I. Schwierigkeiten der Aufklärung
Die berühmteste Definition der europäischen Aufklärung hat 1784 Kant formuliert: Aufklärung als Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!"
In der moderaten Variante hat die Postmoderne ohne Frage auch der Zeitgeschichte wichtige neue Impulse geliefert. Der Erwartung wissenschaftlicher Objektivierbarkeit wird hier bewusst die Vielfalt divergierender Geschichten und Erfahrungen gegenübergestellt. Damit werden neue Dimensionen in die Forschung einbezogen, die früher kaum ins Blickfeld kamen. Das jetzt auch in Deutschland eindrucksvoll dokumentierte Konzept der "Erinnerungsorte" - der Formen diffuser, aber wirksamer kollektiver Erinnerungen an Personen, Sachen und schlagwortartig kondensierte Zusammenhänge - ist ein Beispiel für die Ergiebigkeit neuer Fragestellungen, die freilich weit über die Zeitgeschichte hinausgreifen.
Auch wer große Vorbehalte gegen manche überspannten postmodernen Zugänge zu historischen Themen hat, wird vor allem eine wichtige Errungenschaft nicht leugnen: die prinzipielle Skepsis gegen universale Theorien und ihre umfassenden Erklärungs- und Deutungsansprüche. Der Glaube an die Brüchigkeit der Moderne und des Fortschritts ist nicht mehr nur Teil konservativer Kulturkritik, sondern auch konstitutiv für die Postmoderne. Andererseits erschweren solche berechtigten Zweifel aber die auf den ersten Blick so selbstverständlich erscheinende Unterscheidung von Wahrheit und Lüge. Darauf zielt vermutlich der hintersinnige und von der Kommunismuserfahrung eines ungarischen Autors geprägte erste Satz aus dem hochgelobten Roman von Peter Esterhazy "Harmonia Caelestis": "Es ist elend schwer zu lügen, wenn man die Wahrheit nicht kennt."
Postmoderne Skepsis erschütterte lange vor dem Epochenbruch von 1989/90 den Glauben an die Möglichkeit der Objektivität der historischen Wissenschaften. Die Forderung nach Objektivität und Aufklärung, die wissenschaftlichen Regularien folgt, ist damit jedoch keineswegs obsolet geworden. Im Gegenteil: Die dramatische Aktualität einer scheinbar einfachen Maximen verpflichteten Aufklärung wird nicht zuletzt beim Blick auf die Geschichte der Diktaturen des 20. Jahrhunderts sichtbar. Der friedlich und in unspektakulärer Hartnäckigkeit verfolgte Kampfruf der osteuropäischen Dissidenten vom "Leben in Wahrheit" ist dafür ebenso ein eindrucksvolles Beispiel wie das verzweifelte und vergebliche Bemühen von Widerstandsgruppen im "Dritten Reich", den Goebbels'schen Lügengespinsten wahre Informationen entgegenzusetzen und so das verblendete Volk von seinem Führer zu trennen oder zumindest der Welt zu signalisieren, dass es noch ein "anderes Deutschland" gab. Eine deutsch-polnische Ausstellung in Kreisau, heute Krzyzowa, trug daher nicht zufällig den Titel "In der Wahrheit leben" und wollte damit den Bogen von einer Widerstandsgruppe des 20. Juli 1944 - dem "Kreisauer Kreis" - zu den osteuropäischen Bürgerrechtsbewegungen schlagen.
