Über Jahrhunderte lag Polen in einer prekären Mitte Europas: keineswegs an der Peripherie, jedoch auch nicht im politischen Zentrum des Kontinents. Vielmehr befand es sich in einer Zwischenlage, in der insbesondere das Zusammenspiel der großen Nachbarn im Westen und Osten eine existenzielle Gefahr bedeuteten. Es wundert daher nicht, dass Polen nach dem Ende des Kalten Krieges an einer Neuordnung Europas interessiert war, die seine geopolitische Exponiertheit überwinden würde. Polens "Rückkehr" in die Strukturen der europäischen Integration und seine Eingliederung in die transatlantische Gemeinschaft waren deswegen nicht nur kulturell-identitätsbasierte Generalziele aller Warschauer Regierungen seit 1989, sondern auch Ausdruck des Wunsches, die strategische Architektur Europas so zu verändern, dass diese Richtungs- und Zugehörigkeitsentscheidungen robust abgestützt werden würden gegen allfällige Revisionsbestrebungen aus dem Osten.
Blickt man auf Polens Außenhandeln des vergangenen Vierteljahrhunderts, so wird ersichtlich, dass sich die Erfahrungen der eigenen Geschichte und das Bewusstsein über die schwierige politisch-geografische Lage zu einer strategischen Identität verschmolzen haben, die sich in einen gefestigten außenpolitischen Konsens übersetzt hat, der sowohl vor als auch nach dem Beitritt zur Europäischen Union und zur Nordatlantischen Allianz Bestand hat. Vereinfachend ließe sich diese Disposition als versicherheitlichte Politik der euroatlantischen Westbindung mit einem Nahverhältnis zu den USA und einer spürbaren Fokussierung auf Entwicklungen im postsowjetischen Osten beschreiben. Im Einzelnen umfasst diese polnische strategische Konfiguration eine ganze Reihe von Kernelementen. Hierzu gehören ein hoher Stellenwert von Sicherheitspolitik, ein ausgeprägtes Risikoempfinden und ein Denken in geopolitischen Kategorien, eine starke Beschäftigung mit dem Verhalten Russlands und der Situation in der direkten östlichen Nachbarschaft Polens beziehungsweise der EU, die sicherheitspolitische Sensibilisierung von NATO und EU mit Blick auf Europas Osten, die Forderung effektiver und solidarischer Partnerschaften in den Strukturen des Westens, die Wahrnehmung der USA als entscheidender Sicherheitsanker, die langfristige Überwindung der polnischen Randlage in EU und NATO durch eine Verwestlichung von Nachbarländern wie der Ukraine sowie der Abbau von Verwundbarkeiten durch Russland.
Quer zu diesen außen- und sicherheitspolitischen Grundherausforderungen liegt die Frage nach der geostrategischen "Rolle" Polens. Denn dass Polen eine solche Rolle – und noch dazu eine eigenständige – spielen kann, ist in historischem Maßstab keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Immerhin gab es tragische Phasen, in denen Polen als außenpolitischer Akteur überhaupt nicht vorkam. Und selbst wenn es einen polnischen Staat gab, war die Autonomie oftmals gering. Polen konnte sich seine Rolle auf Europas geostrategischem Schachbrett nicht selbstbestimmt auswählen, sondern sie wurde dem Land zugewiesen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion Ende 1991 sowie Polens Beitritt zur NATO 1999 und der EU 2004 markierten denn auch den Eintritt in eine Phase völlig neuer Qualität. Polen kann als gewichtiger Bestandteil dieser Verbünde deren innere Verfasstheit sowie deren außenpolitisches Wirken mitgestalten. Mit anderen Worten: Polen verwandelte sich endlich vom Spielball der Mächte zum autonomen Spieler, kam aus seiner historischen Zwangs- und Zwischensituation heraus und ist nun statt eines policy takers ein policy maker.
