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"Guter Wandel" zum "neuen Autoritarismus" – und wie weiter? | Polen | bpb.de

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"Guter Wandel" zum "neuen Autoritarismus" – und wie weiter?

Michał Sutowski

/ 9 Minuten zu lesen

Die Wählerschaft der PiS besteht keineswegs nur aus "Transformationsverlierern". Das programmatische Angebot der Partei – Abrechnung mit dem Establishment, nationale Gemeinschaft, Herrschaft über Schwächere – spricht Menschen aus allen Schichten an.

Zwei Jahre nach ihrer Wahl ist die Unterstützung der Polinnen und Polen für die Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) gleichbleibend hoch. Umfragen ergeben sogar regelmäßig, dass mittlerweile noch mehr Wählerinnen und Wähler für Jarosław Kaczyńskis politisches Lager stimmen würden als 2015 – und das, obwohl es inzwischen mehrere Protestwellen gegen die "Politik des guten Wandels" gegeben hat, etwa die Märsche des Komitees für die Verteidigung der Demokratie (KOD) gegen den Verfassungsbruch, den "schwarzen Protest" gegen die geplante Verschärfung der Abtreibungsgesetze oder die Demonstrationen gegen die Justizreform. Scharfe Kritik ist auch vonseiten einflussreicher liberaler Medien laut geworden, ebenso wie besorgte Stimmen aus der internationalen Gemeinschaft sowie aus verschiedenen EU-Institutionen zu vernehmen sind. Ist Polen derzeit also eine Demokratie der "schweigenden Mehrheit" gegen "Straße und Ausland"? Triumphiert die Stimme des "einfachen Menschen" über Ängste und Arroganz des Establishments?

Einer Umfrage des liberalen Nachrichtenmagazins "Polityka" vom Dezember 2017 zufolge würden zwar zahlreiche Befragte die PiS wählen, die Zustimmung ist jedoch deutlich geringer, wenn es um das Programm und bestimmte Maßnahmen der Regierung geht. Das betrifft unter anderem Fragen wie die Unabhängigkeit der Justiz, die Gültigkeit der Verfassung, das Recht zum Schwangerschaftsabbruch, die Rolle der katholischen Kirche im öffentlichen Leben oder die Verteilung von Kompetenzen zwischen der Zentralgewalt und den regionalen Selbstverwaltungen, außerdem Polens Verhältnis zur EU. Die sozialpolitischen Maßnahmen hingegen finden eindeutige Zustimmung.

Sind es also die großzügige Familienpolitik, die Senkung des Renteneintrittsalters oder die Anhebung des Mindestlohns, die der PiS die hohen Zustimmungswerte sichern? So jedenfalls lautet hä ufig die Diagnose regierungskritischer liberaler Kommentatoren: Die Menschen in Polen hätten sich für "500 Złoty pro Kind" (rund 120 Euro) kaufen lassen und ihre Freiheit gegen soziale Sicherheit eingetauscht. Interessanterweise sehen die Befürworter der Linken ganz ähnliche Gründe für die Unterstützung der PiS: Die Rechte habe die Stimmen der Ausgeschlossenen, der "Verlierer der Transformationszeit", deren persönliches Erleben im neoliberal dominierten öffentlichen Diskurs kaum beachtet worden sei, für sich eingeheimst.

Doch derlei Diagnosen greifen bestenfalls zu kurz, wenn sie nicht gar verfehlt sind. Mittlerweile weisen Untersuchungen die Sache als weitaus komplizierter aus. Zu den eingehendsten Analysen zählt die Studie "Guter Wandel in Miastko. Neoautoritarismus in der polnischen Politik aus Sicht einer Kleinstadt", die 2017 von einem Forschungsteam unter der Leitung des Soziologen Maciej Gdula erstellt wurde und deren Ergebnisse ich im Folgenden darlegen werde.

Partei für alle?

