I. Einleitung
Der Terminus Berliner Republik impliziert auch, dass die Republik etwas "östlicher", etwas "ostdeutscher" geworden ist, und das nicht nur, weil ihre Hauptstadt in Ostdeutschland liegt. Hierauf bezieht sich auch die "innere Einheit", zu der die Berliner Republik finden müsste. Der Terminus "innere Einheit" thematisiert die andersartigen sozialisatorischen Muster der ostdeutschen Bevölkerung, ihre Werte und kulturellen Praxen, ihre Erfahrungen, Erinnerungen und Sinnkonstruktionen. In der letzten Dekade wurde diese Ost-West-Differenzierung überwiegend als Anomalie und Störung in der politischen Kultur der Berliner Republik, als ungelöste Aufgabe oder gar als Gefahr gesehen.
Im Unterschied dazu wollen wir diese kulturelle und politische Differenziertheit der Berliner Republik als eine Normalisierung, Vervollständigung, als eine Bereicherung der politischen Kultur deuten. Sie ist ein Zeichen dafür, dass nicht nur die Spaltung Deutschlands zu Ende ist, sondern auch, dass die mit der Spaltung einhergehende relative Homogenisierung der politischen Kulturen der Bundesrepublik und der DDR nach innen im vereinten Deutschland keine Fortsetzung mehr findet. Was bringt die Integration der Ostdeutschen für die politische Kultur dieses Landes?
II. Die Formierung zweier deutscher politischer Kulturen
Als mit Beginn des Kalten Krieges die zueinander konträr verlaufenden Umwälzungen in den Besatzungszonen so forciert wurden, dass schließlich zwei Teilstaaten entstanden, bedeutete das nicht nur eine Polarisierung zwischen Ost- und Westdeutschland auf der Ebene ihrer jeweiligen politischen und ökonomischen Verfasstheit. Es kam im Ergebnis der staatlichen Teilung langfristig auch in beiden Teilen Deutschlands zu einer relativen ideologischen, sozialmoralischen und mentalen Homogenisierung nach innen, die mit den je eigenen politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen korrespondierte.
Hinzu kam noch, dass die Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik teilweise zu einer tradierten Grenzlinie innerhalb der deutschen Kultur gehörte. Im Norden der DDR lagen die weiten Räume der halbfeudalen preußischen Großagrarier, in denen nicht die kleinbäuerlichen, sondern die landarbeiterlichen Unterschichten lebten. Im mitteldeutschen Raum gab es eine starke proletarische Tradition. In den hochmodernisierten Industriegebieten zwischen Dessau, Bitterfeld, Halle, Merseburg, Leuna und Buna sowie in den sächsischen Revieren, deren Industrie-Tradition bis ins 19. Jahrhundert reichte, bestand eine Kultur, die sich von den hessisch-westthüringischen und fränkischen Nachbarregionen unterschied und dem Ruhrgebiet ähnelte. In der SBZ war der Bevölkerungsanteil der abhängig Beschäftigten gegenüber dem der Selbständigen auch bedeutend größer als in den Westzonen . Die politisch intendierten Homogenisierungsbestrebungen in Richtung Proletarisierung der ostdeutschen Gesellschaft interagierten also mit einer für Ostdeutschland typischen, historisch gewachsenen Milieulandschaft. Die hier verankerten preußisch-protestantischen Tugenden - Fleiß, Pflichterfüllung und Sparsamkeit als zentrale Auffassungen, Einordnung in und Dienst an der Gemeinschaft - waren dem Wertehorizont der neuen "sozialistischen" Arbeitsgesellschaft angepasst. Mehr noch: Sie waren, wie sich zeigen sollte, geradezu Voraussetzung für ihr Funktionieren.
Seit 1945 trieben die radikalen politischen, ökonomischen und ideologischen Umwälzung im Osten Deutschlands nicht nur politische Gegner, sondern vor allem auch Angehörige der besitzenden sozialen Milieus, des Groß- und Kleinbürgertums, zur Flucht in den Westen. Dem verkündeten Programm der "antifaschistisch-demokratischen Umwälzung", und seit 1952 dem Programm des "Aufbaues der Grundlagen des Sozialismus" entsprechend, zerstörte die Politik in der SBZ und DDR also gezielt die ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Reproduktionsbedingungen des Großbürgertums, des kleinbürgerlichen Mittelstandsmilieus und des bürgerlich-humanistischen Milieus . Zugleich wurden die Angehörigen der und die Kinder aus den Arbeitermilieus, sofern sie sich nicht explizit gegen den politischen Kurs der neuen Eliten stellten, beim Zugang zu höherer Bildung und zu den neuen Dienstklassen gegenüber den bürgerlichen Schichten privilegiert. Dieser rabiate antikapitalistische Eingriff in die Besitzverhältnisse, gekoppelt mit einer beständigen öffentlichen Stigmatisierung bürgerlicher Ideologie und Lebensweise, mit der Repression ihrer Anhänger und der gezielten Privilegierung der Unterschichten, führte im Ergebnis zu einem raschen Verschwinden des Großbürgertums und einer erheblichen Dezimierung der Mittelstandsmilieus und damit zu einer Homogenisierung der Bevölkerung Ostdeutschlands in Richtung kleinbürgerlich-proletarischer Milieus.