Polen und der Osten
Besonders deutlich wird dieser Übergang am Beispiel der polnischen Ostpolitik. Nach vier Jahrzehnten erzwungener Zugehörigkeit zum sowjetischen Osten setzte Polen nach 1989 alles daran, in den politischen Westen zu gelangen. Dennoch blieb der Osten für die polnische Außen- und Sicherheitspolitik von überragender Relevanz; Russland ist für Polen nach wie vor eine Quelle der Ungewissheit, ja der Bedrohung. Die Fragilität der neu entstandenen Staatsgebilde jenseits der polnischen Ostgrenzen und die offenen Flanken für russische Einflussnahme verstärkten derlei Sorgen. Polen geht es darum, von Russland ausgehende neoexpansive Tendenzen im postsowjetischen Raum abzuwehren und geopolitische Pluralität abzusichern. Die eigenen außenpolitischen Bemühungen zielen daher primär darauf ab, die Staaten zwischen Polen beziehungsweise dem Westen einerseits und Russland andererseits in ihrer Staatlichkeit zu stärken und perspektivisch zu europäisieren. Ein Großteil des polnischen Engagements richtet sich dabei auf die Ukraine, die ein Grundpfeiler des geopolitischen Arrangements in Osteuropa ist. Polen agiert dabei nach dem Motto, dass Russland ohne die Ukraine kein eurasisches Imperium sei.
Insgesamt hat Polen stets daran gearbeitet, eine Ostpolitik umzusetzen, die der russischen Herausforderung durch Kooperationsvertiefung mit Partnern aus der Region begegnet. Dieser in Anlehnung an die multinationale polnisch-litauische Adelsrepublik (1569–1795), die Rzeczpospolita, auch als "jagiellonisch" bezeichnete Ansatz setzt auf das Zusammenwirken mit Ländern wie der Ukraine oder Belarus: jetzt aber partnerschaftlich und nicht im gemeinsamen Staatsverbund – und natürlich weit über die Grenzen der alten Republik hinausgreifend.
Polen sucht daher langfristig eine Neuordnung des strategischen Tableaus im Ostteil des Kontinents. Nach den Erweiterungsrunden von EU und NATO nach Mittel- und Südosteuropa möchte es eine veritable Rekonstruktion des Ostens. Der Beitritt zur EU öffnete Polen hierbei neue Möglichkeiten, denn der alte polnische Missionismus etwa gegenüber der Ukraine konnte nun auf die Unionsebene "hochgeladen" werden: Nicht von ungefähr war es Polen, das (zusammen mit Schweden) 2009 die Östliche Partnerschaft (ÖP) lancierte, ein Kooperationskonzept zur Dynamisierung der Beziehungen zu den östlichen Nachbarn der EU innerhalb der Europäischen Nachbarschaftspolitik. Auch wenn sich Polen nicht in allen Punkten durchsetzen konnte und in der Kompromissmaschine EU Vorschläge aus Warschau – wie etwa der einer langfristigen Beitrittsperspektive für Länder wie die Ukraine – keinen Widerhall fanden, trug Polens Eintreten für Osteuropa und den Südkaukasus dazu bei, diese Regionen auf der mentalen und politischen Landkarte der EU-Außenpolitik zu platzieren.
Die Ukraine-Krise ab 2014 und die Annexion der Krim durch Russland bekräftigten Polen in seinem pessimistischen Urteil. Polnische Politiker und Fachleute hatten immer wieder vor russischer Destabilisierung im ehemals sowjetischen Herrschaftsbereich gewarnt. Sie sahen sich nun bestätigt und forderten neben mehr Anstrengungen der NATO auch eine härtere Gangart der EU gegenüber Russland. Dass gerade Deutschland, dem man immer naives Russlandverstehertum unterstellt hatte, eine konsequente Sanktionspolitik in der EU durchsetzte und kein russisches Mitspracherecht über die außenpolitische Orientierung der Ukraine akzeptierte, war für viele polnische Beobachter eine positive Überraschung. Gleichwohl blieben Zweifel. Nachdem Polen auf dem Höhepunkt der Maidan-Proteste zusammen mit Frankreich und Deutschland eine wichtige Vermittlungsleistung erbracht hatte, fiel es aus den weiteren Gesprächen über die Regulierung des Konfliktes heraus: "Normandie statt Weimar" löste in Warschau vielfach Enttäuschung aus, fühlte man sich nun von Berlin ignoriert.
