppen im August 1920 zum panikartigen Rückzug gezwungen.
Trotz des militärischen Sieges und seiner Popularität in breiten Teilen der Gesellschaft musste Piłsudski in den Folgemonaten seine bitterste politische Niederlage hinnehmen. Im polnischen Parlament und in der Regierung waren rechte und nationalistische Kräfte so dominant, dass sie die Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen mit der Sowjetunion bestimmten. Sie und Vertreter der westlichen Alliierten legitimierten die Kontrolle der sowjetischen Seite und der ukrainischen Kommunisten über den Großteil der ukrainischen Territorien. Ein Teil der westlichen Regierungen hoffte immer noch auf ein künftiges nichtbolschewistisches Russland als Partner, ein anderer Teil auf die zähmende Kraft eines "Wandels durch Handel". Das Ergebnis dieser "Zähmung" ließ sich wenige Jahre später im Terrorsystem Stalins besichtigen.
Polnische Nationalisten waren eher bereit, sich mit sowjetrussischen und sowjetukrainischen Gegenübern zu arrangieren, als den ukrainischen Unabhängigkeitskräften eine Chance zu geben. Damit waren die Föderationspläne der polnischen Sozialisten und ihrer liberalen Verbündeten gescheitert. Der Konflikt zwischen einer Politik, die auf Assimilation und Unterordnung von Minderheiten setzte, und den Bemühungen von Sozialisten und Liberalen, für Ausgleich und die Durchsetzung von Minderheitenrechten zu sorgen, durchzog die Folgejahre und rückte die Zweite Republik ins Zwielicht.
Autoritäre Konsolidierung
Die Phasen der Konsolidierung und erfolgreicher Aufbauarbeit waren eng mit dem Wirken polnischer Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker verbunden. Zu ihnen zählte etwa Eugeniusz Kwiatkowski, als späterer Industrie- und Finanzminister der Vater des polnischen Wirtschaftswunders. Er verband erfolgreiche Modernisierungskonzepte und -strategien mit dem Bemühen, langfristig die soziale und regionale Zerklüftung des Landes zu überwinden und den zurückgebliebenen polnischen Osten an das Entwicklungsniveau der zentralen und westlichen Landesteile heranzuführen.
Die Überwindung gesellschaftlicher Gräben aber lag nicht im Interesse der politischen Extreme. Im Dezember 1922 wurde der gerade erst in sein Amt eingeführte erste Präsident der Republik, Gabriel Narutowicz, durch einen rechten Fanatiker ermordet. Der ehemalige Sozialist, der als Techniker und Unternehmer jahrzehntelang in der Schweiz gelebt und in mehreren Kabinetten als Minister gedient hatte, hatte sich stets für politischen und gesellschaftlichen Ausgleich und Vermittlung eingesetzt. Das Attentat traf auch Piłsudski schwer. Die Kugeln hatten eigentlich ihm gegolten, dem von "wahren" Polen gehassten Litauer, Freigeist und "Judenfreund". Er hatte Narutowicz zur Kandidatur für das Präsidentenamt geraten, weil ihm selbst die Fähigkeit zum Ausgleich fehlte. Verbittert zog er sich auf seinen Landsitz in der Nähe von Warschau zurück. So hart und brutal er in politischen Kämpfen auch agieren mochte, war er weder von diktatorischen Ambitionen beherrscht noch ein gewissenloser Zyniker, wie ihn seine Gegner sahen. Als Staatsgründer war er mit extremen äußeren Bedrohungen konfrontiert und hatte es im eigenen Land mit Realitäten und Kräften zu tun, die er nicht beliebig verändern konnte, die viele seiner Pläne und Visionen scheitern ließen.
Im Mai 1926 stand Polen durch die drohende parlamentarische Machtübernahme konservativer und rechter Kräfte am Rande eines Bürgerkrieges. Die Linke drohte mit einem Generalstreik. Auf beiden Seiten gab es bewaffnete Formationen. Als alle Verhandlungen mit der Staatsspitze scheiterten, rückte Piłsudski an der Spitze von Militärverbänden in Warschau ein und übernahm die Kontrolle über die Republik.