In einem essayistischen Rückblick auf Brüche und Zäsuren in Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert hat Wolfgang Eichwede die Bürgerrechtler als "Kinder der Aufklärung" charakterisiert, die Europas Freiheitsgeschichte fortgesetzt haben und die Verwirklichung der Zivilgesellschaft, die ihnen vorenthalten wurde, auf ihre Fahnen schrieben. Dies ist in der Tat eines der faszinierendsten Kapitel der von Gewalt und Brutalität in nie gekanntem Ausmaß geprägten Geschichte des 20. Jahrhunderts. "Wenn irgendwo in dem geteilten Europa Keimformen der ,civil society' existiert haben," so Eichwede, "dann waren es die diskutierenden Dissidentenzirkel in Prag oder Leningrad, in Krakau oder Budapest. In ihrem Vertrauen auf die Öffentlichkeit und die Kraft des Beispiels, der Einsicht und des Arguments waren sie ganz und gar Kinder der europäischen Aufklärung. Interessenanalysen und Machtkalküle waren nicht ihre Sache."
Aber auch westliche Demokratien, die sich dem Ideal der Zivilgesellschaft und der ständigen Einmischung in öffentliche Belange verpflichtet fühlen, sind in keiner Weise gegen die Manipulation der Regierenden und die suggestive Verführung selektiver, politisch passfähig gemachter Erinnerungen gefeit. Die erdrückende Konkurrenz einer auf Spektakuläres oder leicht Verdauliches ausgerichteten Informationsstrategie vieler Massenmedien macht daher zeithistorische Aufklärung zu einem mühsamen Unternehmen. Nicht mehr die Freiheit der Information ist das Problem, sondern Gehör für diese in der Öffentlichkeit zu finden, sobald es nicht mehr nur um punktuelle Neuigkeiten oder sensationelle Enthüllungen geht, sondern um komplexere Zusammenhänge und differenzierte Urteile. Wer die emotionalen Stellungnahmen zur Eröffnung des Speziallagermuseums in Sachsenhausen verfolgt hat
Auch in der Geschichte der Zunft selber gibt es noch mancherlei Minenfelder. Die auf dem Historikertag in Frankfurt 1998 vehement geführte Debatte um "Ostforscher" und braune Ursprünge westdeutscher Sozialhistoriker, die jahrzehntelang überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wurden, ist ein Beispiel für fatale Formen der prinzipiell unvermeidlichen und auch wünschenswerten Nähe von historischer Wissenschaft und Politik sowie für die enormen Schwierigkeiten ihrer nachträglichen Aufarbeitung in politischen Konstellationen, die für eine solche Aufarbeitung wenig geeignet sind.
Diese beliebig zu vermehrenden Beispiele zeigen, wie stark die öffentliche Resonanz wissenschaftlicher Forschung von Konjunkturen der gesellschaftlichen und politischen Großwetterlage abhängig ist, wie sehr Zeithistoriker als Wissenschaftler und Zeitzeugen - die sie ja auch noch oft selbst sind - in der Auswahl ihrer Themen von solchen Konjunkturen mitbestimmt werden und in welchem Ausmaß Publikationen interessengeleitet sein können. Alle Beispiele unterstreichen aber gerade deswegen auch, wie notwendig die scheinbar so selbstverständliche Aufklärung durch professionelle Forschung ist und bleibt. Sie ist auch für andere Epochen bedeutsam, aber doch ungleich mehr für die Zeitgeschichte, die nach der Formulierung von Barbara Tuchman "noch qualmt", sodass die klare Sicht häufig verstellt wird, Folgen und Wirkungen nur mühsam erkennbar werden, weil die Beobachter noch zu nahe an den Ereignissen sind.