Auch das geplante Gaspipelinesystem "Nord Stream 2" durch die Ostsee, das von westlichen, darunter auch deutschen Firmen mit der russischen Gazprom verwirklicht werden soll, erweckt Misstrauen in Polen. Viele polnische Beobachter sehen in diesem Vorhaben ein Leuchtturmprojekt, das nicht nur der Ukraine schade – da diese als Transitland überflüssig werden könnte –, sondern auch Polen, weil es neue Wechselseitigkeit zwischen Deutschland und Russland mit sich bringe.
Polen und die NATO: "Zurück zu den Wurzeln"
Als Polen 1999 Mitglied der NATO wurde, war dies für das Land eine sicherheitspolitische Zeitenwende. Mit den Sicherheitsgarantien des mächtigsten Verteidigungsbündnisses im Rücken schien Polen seiner geopolitischen Zangenlage endlich entkommen zu sein. Nicht nur war man nun mit Deutschland in derselben Allianz, vor allem hatte man sich aus einem möglichen strategischen Niemandsland zwischen der NATO und Russland herausbewegt. Der sicherheitspolitische Quantensprung aber resultierte aus dem Schutzversprechen des US-amerikanischen Bündnispartners mit seinem mächtigen militärischen Arsenal, seinem immer wieder bekräftigten und aus polnischer Sicht historisch verbrieften politischen Engagements für das östliche Europa und dessen Freiheit.
Trotzdem verbreitete sich in den Folgejahren ein Unbehagen. Spätestens nach dem 11. September 2001 veränderte sich der Betriebsmodus der NATO rapide. Nicht zuletzt auf Drängen der USA transformierte sich das Bündnis und bewegte sich hin zu einer fast schon weltweit agierenden Organisation zur Bekämpfung von Terrorismus und Tyranneien. Warschau widerstrebte diese Entwicklung, zog sie doch Aufmerksamkeit von den Bedrohungsszenarien ab, um die es Polen ging – nämlich um Russland und die Situation im weiteren Osteuropa. Polen blieb in dieser Situation nichts anderes übrig, als den Wünschen der USA zu entsprechen. Angesichts der amerikanischen Ansage "out of area or out of business" befand sich Polen in einer geradezu dialektischen Situation: Um für Washington ein loyaler Partner zu bleiben, musste Warschau den Umbau der NATO, den man so eigentlich nicht wollte, aktiv unterstützen. Zu den Flaggschiffmissionen gehörte auch für Polen die Entsendung beachtlicher militärischer Kontingente nach Afghanistan.
Entsprechend regte sich in Polen auch Widerstand. Die "klassische NATO" sollte nicht über den Haufen geworfen werden; aus polnischer Sicht galt es, eine Balance zwischen althergebrachter Territorialverteidigung und Stabilisierungsaufgaben jenseits des Bündnisgebietes zu finden. Warschau war zwar bereit, sich an peace keeping und ähnlichen Maßnahmen intensiv zu beteiligen, betonte aber, dass man dazu nur in der Lage sei, wenn gewiss sei, dass Artikel 5 des Nordatlantikvertrags, der Bündnissolidarität und Kollektivverteidigung in Aussicht stellt, auch weiter in Kraft bleibe.
Doch der Ruf nach einer Rückkehr zu den Wurzeln der NATO wurde im Grunde erst nach Ausbruch der Ukraine-Krise erhört. Erst jetzt war die Akzeptanz unter den Verbündeten groß genug, dass den Forderungen Polens und anderer NATO-Länder Geltung verschafft wurde.