Die Verfasser der Studie haben anhand von biografischen und qualitativen Interviews die Wählerschaft einer kleinen, aber prosperierenden Provinzstadt in Masowien untersucht, in der die PiS bei den Wahlen 2015 fast 50 Prozent der Stimmen erlangte. Die Forscher sprachen dafür mit Vertretern der "Mittelklasse" (Personen, die im privaten oder öffentlichen Sektor geistige Arbeiten verrichten) und der "Volksklasse" (Personen, die körperliche Arbeiten und einfache Dienstleistungen erbringen). Beide Gruppen spielen eine wesentliche Rolle, ist doch die PiS nicht einfach eine Partei der ärmeren oder weniger gebildeten Menschen. So heißt es in der Studie: "Kaczyńskis Partei hatte in der Tat bei den Landwirten und Arbeitern die meisten Unterstützer, 53,3 Prozent beziehungsweise 46,8 Prozent. Man muss jedoch bedenken, dass in diesen Gruppen die Wahlbeteiligung gewöhnlich geringer ist als in anderen Bevölkerungsgruppen (…). Ohne die Unterstützung der Mittelklasse, also der Beschäftigten in Verwaltung und Dienstleistung, hätte die PiS niemals ein so hohes Ergebnis erzielt. Hier war ihr Vorsprung zwar nicht so überwältigend, dennoch erzielte sie mit 34,5 Prozent die meisten Stimmen. Die Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO, bis 2015 Regierungspartei, Anm. d. Red.) gewann nur bei einer der Gruppen, die in der Umfrage unterschieden werden: bei den Direktoren und leitenden Angestellten (…). Auch bei Firmenbesitzern lag die PiS mit einem Ergebnis von 29,1 Prozent ganz vorn, ebenso bei Wählern mit höherem Bildungsniveau – dort kam sie auf 30,4 Prozent."

Wie vielfältig die Wählerschaft der PiS ist, beweisen demnach die Daten vom Wahltag selbst; die Untersuchung des Teams um Gdula zeigt jedoch, was die Wähler wirklich zu Kaczyńskis Partei hinzieht. Die verschiedenen Gesellschaftsgruppen scheinen die PiS aus unterschiedlichen Gründen zu unterstützen, und hinter ihrer politischen Identifikation stehen ebenso unterschiedliche, nicht zwangsläufig mit persönlicher Lebenserfahrung oder greifbaren materiellen Interessen zusammenhängende Argumente. Die Verfasser der Studie zeigen nämlich auf, dass die Unterstützung für die PiS wesentlich "aus der Befriedigung resultiert, Teil des politischen Dramas zu sein, das vom Parteiführer inszeniert wird". Der Regisseur jenes Dramas – Jarosław Kaczyński als unbestrittener Kopf des Regierungslagers – sieht sich und seine Anhänger dabei in verschiedenen Rollen: als "Opfer" der Dritten Polnischen Republik, als stolze Mitglieder einer nach innen solidarischen nationalen Gemeinschaft sowie als Menschen, die nach Macht und Kontrolle streben. Die Rollen in diesem Schauspiel entsprechen den drei Grundpfeilern des politischen Programms der PiS, die den verschiedenen Wählergruppen eine Identifikation mit Kaczyńskis Projekt erlauben: erstens das Versprechen einer "Abrechnung mit den Eliten", die mit dem kulturellen und politischen Establishment der Dritten Republik gleichgesetzt werden, zweitens die Perspektive einer Einbindung in eine nationale Gemeinschaft, die andere Ambitionen und eine andere Ästhetik als die der "Mittelklasse" berücksichtigt, und drittens schließlich die Aussicht auf eine moralisch legitimierte Herrschaft über Schwächere.

Der Glaube, die neue Regierung werde mit den entfremdeten Eliten abrechnen, entspricht gewissermaßen dem Stereotyp des PiS-Wählers als Revanchisten, der sich für eingebildetes oder tatsächlich widerfahrenes Unrecht rächen will. Hier gilt es jedoch zu bedenken, dass sehr viele Polinnen und Polen – auch solche, die nicht die PiS gewählt haben – das bisherige Establishment äußerst negativ beurteilen und den Angriff auf die etablierten Eliten als Wiederherstellung der moralischen Ordnung und der Gerechtigkeit im Staat ansehen. Daher kommt es auch, dass ein Teil der Wählerschaft die Einhegung des Verfassungsgerichts und die Kontrolle der Gerichte durch die Exekutive befürwortet. Es ist jedoch wichtig, hierbei gewisse Unterschiede zu beachten: Während in der "Volksklasse" die Wahrnehmung dominiert, die Eliten der Dritten Republik, insbesondere die ehemaligen Regierungsmitglieder, hätten nichts mit dem Durchschnittsbürger gemeinsam und ihre Versprechen nicht gehalten, so zielen die Vorwürfe aus der "Mittelklasse" hauptsächlich auf die korrupten und unmoralischen Praktiken dieser Eliten.