II. Zeitgeschichte als Wissenschaftsdisziplin
Als in den frühen fünfziger Jahren die Zeitgeschichte in Deutschland als historische Teildisziplin begründet wurde, war diese persönliche und zugleich politische Konstellation prinzipiell nicht anders. Gegen unverblümte Rechtfertigungsprodukte ehemaliger NS-Funktionäre und hoher Militärs, gegen eine dominante Erinnerung, welche die Deutschen eher zu Opfern denn zu Tätern stilisierte oder alle Verantwortung auf eine kleine Verbrecherclique schob, sowie gegen eine als dramatisch wahrgenommene bolschewistische Bedrohung aus dem Osten mussten elementare historische Einsichten über den Nationalsozialismus, seine Ursprünge, seine gigantischen Verbrechen sowie über Zusammenhänge von Ursachen und Folgen durchgesetzt werden. Das ist - verfolgt man exemplarisch die Geschichte des Instituts für Zeitgeschichte und seiner Zeitschrift - in beachtlichem Ausmaß versucht worden, aber erst mit erheblicher zeitlicher Verspätung gelungen. Dass der Antisemitismus-Streit vor der letzten Bundestagswahl in Formen verlaufen ist, die im Hinblick auf ihre schwache Resonanz in der Weimarer Republik kaum denkbar gewesen wären, die plumpen Versuche politischer Instrumentalisierung spontanen und massiven Widerspruch ausgelöst haben, belegt die tief greifende Veränderung unserer heutigen politischen Kultur.
Das Problem der fehlenden Distanz hat die Zeitgeschichte seit ihren Anfängen begleitet. Hans Rothfels definierte sie in seinem programmatischen Aufsatz von 1953 in einer doppelten Dimension als Zeitphase und spezifischen Inhalt: als Epoche der Mitlebenden und ihre wissenschaftliche Behandlung sowie als "ein Zeitalter krisenhafter Erschütterung und einer eben darin sehr wesentlich begründeten universalen Konstellation". Gerade angesichts der emotionsgeladenen Nähe und Betroffenheit forderte er nachdrücklich "größtmögliche Objektivität im Erfassen der Tatsachen . . ., aber keineswegs Neutralität gegenüber Traditionen und Prinzipien europäischer Gesittung"
Die spezifische Zeitgebundenheit dieser Definition ist uns seit langem bewusst, und sie erscheint heute insbesondere hinsichtlich der Eingrenzung auf den Zeitraum nur bis 1945 unhaltbar. Zeitgeschichte als "historia sui temporis" muss per definitionem gleitende zeitliche Zäsuren haben. Das umschließt zwar mehrere Generationen, erlaubt aber nicht dauerhaft einen inhaltlich begründeten Fixpunkt - wie etwa den von 1917 - festzulegen. Eberhard Jäckel, Reinhard Koselleck, Anselm Doering-Manteuffel, Hans Günter Hockerts und viele andere haben diese Feststellung in ihre Überlegungen einbezogen.
Inhaltlich war und blieb deutsche Zeitgeschichte trotz der seit 1990 überschäumenden Konjunktur der DDR-Forschung schwerpunktmäßig und in den großen Kontroversen auf den Nationalsozialismus ausgerichtet. Das hat gute Gründe, denn die zwölf Jahre des "Tausendjährigen Reiches" waren weit mehr als nur deutsche Geschichte, sie waren auch eine der wichtigsten und schlimmsten Phasen der europäischen, ja der Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. In dieser Relation erscheint die DDR tatsächlich nur als eine Fußnote, wie Stefan Heym nach der "Wende" ironisch fragend angemerkt hat.
Die unübersehbare Fixierung auf die deutsche Geschichte hat nach dem Ende des Ost-West-Konflikts aber auch zu berechtigten Einwänden geführt, ob dadurch nicht ganz andere und möglicherweise wichtigere Themen wie die Entkolonialisierung, das Wiederaufleben alter Konfliktlinien des 19. Jahrhunderts oder die Geschichte der westeuropäischen Integration notorisch vernachlässigt worden seien - so Hans Peter Schwarz in seinen "Fragen an die Geschichte des 20. Jahrhunderts"
Die starke Konzentration auf deutsche Geschichte hat noch einen anderen, auch politisch bedeutsamen Aspekt. Für die Erforschung der DDR-Geschichte lag anfangs die vorrangige Beschäftigung mit Tätern und Opfern der Diktatur nahe. Darüber hinaus aber steht heute die ganze deutsche Nachkriegsgeschichte zur Debatte. Ihr westdeutscher Teil gehört dazu. Wir wissen jetzt deutlicher als früher, wie eng beide Teile trotz staatlicher Trennung verflochten waren. Der wechselseitige Bezug war zu allen Zeiten asymmetrisch. Sowohl für die Machtelite wie für die Bevölkerung der DDR bildete die Bundesrepublik stets die Referenzgesellschaft, mit der man sich aggressiv auseinander setzte oder an der man sich insgeheim in seinen materiellen und politischen Wünschen zumindest partiell orientierte. Umgekehrt galt das in dieser Form nie. Trotz evidenter Asymmetrie sind aber auch bestimmte Prägungen der inneren Entwicklung und der politischen Kultur der "alten" Bundesrepublik ohne die Nachbarschaft der kommunistischen Diktatur jenseits der Grenze nicht zu verstehen.