Für Polen sind die Beschlüsse von Newport und Warschau zur Stärkung der NATO-"Ostflanke" aber trotzdem nur ein wichtiger Zwischenschritt. Polen wird es künftig darum gehen, seine militärische Verwundbarkeit weiter zu reduzieren.
Anker Amerika
Zweifellos bildet die strategische Verkettung mit den Vereinigten Staaten das Rückgrat der polnischen Sicherheitspolitik. Polen wertschätzt die Bedeutung seiner europäischen Partner, empfand diese historisch aber immer wieder als unsichere Kantonisten. Gerade mit Blick auf Russland werden die USA mit ihrem Drohpotenzial daher als einziger effektiver Sicherheitsanker erachtet. Polen hat deswegen immer ein Interesse daran, die USA als Akteur der europäischen Sicherheitspolitik und als Akteur in Europa zu stärken sowie die Attraktivität der NATO für Washington aufrechtzuerhalten. Die spätestens mit der Präsidentschaft Barack Obamas deklarierte außenpolitische Hinwendung der USA nach Asien wurde in Polen ebenso besorgt verfolgt wie Präsident Donald Trumps anfängliche Infragestellungen der NATO. Eine grundlegende Ernüchterung über die USA ist infolgedessen aber keineswegs eingetreten. Nach wie vor gelten die USA in puncto Rückversicherung als Polens indispensable partner.
Die polnische Antwort auf US-Unilateralismus und Allianzzweifel ist deswegen keine Europäisierung der eigenen Sicherheitspolitik, sondern – ungeachtet der offiziell weiterverfolgten euroatlantischen Linie – die Stärkung eines polnisch-amerikanischen Bilateralismus. Schon Warschaus Schulterschluss mit der Bush-Administration im Irak-Krieg 2003 war aus polnischer Sicht eine "Investition in Reziprozität".
EU als Sicherheitsverbund
De facto verfolgt Polen eine dreigleisige Politik des Euroatlantizismus: mit der NATO als wichtigstem multilateralen Sicherheitsbündnis, mit den USA als effektiver Garantiemacht und mit der EU als aufsteigendem Sicherheitsakteur. Hielt man die EU in Polen in den 1990er Jahren primär für einen Wohlstandslieferanten, wandelte sich die Einstellung mit der eigenen EU-Mitgliedschaft rasch. Man erkannte, dass Polen über die EU-Außenpolitik eigene Interessen "hebeln" kann – insbesondere in der Ostpolitik. Auch sah man, dass die Fortentwicklung der europäischen Energiepolitik Polen nützliche Instrumente zur Verbesserung seiner Versorgungspolitik in die Hand gab. Gegenüber der sicherheitspolitischen Dimension der europäischen Integration gab es indes lange Vorbehalte in Polen. Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU (GSVP, vormals ESVP) wurde als Werkzeug vornehmlich französischer und anderer "Europäisten" betrachtet, die auf die Entkopplung Europas von den USA hinarbeiteten.
Nach und nach öffnete sich Polen aber auch für die ESVP/GSVP, in die man sich seinem Selbstverständnis nach als ambitionierte Regionalmacht einbrachte. Die Sicherheitszusammenarbeit auf der europäischen Ebene steht für Warschau jedoch stets unter dem Vorbehalt eines klaren Bekenntnisses zur transatlantischen Bindung: Die GSVP darf demnach keinesfalls dazu dienen, einen Keil zwischen Europa und die USA zu treiben. Angesichts des bevorstehenden Austritts des Vereinigten Königreiches aus der EU und der in einigen europäischen Hauptstädten lauter werdenden Rufe nach größerer "strategischer Autonomie" von Trumps USA zeigt sich die polnische Außenpolitik unter der ohnedies stark US-affinen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zuletzt wieder reservierter gegenüber der GSVP. Beim jüngsten Anlauf zur einschlägigen Kooperationsverdichtung in Europa, der sogenannten Permanenten Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) zauderte Warschau zunächst.