Das zweite Element des politischen Programms der PiS ist die – auf ihre Art inklusive – Vision einer nationalen polnischen Gemeinschaft, die gerade den Angehörigen der "Volksklasse" das Gefühl gibt, zur Gruppe der "normalen Menschen" zu gehören. Man braucht kein Studium mehr abzuschließen, keinen Wohnungskredit mehr aufzunehmen und sich nicht mehr "den europäischen Werten" verbunden zu erklären, um vollwertiges Mitglied des polnischen Gemeinwesens zu sein – genau so nämlich empfanden viele Polen die von der Vorgängerregierung vorgebrachte Definition ihres Volkes. Über alle Schichten hinweg sollen nun nationale Symbole, Glaube und Stolz auf die eigene Geschichte die Menschen in Polen verbinden – und sie zugleich von "den Eliten", "der Pathologie" und "den Fremden" abgrenzen. In der Erzählung der PiS und ihrer Wähler ist "das Volk" eine Solidargemeinschaft, in der Eltern, die die Last der Kindererziehung tragen, besonders zu unterstützen sind. Daher rührt auch die überwältigende Unterstützung für das vieldiskutierte Programm "Rodzina 500+" ("Familie 500+"), einer Entsprechung des deutschen Kindergeldes. Nach Ansicht der "Mittelklasse" ist dieses Programm "zivilisatorischer Standard" – für die "Volksklasse" dagegen ist es Ausdruck sozialer Gerechtigkeit.

In dieser Erzählung von einer exklusiven, auf die nationale Gemeinschaft beschränkten Solidarität gehören die früheren Eliten nicht mehr dazu; sie seien entfremdet und hätten häufig fremden Interessen gedient. Gleiches gilt für die sogenannte Pathologie der Gesellschaft – Menschen, die sich nicht an soziale Normen halten, wie etwa Straftäter oder Familien mit Alkoholproblemen – sowie für alle Fremden, zum Beispiel Flüchtlinge.

Mit dem Thema "Flüchtlinge", das 2015 ein wichtiges Wahlkampfthema war, sind wir beim dritten Element des politischen Programms der PiS angelangt: Es geht um ein Machtgefühl, das in den Wählern hervorgerufen wird und sich gegen schwächere Gruppen richtet, die zugleich als moralisch minderwertig betrachtet werden. Hinsichtlich der Aufnahme von Flüchtlingen herrscht beim Großteil der polnischen Gesellschaft Skepsis vor. Von Angehörigen der "Volksklasse" werden diesbezüglich vor allem "praktische" Argumente angeführt – etwa die Kosten für die Hilfsleistungen und befürchtete Gefahren, zum Beispiel durch Terrorismus. Gleichzeitig wird die schwierige Situation der Kriegsflüchtlinge anerkannt, denen aber besser "vor Ort" Hilfe zu leisten sei. Die von Gdula und seinem Team befragten PiS-Anhänger aus der "Mittelklasse" hingegen nehmen Flüchtlinge häufig als "faule Wirtschaftsmigranten" wahr. Auch empfinden sie vielfach Verachtung gegenüber den Männern aus Nahost und werfen ihnen vor, ihre Familien aus Feigheit in Not zurückgelassen zu haben, statt sie aktiv im bewaffneten Kampf im eigenen Land zu verteidigen. Auf diese Art werden Flüchtlinge nicht nur aus der Solidargemeinschaft ausgeschlossen, sondern auch als moralisch minderwertige Gruppe markiert, womit sie der "Pathologie der Gesellschaft" sowie den "vom Futtertrog verdrängten" Eliten des Ancien Régime der Dritten Republik zugeordnet werden.

Perspektiven

Wie soll das Projekt bezeichnet werden, das sich aus Kaczyńskis Drama herauskristallisiert? Gdula nennt es "neuen Autoritarismus" – neu, weil es sich, anders als traditionelle Diktaturen, auf die demokratische Praxis, also den Wahlwettbewerb, und auf eine demokratische Imagination beruft: Die Stimme des Volkes als Souverän verleiht der Regierung das Mandat, uneingeschränkt über die Verfassung zu herrschen. "Gerechtigkeit" als Ausdruck des Volkswillens steht somit über dem Recht. Zugleich, und deshalb handelt es sich eben um Autoritarismus, liegt die Essenz dieses Projekts in einer strikt auf die eigene nationale Gemeinschaft verengte Solidarität und in der Dominanz gegenüber Schwächeren, Minderheiten und Fremden.