Schon einige wenige Überlegungen dieser Art verweisen auf die Notwendigkeit der Selbstreflexion von Zeitgeschichte. Dieses Bedürfnis bildete den Ausgangspunkt für ein Forschungsprojekt und eine Konferenz zum Thema "Zeitgeschichte als Streitgeschichte" am Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF), Potsdam, die beide auf die Meta-Ebene zeithistorischer Forschung, insbesondere auf das Verhältnis von Öffentlichkeit, politischer Kultur und Fachwissenschaft, zielen. Streit gab und gibt es auch in anderen historischen Teildisziplinen. So lagen sich 1964 die Reformations-Forscher darüber in den Haaren, ob - zugespitzt - Luther seine Thesen nicht an der Schlosskirche angeschlagen, sondern mit der Post verschickt habe. Dahinter standen allerdings grundsätzliche Fragen des überkommenen Lutherbildes, die durchaus das nationale Selbstverständnis berührten.
Dies sicherlich, wenn man nicht in erster Linie die oft erbitterten Fachdebatten im engeren Sinne, sondern diejenigen betrachtet, die in der Öffentlichkeit eine besondere Resonanz fanden und daher Aufschlüsse geben über Geschichtsbewusstsein und politische Kultur. Ferner: Deutet die Zunahme zeitgeschichtlicher Debatten seit den sechziger Jahren auf ein wachsendes Gewicht der Fachdisziplin hin, oder hat diese umgekehrt in den letzten Jahren eher an Bedeutung eingebüßt? Wie viel aufklärerische Wirkung haben Kontroversen? In welchem Ausmaß bestimmen die "Historiker-Journalisten" (Hockerts), also die Profis in den Medien, die öffentliche Arena des Streits und drängen die akademische Zeitgeschichte in den Elfenbeinturm von Quellenfetischismus und Fußnotenseligkeit?
Die Diskussion um die DDR-Geschichtswissenschaft, der politische und historiographische Stellenwert der Chiffre "1968", aber auch die jüngste Kritik an den "versäumten Fragen" der etablierten Sozialhistoriker in der "alten" Bundesrepublik haben die Frage nach den Maßstäben der Fachwissenschaft neu gestellt und bislang keineswegs befriedigend beantwortet. Der Pulverdampf im Streit, wer DDR-Geschichte schreiben darf und soll, hat sich mittlerweile verzogen. Zeitgeschichte hat aber nach 1990 auch in anderen europäischen Ländern neue Aktualität erhalten. Der heftige Streit in Polen um Jedwabne und das polnisch-jüdische Verhältnis, die französischen Debatten um Vichy und den Algerienkrieg sowie schließlich diejenigen um "Gedächtnis, Geld und Gesetz in der Politik mit der Vergangenheit" in der Schweiz sind drei signifikante Beispiele.