PiS-Effekt in der Außenpolitik?
Während über wesentliche Komponenten der außen- und sicherheitspolitischen Ausrichtung in Polen lange Zeit ein parteiübergreifender Konsens bestand, haben sich seit 2015 beträchtliche Neuerungen ergeben. Mit den Erfolgen der PiS bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen jenes Jahres rückte das Land zumindest in einigen außenpolitisch bedeutsamen Bereichen von der Politik der Vorgängerregierungen ab. Die souveränistische Europapolitik der PiS stellt sich dem Paradigma einer "immer engeren Union" entgegen und strebt eine polyzentrische EU an, in der die Mitgliedsstaaten extensive Hoheitssphären wahren oder zurückerhalten sollen. Statt einer besonders intensiven Partnerschaft mit Deutschland und des versuchten Andockens an das deutsch-französische Tandem – etwa im Rahmen des sogenannten Weimarer Dreiecks – wird Berlin und Paris mit Argwohn begegnet.
Das Misstrauen Warschaus wird dabei insbesondere aus zwei Quellen gespeist: zum einen aus der Furcht vor einer deutsch-russischen Verständigung oder gar einem regelrechten deutsch-russischen "Kondominium" zu Lasten Polens, zum anderen aus der Einschätzung, dass nach Frankreich nun auch Deutschland zunehmend US-kritisch werde und sich langfristig von den Vereinigten Staaten abkoppeln wolle. Deutschland wird deswegen ambivalent wahrgenommen – nach wie vor als Partner, aber auch als Rivale. Die Konsequenz, die daraus gezogen wird, besteht in einer Kombination aus Eindämmungspolitik und Diversifizierung: Deutschlands vermeintliche Suprematie in Europa soll eingehegt und durch neue Partnerschaften austariert werden.
So soll etwa die Zusammenarbeit mit Großbritannien ausgebaut werden. Zwar machte das Brexit-Votum ambitionierte Vorstellungen zunichte, denen zufolge das Vereinigte Königreich der vorrangige Partner Polens in der EU sein sollte, gleichwohl wurden mit Großbritannien substanzielle bilaterale Vereinbarungen getroffen, allen voran Ende 2017 ein Vertrag über Sicherheits- und Verteidigungszusammenarbeit.
Viel Energie wird auch in die Zusammenarbeit mit Partnern aus Mitteleuropa und generell dem östlichen Teil der EU investiert. Dies soll eine informelle Führungsrolle Polens in der Region unterstreichen. Ein Forum dafür ist die sogenannte Visegrád-Gruppe, der außer Polen noch die Tschechische Republik, die Slowakei und Ungarn angehören. Zwar konnte die Staatengruppe in einigen europapolitischen Fragen, namentlich der Migrationspolitik, bereits Relevanz entwickeln und sich gegen die deutsche Politik positionieren, in puncto Sicherheitspolitik ist sie aber recht heterogen. Die pragmatische Zusammenarbeit der Tschechischen Republik, der Slowakei und Ungarns mit Russland sowie deren eher gedämpfter Enthusiasmus für die klassische polnische Ukrainepolitik zeugen von erheblichen strategischen Differenzen.
Ähnliches gilt für ein anderes vom gegenwärtigen polnischen Regierungslager vorangetriebenen Projekt, der "Dreimeeresinitiative" (3SI, Trimarium). Diese umfasst zwölf EU-Mitgliedsstaaten aus Mittel-, Nordost- und Südosteuropa. Das Projekt ist inspiriert von einer alten geopolitisch motivierten Konstruktion, dem "Intermarium", das die mittleren und kleineren Staaten zwischen Ostsee, Adria und Schwarzem Meer nach dem Ersten Weltkrieg zusammenbringen sollte, um eine Gegenmacht zu Berlin und Moskau aufzubauen. Nach offizieller Lesart ist die von Polen gemeinsam mit Kroatien angeschobene 3SI frei von Geopolitik und befasst sich nur mit praktischen Fragen wie Verkehrsverbindungen oder Energieinfrastruktur.