Dieses intendierte Programm einer sozialstrukturellen Homogenisierung der DDR-Gesellschaft zu einem "Arbeiter-und-Bauern-Staat" oder "sozialistischem Staat der Werktätigen" zielte auf die Formierung der ostdeutschen Bevölkerung zu einem "neuen historischen Subjekt" mit einander angeglichenen Lebensverhältnissen und vereinheitlichten politischen Vorstellungen. Das schien nicht allein durch ökonomische Eingriffe und das Erzwingen von Loyalität zu bewerkstelligen zu sein. Durch die Propagierung und Anerziehung eines neuen "sozialistischen Bewusstseins" versuchte die politische Führung der DDR, "die initiativreiche Mitarbeit aller beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft" - also authentisches Engagement im beruflichen und gesellschaftlichen Leben - zu erreichen. Die Implementierung einer "sozialistischen Ideologie" als für alle Bürger verbindliche Weltanschauung schien der Königsweg zu diesem Ziel. Die Durchsetzung der Weltdeutungshegemonie der neuen politischen Eliten in Gestalt des Marxismus-Leninismus geschah über den Weg strikter Reglementierung der gesamten gesellschaftlichen Kommunikation: Die Medien, Kultur und Kunst, Wissenschaft und vor allem das Bildungssystem wurden nicht nur durch permanente Verbreitung der neuen Deutungsmuster und rigide Ausgrenzung anderer Meinungen und Anschauungen, sondern seit 1951 auch durch Gesetze und Verordnungen ausdrücklich auf den Marxismus-Leninismus als weltanschauliches Grundkonzept verpflichtet . Als notwendige Voraussetzungen für die Konstituierung einer neuen, von sozialen Ungerechtigkeiten und von gesellschaftlichen Konflikten bereinigten Gesellschaft sah die DDR-Elite also nicht nur die Monopolisierung der politischen und der ökonomischen Macht, sondern auch die Egalisierung der Lebensverhältnisse wie auch die Angleichung der Normalitätsvorstellungen und politischen Werte der DDR-Bevölkerung.
Etwa Mitte der sechziger Jahre hatte sich tatsächlich eine neue Milieulandschaft in Ostdeutschland ausgeprägt. Sie war gekennzeichnet durch "Entbürgerlichung" der Bildungselite, durch das Entstehen einer neuen "sozialistischen Intelligenz" sowie die Formierung eines "rationalistisch-technokratischen" und eines "status- und karriereorientierten" Milieus. Typisch für die Mittel- und Unterschichten der DDR waren das kleinbürgerlich-materialistische Milieu und die Arbeitermilieus. Diese Wandlungsprozesse führten zu einem Kulturraum, der im Vergleich zum westdeutschen eher proletarisch, egalitär und links war.
Aber nicht nur im Osten des geteilten Landes waren Sozialingenieure am Werk. Nach dem Zweiten Weltkrieg bemühten sich verschiedene Kreise neoliberaler Intellektueller und Industrieller in Amerika und Europa, den damals auch in den westeuropäischen Gesellschaften verbreiteten "kollektivistischen Zeitgeist" gezielt in Richtung auf eine marktradikale Einstellung zu beeinflussen . Es gab also auch im Westen Experten, die sich um die Herstellung größtmöglicher Übereinstimmung zwischen der Mentalität der Bevölkerung und dem wirtschaftspolitischen System kümmerten. So war der Marshall-Plan auch als "ein überaus ambitioniertes Werbeprojekt" gedacht und umgesetzt worden .
Auch die Propagierung des Konzepts der "Sozialen Marktwirtschaft" in der Bundesrepublik Anfang der fünfziger Jahre zielte auf die mentale Beeinflussung der Bevölkerung in dieser Richtung. Man ging davon aus, dass die Bevölkerung gegenüber der Marktwirtschaft noch sehr zurückhaltend sei und dagegen etwas getan werden müsse, wolle man nicht Boden an den Kommunismus verlieren. Die "Soziale Marktwirtschaft" wurde von den wirtschaftspolitischen Vordenkern als "Gegenprogramm gegen Kommunismus und Bolschewismus" konzipiert . Im Jahre 1952 verschrieb sich eine von Unternehmern im Umfeld Ludwig Erhardts gegründete Organisation mit dem programmatischen Namen "Die Waage. Gemeinschaft zur Förderung des sozialen Ausgleichs e. V." der Aufgabe, kontinuierlich Vertrauenswerbung für die Idee einer als "Soziale Marktwirtschaft" neu verfassten Gesellschaft zu betreiben . Ihre PR-Kampagnen wandten sich über einen längeren Zeitraum - 1952 bis 1965 - mit Anzeigen in den großen Zeitungen und Zeitschriften, aber auch mit Werbefilmen an den "kleinen Mann auf der Straße". Dieser solle, so die Idee der Initiatoren, für einen konfliktarmen, möglichst konsensualen Wiederaufbau der westdeutschen Gesellschaft auf kapitalistischer Grundlage gewonnen werden.