III. Zeitgeschichte als wissenschaftliche Aufklärung
Lassen wir die Streitgeschichte hinter uns: Was kann und soll zeithistorische Forschung als wissenschaftliche Aufklärung heute bedeuten, welche Schwierigkeiten tun sich auf, und wie kann zeitgeschichtliche Wissenschaft ihnen begegnen, ohne sich in der Konkurrenz mit den Massenmedien zu überheben? Drei thesenartige Überlegungen dazu:
1. Objektivität als intersubjektive Überprüfbarkeit und regulative Idee empirischer Forschung und historiographischer Darstellung ist unverzichtbar, auch wenn der Glaube an die Möglichkeit ihrer Realisierung nachhaltig erschüttert ist.
2. Kritische Historisierung bleibt eine ebenso notwendige wie schwierige Aufgabe, insbesondere bei der Beschäftigung mit Diktaturgeschichte, wobei jede Generation neue Fragen stellt.
3. Individuelle und kollektive Erinnerung sollten, so diffus sie in der Regel sind, nicht bloßes Gegenstück zur sog. "objektiven" Geschichte bleiben, sondern sie müssen integraler Bestandteil fachwissenschaftlicher Analyse sein, weil nur so Aufklärung sich ihrem selbstgesetzten Ziel wenigstens annähern kann.
1. Der britische Sozialhistoriker Richard Evans hat in seinem Buch "Fakten und Fiktionen" eingehend die Grundlagen historischer Erkenntnis erörtert, die produktiven Herausforderungen postmoderner Autoren für die Geschichtswissenschaft konzediert und dennoch ein energisches Plädoyer für historische Wahrheit als regulative Idee und den Versuch angemessener Rekonstruktion vergangener Wirklichkeit formuliert.
In der Zeitgeschichte wird für jedermann besonders unmittelbar erfahrbar, wie die Gegenwart die Geschichte immer wieder einholt und konditioniert. So haben die Revolution von 1989 und das Ende des Kommunismus in Europa die Determinanten unserer Interpretationen und historischen Urteile gravierend verschoben, alte Themen obsolet gemacht und neue in den Vordergrund gerückt. Lexikalische Großunternehmen wie das seit 1966 erschienene mehrbändige "Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft", das sich in Lehre und Forschung immer gut als Diskussionseinstieg eignete, sind über Nacht entwertet worden und nur noch von historiographiegeschichtlichem Interesse. Die zeitgebundenen und nicht nur interessegeleiteten Grenzen historischer Erkenntnis und sozialwissenschaftlicher Prognosefähigkeit sind uns 1989 auf drastische Weise vor Augen geführt worden. Das kann zu heilsamer Bescheidenheit mahnen, führt aber nicht die Suche nach Wahrheit als regulativer Maxime ad absurdum. Diese hat zudem methodische Konsequenzen. Denn ohne diese Maxime würden z.B. alle Bemühungen der Gedenkstätten um Dokumentation originaler Ausstellungsstücke statt Inszenierung imaginierter Vergangenheit belanglos.