Die USA schließlich sind ein weiterer Baustein bei den polnischen Bemühungen, Deutschland auszubalancieren und Polen in Europa neu aufzustellen. Für die PiS sind die Vereinigten Staaten nicht nur Sicherheitsgarant und effektiver Bundesgenosse in der Russland- und Ostpolitik, sondern auch externer Partner mit dem eine special relationship aufgebaut werden soll, die Polens Gewicht in der EU erhöhen und Handlungsspielräume erweitern soll. Die PiS ist daher in viel stärkerem Maße als die liberalkonservativen Kräfte in Polen bereit, den polnisch-amerikanischen Sicherheitsbilateralismus unter Vernachlässigung der EU zu intensivieren.
Es wäre irreführend, auch die in den vergangenen Jahren intensivierten Beziehungen zu China (etwa im Rahmen der von der Volksrepublik ins Leben gerufenen "16+1-Initiative") in den Kontext der PiS-Europapolitik zu stellen. Gleichwohl verbindet sich mit der wachsenden Präsenz dieses großen äußeren Akteurs – abgesehen von angestrebten wirtschaftlichen Vorteilen – auch die Hoffnung auf mehr politischen Spielraum im Verhältnis zu europäischen Partnern.
Ausblick
Europas sicherheitspolitische Architektur und Polens Selbstverortung haben seit dem Beitritt Polens zu NATO und EU neue Ausgangsbedingungen erhalten. Geopolitisch gehört Polen nun zum Westen, Europas neue, umstrittene Mitte hat sich nach Osten verschoben. Polens strategisches Rollenprofil hat dieser Entwicklung Rechnung getragen, umfasst aber weiter Konstanten, die mit geografischer Lage, außenpolitischer Identität und einem spezifischen Erfahrungsschatz zu tun haben. So versteht sich Polen als Verfechterin eines eng gestrickten transatlantischen Beziehungsgeflechts, dessen Kern die Sicherheitspartnerschaft mit den USA im Rahmen der NATO ist. Vor diesem Hintergrund hat Polen die EU als attraktiven Sicherheitsrahmen entdeckt. Seine traditionell auf die harten Garantien der nuklearen Supermacht USA ausgerichtete Sekuritätspräferenz wurde aber ergänzt, denn das Land hat insbesondere den Mehrwert europäischer soft power in der östlichen Nachbarschaft und die Schlagkraft effektiver Regeln (etwa bei Auseinandersetzungen mit dem russischen Energieunternehmen Gazprom) zu schätzen gelernt.
Gleichzeitig ist Polen stets an einem soliden Engagement des Westens in Europas Osten interessiert. Hier konzentrieren sich Polens Befürchtungen und Risikoprojektionen. Zugleich konnte sich das Land hier aber auch schon als Aktivposten der europäischen Ostpolitik profilieren. Polen agierte dabei als Sachwalterin von Ländern wie der Ukraine in der EU und als Unterstützerin von Demokratie sowie von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Reformen. Die teils engere, teils losere Abstimmung mit Partnern aus dem östlichen Mitteleuropa ist für Polen zumindest indirekt immer auch als Kraftverstärkung gedacht: Auch wenn in der Praxis oftmals nicht viel daraus wurde, schwingt doch immer die Idee mit, dass ein um Polen gruppiertes mittel- und osteuropäisches Konglomerat von kleineren Ländern das Land im Optimalfall aber zur regionalen Führungsmacht macht.