Das mit dem Begriff Sanacja (Erneuerung, Gesundung) verbundene autoritäre Ordnungsregime, das bis 1939 folgte, war zwar keine Diktatur im klassischen Sinne. Gestützt auf seine Autorität und ihm ergebene militärische und zivile Gefolgsleute, hielt Piłsudski die permanent auf Konfrontation zielenden und mit Bürgerkrieg drohenden radikalen Kräfte auf der rechten und linken Seite in Schach und garantierte die Stabilität Polens über Krisen und Bedrohungen hinweg. Mit den demokratischen Idealen der Gründungssituation war das aber kaum zu vereinbaren. Piłsudski hatte bei Weitem nicht die Machtfülle, die ihm von außen zugeschrieben wurde. Er musste das heterogene Spektrum seiner Anhänger zusammenhalten, hinter den Kulissen permanent taktieren und sah sich zu den widrigsten Kompromissen genötigt. Die Einschränkung und Aussetzung politischer Rechte der Opposition, die zeitweilige Internierung zahlreicher ihrer Anführer, darunter einstige sozialistische Weggefährten, entsprachen weit mehr der Natur seiner radikalen rechten und linken Gegner als seinem eigenen demokratisch-republikanischem Anspruch. Übergriffe, Repressionen und sadistische Ausschreitungen gegenüber den Internierten, die er letztlich mitverantwortete, obwohl er sie so nicht wollte, waren aber durch nichts zu rechtfertigen.
Ende und Erbe
Piłsudskis Tod im Mai 1935 bedeutete eine weitere Zäsur. Auf der einen Seite gewann die polnische Rechte weiter an Boden, bestärkt durch international immer stärker vordringende nationalistische und faschistische Tendenzen. Dennoch wurde das Polen der Zweiten Republik nicht zur Diktatur oder Militärdiktatur. Es gab eine breitgefächerte legale Opposition mit eigenen Optionen für die Zukunft des Landes, mit Parteien, die sie unterstützten und sich für kommende Wahlen Chancen ausrechnen konnten. Nachdem die Folgen der Weltwirtschaftskrise überwunden waren, setzte Polen zu einer regelrechten wirtschaftlichen Aufholjagd an. Nach Zerwürfnissen mit Vertretern der Sanacja-Formation rückten Kwiatkowski und andere Fachleute wieder in verantwortliche Ministerien ein und beförderten den ökonomischen Aufschwung erfolgreich.
Die entscheidenden Gefahren kamen von außen. Mit dem Machtantritt Adolf Hitlers in Deutschland, der Zwangskollektivierung, den Terrorwellen und der großen Säuberung Stalins in der Sowjetunion erreichte die "negative Polenpolitik" beider totalitärer Systeme eine neue Stufe. Stalin sah in der ukrainischen und der polnischen Nation die größten Unruhe- und Widerstandspotenziale gegen sein auf Terror und Unterdrückung begründetes Imperium.
Solange die forcierte und vom Westen geduldete massive Aufrüstung der Wehrmacht noch im Gange war, spielte Hitler nach außen den Verständigungspolitiker und Friedensengel. "Onkel Wolf", wie sich Hitler von Kindern gern nennen ließ, war ein Meister der Camouflage. Piłsudski wiederum war niemand, der sich von Maskeraden und Schmeicheleien, die Hitler ihm entgegenbrachte, täuschen ließ. Von fortschreitender Krankheit gezeichnet, verwendete er die letzten Jahre seines Lebens darauf, sich der für Polen und Europa tödlichen Gefahr entgegenzustemmen. Unmittelbar nach dem Machtantritt Hitlers schlug er im März 1933 der französischen Regierung über vertrauliche Kanäle ein gemeinsames politisch-militärisches Vorgehen vor. Noch konnte die durch Festlegungen des Versailler Vertrages eingeschränkte Reichswehr der französischen und polnischen Armee kaum etwas entgegensetzen, noch hatte der forcierte Ausbau der Wehrmacht nicht eingesetzt. Das von Piłsudski vorgeschlagene Maßnahmenpaket hätte Hitler womöglich stoppen und den Zweiten Weltkrieg unter Umständen verhindern können. Doch diese Chance wurde durch das Zögern und die Ablehnung der französischen und dann auch der britischen Seite vertan.