Aber auch eine andere, in meinen Augen besonders wichtige und unverzichtbare Funktion wissenschaftlicher Zeitgeschichte ginge verloren - nämlich die, auf der Sperrigkeit ihres Gegenstandes zu insistieren, Sand im Getriebe zu sein und statt flinker Formeln und spektakulärer Etikettierungen auf der mühsam zu erschließenden Komplexität vergangener Wirklichkeit zu beharren. Der Zweifel gehört zu den Tugenden der Aufklärung. Dieses Beharren auf Komplexität bedeutet auch eine Portion Skepsis gegenüber der immer wieder und keineswegs zu Unrecht erhobenen Forderung nach sprachlicher Gefälligkeit, plastischer Beschreibung und biographischer Konkretion statt "Präparieren von Strukturen"
Gerade angesichts solcher Komplexität ist jedes "Lernen aus der Vergangenheit" schwierig und in einem naiven Sinne ohnehin unmöglich. Wer jemals einen Schulbuchtext verfasst oder am Drehbuch für einen Film beratend mitgearbeitet hat, weiß, wie verzweiflungsvoll der Zwang zur Komplexitätsreduktion oder die Abhängigkeit vom filmischen Material alle hoch gespannten Ambitionen zunichte machen. Dennoch sollten hier keine falschen Gegensätze konstruiert werden. Audiovisuelle Medien sind nicht nur unverzichtbare zeitgeschichtliche Quellen, deren Erschließung und Methodenreflexion allmählich auch die Zunft erreicht hat,
2. "Historisierung" als methodisches und interpretatorisches Problem ist, wenn ich es richtig sehe, erstmals 1983 von Martin Broszat in seinem Aufsatz über die "Spannung zwischen Bewerten und Verstehen der Hitler-Zeit" in die Debatte eingeführt worden
In anderer Weise ist das seinerzeit vielen Missverständnissen ausgesetzte Konzept einer kritischen Historisierung auch zu einem zentralen Element der seit 1990 intensivierten Aufarbeitung kommunistischer Diktaturen geworden. Ihre lange Dauer und die inneren Wandlungsprozesse haben es sicherlich erschwert, sie analog zu den nur zwölf Jahren Nationalsozialismus als quasi überhistorisch aus der Geschichte der Staaten und Gesellschaften auszuklammern und zu stigmatisieren. Die Grenzen des Diktaturvergleichs sind insbesondere im Hinblick auf die DDR deutlich geworden. Eine Historisierung ist hier bereits viel früher als für den Nationalsozialismus gefordert und praktiziert worden. Eine moralische Relativierung des Diktaturcharakters mag angesichts der nicht wirklich vergleichbaren Verbrechensdimensionen zwar nahe liegen, und Beispiele dafür gibt es genügend. Die eigentliche methodische Herausforderung für die historische Forschung liegt jedoch in der Aufgabe, die DDR - und für andere Länder gilt das ebenso - nicht nur von ihrem Ende und auch nicht von ihren vermeintlich guten Anfängen einer in der Tradition der europäischen Aufklärung stehenden sozialistischen Alternative zu interpretieren, sondern sie gewissermaßen aus der Mitte heraus mit einem für die Zeitgenossen noch scheinbar offenen Entwicklungspotenzial zu rekonstruieren und zu verstehen.
3. Mein drittes Feld "Erinnerung und Zeitgeschichte" ist sicher das komplizierteste und gegenwärtig meist diskutierte. Es ist ein Kernproblem, mit dem sich Zeithistoriker sehr viel intensiver als die Fachleute für andere Epochen auseinander zu setzen haben. Denn sie sind permanent mit der Deutungskonkurrenz zwischen persönlicher Erinnerung und wissenschaftlicher Zeitgeschichtsschreibung konfrontiert. Gerade weil das neue Interesse an Gedächtnis, Erinnerung und Memorialisierung bei bestimmten zeithistorischen Themen schon nahezu inflationäre Züge angenommen hat, sollte eine systematische Problematisierung stattfinden. Es geht um den Konflikt zwischen dem oft stark emotional bzw. moralisch - anklagend oder rechtfertigend - geprägten Duktus der persönlichen Erinnerung und dem rationalen Anspruch der Forschung auf Erklärung. Zeitgeschichte begreift sich hier als Antipode zur unreflektierten Erinnerung. Sie hat die Aufgabe der rationalen Kontrolle der Erinnerung und der Disziplinierung des Gedächtnisses.
Ein besonderes Element kommt hinzu: Zeithistoriker sind auch Zeitgenossen mit eigenen Erfahrungen, die sich nicht einfach eliminieren lassen. Gerade das macht sie als professionelle Fachleute im Vergleich zu Historikern anderer Epochen viel angreifbarer. Der Umgang mit dem im akademischen Milieu emotional stark aufgeladenen Datum "1968" ließe sich hier als markantes Beispiel anführen.