Wie weit Polen hiermit kommt, wie sich also seine außenpolitische Prägekraft in NATO und EU entwickelt, hängt vor allem von drei Faktoren ab: von der Existenz funktionierender transatlantischer und europäischer Solidarstrukturen, also von einem effektiven und wertegeleiteten Westen; von Polens Position und Wirkmächtigkeit innerhalb dieser Organisationen; sowie von einer schlüssigen Konzeptualisierung der eigenen Interessen. In allen drei Bereichen haben die Unwägbarkeiten in den vergangenen Jahren zugenommen:
Erstens haben die Zerklüftungen und Ausdifferenzierungen in der EU, der drohende Ausstieg des Vereinigten Königreiches aus der Union, die Wahl Trumps zum US-Präsidenten und die sich schon länger abzeichnende globale Neuorientierung der Vereinigten Staaten gerade in Polen zu Nachdenklichkeit geführt.
Zweitens droht Polen durch seine Europapolitik seit 2015 mit immer neuen Verwicklungen im Verhältnis zu Brüssel, Berlin und Paris in der Union an den Rand des politischen Geschehens zu geraten. Debatten um den Zustand der Rechtsstaatlichkeit und eine mögliche Eröffnung eines Verfahrens aufgrund von Grundwerteverletzungen nach Artikel 7 des EU-Vertrages werden Polens Einfluss bei außen- und sicherheitspolitischen Fragen gewiss nicht zuträglich sein. Die alte polnische Devise etwa, der zufolge Polens Gestaltungsmöglichkeiten im Osten entscheidend von seiner Stellung im Westen abhängen, gilt nach wie vor.
Und drittens tun sich Unklarheiten bei der Formulierung einer konsistenten Außenpolitik auf. Polens Außen- und Sicherheitspolitik wird immer stärker von ideologischen und innenpolitischen Gesichtspunkten überlagert. Die wachsende Rehistorisierung etwa des Verhältnisses zur Ukraine ist ein charakteristischer Beleg für derlei Entwicklungen. So haben sich polnisch-ukrainische Differenzen etwa bei der Interpretation und Einordnung der Massaker durch ukrainische Nationalisten an der polnischen Bevölkerung, die während des Zweiten Weltkriegs in Wolhynien und anderen Regionen stattfanden, ins Zentrum der bilateralen Beziehungen geschoben. Geschichtspolitik droht die "strategische Partnerschaft" zwischen beiden Ländern in Mitleidenschaft zu ziehen. Ein anderes Beispiel für die außen- und sicherheitspolitische Brisanz historischer Fragen ist die Diskussion, die sich Anfang 2018 über die Neufassung des Gesetzes über das polnische Institut für Nationales Gedenken entzündete, durch das jegliche Behauptung einer Mitverantwortung der polnischen Nation oder des polnischen Staates unter anderem an Verbrechen im Zusammenhang mit der Shoah unterbunden werden soll.
Problematisch sind auch Anzeichen für das Aufbrechen außenpolitischer Konsensfelder. Das Regierungslager und die Opposition richten sich an deutlich abweichenden europapolitischen Leitbildern aus. In der Ostpolitik steht für einige Beobachter der auf die Ukraine orientierte und auf Demokratisierung zielende Ansatz der zurückliegenden 25 Jahre auf dem Prüfstand. Sicherheitspolitisch scheint der euroatlantische Konsens auseinanderzudriften – in Anhänger einer stärkeren Pro-USA-Ausrichtung und solche, die nach wie vor auch der EU eine wichtige Funktion für Polens in einem weiten Sinne verstandenen Sicherheit zuweisen, etwa bei der Energieversorgung.
Insgesamt steht Polen daher nicht nur vor der Herausforderung, seine Interessen in einem unsicheren Umfeld zu behaupten, sondern ebenso die Voraussetzungen seiner Strategiefähigkeit zu sichern. Nur dann wird es in der Lage sein, seine strategischen Ziele zu erreichen, nämlich den Osten zu rekonstruieren und den Westen zu konsolidieren.