Weitere Möglichkeiten in diese Richtung ergaben sich, als Hitler 1935 das demilitarisierte Rheinland besetzte und 1938 in den Verhandlungen zum Münchner Abkommen die Westmächte erpresste und anschließend betrog. Polen verfolgte in dieser Zeit, in Fortsetzung der Konzepte Piłsudskis, eine Äquidistanz zu beiden großen Nachbarn und widerstand allen Bündnisangeboten Hitlers. Der polnische Außenminister Józef Beck regte in ähnlicher Weise wie Piłsudski 1933 ein koordiniertes Vorgehen Polens und der Westmächte in den jeweiligen Krisen an – allerdings ebenso vergeblich. Nichtangriffspakte, die Polen mit der deutschen und der sowjetischen Seite abschloss, um Zeit zu gewinnen, wurden von Hitler und Stalin im geeigneten Moment aufgekündigt oder gebrochen. Im Spätsommer 1939 schloss sich die Zange.
Die Erinnerung an zwanzig Jahre souveräner staatlicher Existenz durchzog den polnischen Widerstand in den Jahren des Zweiten Weltkriegs, während der Emigration und der Nachkriegszeit. Sie existierte als Verklärung, äußerte sich aber auch in Distanz und Ablehnung. An der fortdauernden Legitimität der Republik hielt im inneren Widerstand und in der Emigration jedoch ein Großteil der Polen fest. Im Rückbezug darauf, was die Republik ausmachte, was an ihr zu verteidigen, infrage zu stellen und wieder zu begründen war, unterschieden sich die sozialistischen und liberalen Verteidiger eines säkularen, modernen Staates von den Verteidigern des traditionellen katholischen Polens und eines rechtsnationalistischen Ordnungsregimes weiter grundsätzlich und fochten diese Gegensätze im Exil aus.
Der vom Ursprung her linke Sozialist Piłsudski wurde in den ersten Jahrzehnten der Volksrepublik offiziell zur Unperson und galt als Verkörperung der zu bekämpfenden Reaktion. Sein Gewicht und seine Autorität waren jedoch so groß, dass ab den 1970er Jahren versucht wurde, sein Erbe für die Legitimität Volkspolens zu nutzen – was jedoch kaum gelang. Als erster frei gewählter Staatspräsident übernahm Lech Wałęsa 1990 die Insignien der Staatsmacht aus den Händen des letzten polnischen Exilpräsidenten und drückte damit den Übergang in die neue Legitimität der Dritten Polnischen Republik aus.
Die neuen Kräfte am polnischen Runden Tisch, der den friedlichen Übergang zustande brachte, mussten sich mit den Anhängern der unterlegenen polnischen Kommunisten auf die innere Verfasstheit des neuen Polen verständigen. Bald zeigte sich, dass die tief in der Geschichte verwurzelten unterschiedlichen Positionen, die bereits die Zweite Polnische Republik bestimmt und erschüttert hatten, in neuer Form fortexistierten. Unter dem gemeinsamen Anspruch eines souveränen Polens, dass einen wichtigen Platz in Europa einnimmt, ließ sich Verschiedenes verstehen. Nach fast drei Jahrzehnten seit der Konstituierung der Dritten Republik 1989 und der damit verbundenen Erlangung erneuter staatlicher Souveränität stellt sich die Frage, in welche Traditionslinie sich das heutige Polen stellt.
An jedem Vortag des Polnischen Unabhängigkeitstages, also am 10. November, rollt am frühen Morgen ein Zug in den Warschauer Hauptbahnhof ein. Ihm entsteigt im Rahmen eines historischen reenactment eine Verkörperung des aus der deutschen Festungshaft ankommenden Staatsgründers. Es wird interessant zu beobachten sein, wer ihn am 10. November 2018 auf dem mit Sicherheit übervollen Bahnsteig begrüßen und wem er sich zuwenden wird.