Dieses generelle Problem der Spannung zwischen persönlicher Erinnerung und wissenschaftlicher Zeitgeschichte nur als Alternative zu verstehen führt jedoch, wie Konrad Jarausch betont hat, in eine Sackgasse, gerade wenn es der Wissenschaft um Aufklärung geht. Denn "eine die lebendige Erinnerung ignorierende Geschichtswissenschaft läuft Gefahr, der Öffentlichkeit durch die Autorität der Wissenschaft ihre Sprachregelung aufzuzwingen, ohne die Bevölkerung wirklich überzeugen zu können", solange das zähe Weiterleben von unreflektierten Erinnerungsbeständen nicht aufzubrechen ist.
Hans Günter Hockerts hat für diesen Zusammenhang die begriffliche Trias "Primärerfahrung, Erinnerungskultur und Geschichtswissenschaft" als typologisierenden Zugang zur Zeitgeschichte vorgeschlagen.
Gegen die mittlerweile inflationär gewordene Redeweise vom "kollektiven Gedächtnis" oder "kollektiver Erinnerung" hat Reinhard Koselleck bedenkenswerte Skepsis angemeldet. Denn wer kollektive Erinnerung sucht, setzt ein kollektives Handlungssubjekt voraus, das sich auch kollektiv erinnern kann. Damit tauchen jene hypostasierten Handlungsträger auf (Klasse, Volk, Nation, Partei, Verband usf.), welche "die Vielfalt persönlicher Erinnerungen verschlucken und als kollektive Einheit wieder von sich geben". Er plädiert für das "Vetorecht der je persönlichen Erfahrung, die sich gegen jede Vereinnahmung in ein Erinnerungskollektiv sperrt. Und es gehört zur oft beschworenen und ebenso oft vergeblich beschworenen Würde des Menschen, dass er einen Anspruch auf seine eigene Erinnerung hat"
Vielleicht ist dies ein Ansatz, um dem strukturellen Dilemma zwar nicht zu entkommen, aber angemessen mit ihm umzugehen.
IV. Europäische Zeitgeschichte als Problem
Eine methodisch und inhaltlich verzweifelt schwierige Herausforderung bleibt eine europäische Erweiterung von Zeitgeschichte, die nicht nur ein Etikettenschwindel ist. Mit dem Ende des sowjetkommunistischen Systems in Europa 1989/91 hat sich ein gravierender, wenn auch in seinen Konsequenzen noch kaum voll überschaubarer Wandel vollzogen. Der Ost-West-Konflikt als globale Systemkonfrontation, die zentrale Determinante der äußeren und inneren Entwicklungen in Europa, ist trotz immer noch erheblicher Nachwirkungen beendet. Seine historisch-politische Prägekraft wird aber erst aus der Rückschau in ihrer Reichweite voll erkennbar.
Was seinerzeit in der plakativen Gegenüberstellung von "Abendland und Bolschewismus" oder aus östlicher Sicht von "Imperialismus und Friedenslager" eine hochgradig ideologisierte politische Dichotomie kennzeichnete, wird heute in seinen Konsequenzen als historisches Problem in ganz anderer Weise wieder aktuell. Denn die von den ostmitteleuropäischen Staaten als Ziel formulierte "Rückkehr nach Europa" knüpft dort an, wo das Unheil begann: 1939 und 1945. Die sukzessive Auflockerung der sowjetischen Herrschaft durch die Entspannungspolitik, durch Glasnost und Perestroika sowie schließlich durch die revolutionäre Selbstbefreiung 1989 hat dem Ruf "Rückkehr nach Europa" jenseits ideologischer Wunschvorstellungen erst eine konkrete Basis verliehen. Dabei geht es primär um handfeste politische und ökonomische Ziele wie die Vorbereitung des Beitritts zur EU. Die vor allem von Politologen. Soziologen und Ökonomen betriebene Transformationsforschung geht den strukturellen Faktoren nach, die den Übergang in eine neue Periode ermöglichen sollen oder ihm auch im Wege stehen. Nur am Rande tauchen dabei die vielfältigen historischen Bedingungen und Ausgangskonstellationen auf, ohne deren genaue Kenntnis der unterschiedliche Verlauf und die nationalen Besonderheiten des Transformationsprozesses - und damit auch der künftigen Chancen und Probleme der Integration - unverständlich bleiben müssen.