Gibt es eine Partei, die es bei den nächsten Wahlen mit der PiS aufnehmen könnte? Die Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre – die Form der gelungenen Proteste und die Umfrageergebnisse – zeigen, dass die Polen keine Restaurierung der früheren Dritten Republik wollen, da die mit ihr verbundenen Parteien die Hegemonie der PiS nicht bedrohen können. Ebenso wenig Perspektive bietet die Vision einer "soften Version" der PiS, also einer konservativen und wirtschaftlich "pragmatischen" Partei, die der europäischen Politik weniger konfrontativ gegenübersteht – wird diese Rolle doch von mancher Fraktion innerhalb der PiS selbst gespielt, manchmal auch von Präsident Andrzej Duda. Eine systembezogene Kritik an der PiS ("Verteidigung der Demokratie") vonseiten der alten meinungsbildenden Milieus überzeugt neue Wählergruppen nicht. Und schließlich ist eine gelungene Mobilisierung der Gesellschaft auf der Straße kein Ersatz dafür, dass eine Alternative in Form einer Partei oder einer Wahlbewegung geschaffen werden müsste.

Kaczyńskis Partei hat auch eher gemäßigte Wähler angezogen, da sie sich weniger an "Transformationsverlierer" oder Ausgeschlossene wandte, als dass sie auf die generell gestiegenen Ambitionen der Bevölkerung reagierte. Das Jahrzehnt nach Polens EU-Beitritt war eine Zeit der Modernisierung, in deren Zuge der allgemeine Lebensstandard, aber auch die Erwartungen und Hoffnungen wuchsen. Entsprechend begannen die Menschen in Polen, mehr Leistungen von ihrem Staat zu erwarten, der mit dieser Entwicklung allerdings nicht Schritt halten konnte. Genau daran knüpft Kaczyńskis polnisches "Yes, we can!" an. Der Staat soll wirkende Kraft beweisen und seinen Bürgern nicht immer nur erklären, warum etwas nicht geht, was Polen sich nicht leisten und aus welchen Gründen die Regierung ihre Versprechen nicht halten kann. Radikaler Ausdruck davon ist der Glaube an ein uneingeschränktes Mandat der parlamentarischen Mehrheit, das durch keinerlei Verfassungsnorm begrenzt sein sollte. Diesen Glauben allerdings teilen die wenigsten Polen.

Die Untersuchung von Gdula und seinem Team enthält kein Rezept für eine Veränderung der politischen Situation. Der Autor stellt sich der Herausforderung aber in seinem jüngst erschienenen Buch "Der neue Autoritarismus". Als notwendige Bedingung für eine neue Öffnung in der Politik nennt er, dass die Opposition einen Kandidaten aufstellt, der fähig ist, den Polen ein alternatives "politisches Drama" zu dem von Kaczyński anzubieten. Dieses müsse sich auf eine neue Vision vom "guten Leben" beziehen, eine andere Antwort auf die wachsenden Ambitionen der Polen bieten, um auch diejenigen Wähler zu mobilisieren, die der gesamten politischen Klasse ablehnend gegenüberstehen. Weiter nennt Gdula mehrere thematische Felder, auf denen sich das politische Gefecht um die Zukunft Polens abspielen wird: den Platz der Polen im zukünftigen Europa, den Wert von Pluralismus in der Gemeinschaft, die Grenzen der Solidarität (auch im Kontext der Flüchtlingspolitik) sowie schließlich die Frage der Frauenrechte und die Frage nach einer Gesellschaftsethik, in der sich Gleichberechtigung mit sozialer Sicherheit verbindet. Die thematische Auswahl legt es zwar nahe, doch eine politische Alternative zur PiS muss nicht zwangsläufig linksorientiert sein. Die Diagnose liegt auf der Straße, die Rezepte kristallisieren sich heraus. Die Therapie jedoch ist nicht Sache der Soziologen, sondern der politischen Entscheidungsträger.

Übersetzung aus dem Polnischen: Lisa Palmes, Berlin.

ist Politikwissenschaftler und Publizist sowie Autor und Redakteur der Zeitschrift "Krytyka Polityczna" in Warschau. E-Mail Link: michal.sutowski@krytykapolityczna.pl