Im weiteren Sinne gehört dazu die Rückbesinnung auf lange Zeit mehr oder minder unterdrückte nationale Traditionen. Diese Rückbesinnung präsentiert sich gegenwärtig auf unterschiedlichen Ebenen und ebenso in produktiven wie in fatalen Formen. Die krisenhaften ökonomischen und sozialen Begleiterscheinungen der Transformation verleihen nationalistischen Strömungen im Zeitalter der Globalisierung eine gefährliche Resonanz und Bindekraft als Integrationsideologie. Auf der anderen Seite gibt es überall einen unübersehbaren Prozess der selbstkritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, ihren "weißen Flecken" und verordneten Interpretationen, mit der vergessenen oder oft geschönten Beziehungsgeschichte zu Nachbarn oder Minderheiten im eigenen Lande. Der Name Jedwabne ist hier symptomatisch. Die beginnende Aufarbeitung des traumatisch belasteten Themas Flucht und Vertreibung in Polen, aber auch der Folgen der sowjetischen Herrschaft in Osteuropa in allen Facetten sind eindrucksvolle Beispiele. Dass die im Kalten Krieg mit formaljuristischen Argumenten zu den Akten gelegte Entschädigung der Zwangsarbeiter in der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft nun endlich - wie unbefriedigend auch immer - gelöst ist, ist ebenfalls ein europäisches Thema aus der Nach-Geschichte des NS-Systems.
Eine von engen ideologischen Vorgaben und unreflektierten Prägungen befreite Diskussion zeitgeschichtlicher Themen offenbart die Variationsbreite nationaler Periodisierungen und Zäsurbil- dungen. Sie entsprechen den jeweiligen Erfahrungsgeschichten, müssen aber in der zeithistorischen Reflexion mit generellen, übergeordneten europäischen Determinanten in Beziehung gesetzt werden. Abgesehen von den Problemen einer begrifflichen Bestimmung erweist sich der Periodisierungsrahmen von Zeitgeschichte fast überall extrem unterschiedlich. Die Opfererfahrungen im Zweiten Weltkrieg und die Erinnerung an den Widerstand, also die Formen nachdrücklicher Betroffenheit, sind dagegen am ehesten gemeinsame Bezugspunkte einer europäischen Zeitgeschichte,
Eine "Rückkehr nach Europa" gibt es in anderer Weise auch für Westdeutschland und Westeuropa. Dabei wird nicht zuletzt eine tief greifende Revision eines Europa-Begriffs nötig sein, der unter dem dominierenden Einfluss des Kalten Krieges und der "Rheinischen Republik" Europa an der Oder, wenn nicht gar an der Elbe enden ließ. Die Bereitschaft, die prekären wirtschaftlichen und politischen Folgen dieser Rückkehr nach Europa zu akzeptieren - auch wenn sie zunächst unbequem sind -, ist bisher nicht sehr ausgeprägt. Die weitgehend abgerissenen historischen Verbindungen lassen sich nicht schnell wiederherstellen, zumal eine offenkundige Renationalisierung dem längst etablierten Trend zum Transnationalen zuwiderläuft. Zeithistoriker sollten hier mit Nachdruck an die eingangs genannten unspektakulären Verdienste der Dissidenten erinnern. Transnationale, vergleichende oder beziehungsgeschichtliche Forschungsprojekte werden oft gefordert. Dieses Postulat einzulösen bleibt ein weites, aber lohnendes Feld.