Die zentralen Botschaften der "Waage-Kampagnen" zielten auf die stärkere mentale Verankerung eines positiven Bildes vom Unternehmer als dem Träger oder Motor des wirtschaftlichen Aufschwungs und damit auch der Vermehrung des gesellschaftlichen Reichtums der bundesdeutschen Gesellschaft. Vor allem aber sollte ein allmählicher Bewusstseinswandel der proletarischen Schichten hin zu einem Mittelstandsbewusstsein angeregt werden. Man wollte ein gesellschaftliches Klima fördern, in dem der Unternehmergeist allgemein geschätzt und die wirtschaftlichen und politischen Belange in einem "ausgehandelten" Konsens gelöst werden. In der Jahresend-Anzeige der Waage von 1956 hieß es dann auch: "Der Klassenkampf ist zu Ende. Den Begriff des Proletariers gibt es nicht mehr. Im freien Deutschland vollzieht sich eine geschichtliche Wandlung: der ehemals klassenbewusste Arbeiter wird zum selbstbewussten, freien Bürger. Ein Mann, der auf lange Sicht plant, der für seine Kinder eine gründliche Schulung verlangt, der durch Eigentum die Freiheit seiner Familie zu sichern sucht, das ist der Arbeiter von heute."
Auch wenn sich die Wirkung solcherart politischer Werbung nur schwer messen lässt, so ist doch zu konstatieren, dass die Intentionen der Kampagnenstrategen letztlich ihre Realisierung fanden. Schon im Jahr 1955 stellten Soziologen fest, dass Begriffe wie "Proletarier, Proletariat und Prolet" gewissermaßen ausgestorben seien . Der als "Fahrstuhleffekt" beschriebene simultane soziale Aufstieg aller sozialen Schichten im Wirtschaftswunderland Bundesrepublik in den fünfziger und sechziger Jahren war also von einem Diskurs begleitet, der auch das Selbstbild der (ehemals) "kleinen Leute" zu modifizieren suchte. Resultat dieser Entwicklung war, wie im Osten des geteilten Landes, eine kulturell homogenere Gesellschaft: im Westen die nivellierte bürgerliche Mittelstandsgesellschaft, im Osten die nivellierte arbeiterliche Gesellschaft.
Bis zu dem kulturellen Umbruch 1968 in Westdeutschland war die ostdeutsche Gesellschaft stärker von sozialer und geistiger Mobilität und Spannungen geprägt . Manche der alltagskulturellen Wandlungen, die Ende der sechziger Jahre im Westen in eindrucksvollen und originellen Attacken auf den Normenkanon des bürgerlichen Anstands durchgesetzt wurden, gab es im Osten schon. Allerdings waren sie Ergebnis einer kulturellen "Revolution von oben", die das Zurückdrängen formaler Distinktion im Alltag, die Emanzipation der Geschlechter und die ökonomische Unabhängigkeit der Frauen durchsetzte beziehungsweise anregte. Im Alltag ergab sich so ein Klima von Informalität, Kollegialität und Libertinage, das sich von der hierarchischen bürgerlich-traditionellen Distinktion im Westdeutschland der Adenauerzeit unterschied. Der Proteststurm 1968 und der Aufbruch der geistigen Starre des westdeutschen Restaurations-Muffs führten zur Synchronisierung der kulturellen mit der wirtschaftlichen Dynamik der Westrepublik. Zu dieser Zeit fanden sich auch die philosophischen und psychologischen Versatzstücke für die Inszenierung eines neuen, stärker individualisierten, innengeleiteten und hedonistischen Persönlichkeits- und Konsumententypus. All das ermöglichte die Bereicherung und Dynamisierung der politischen Kulturlandschaft der Bundesrepublik durch Friedens-, feministische, Minderheiten- und Ökologiebewegungen sowie zahllose Bürgerinitiativen im regionalen Bereich.
Der Einfluss, den der systemübergreifende Wertewandel auf die Kultur in Ostdeutschland ausübte, war jedoch aus wirtschaftlichen und ideologischen Gründen nicht so offensichtlich wie in den westlichen Ländern. Zum einen fehlte den Konsumenten im Osten das warenmässige Pendant, das die Semantik für die Differenzierung, Verfeinerung und die öffentliche Präsentierung der neuen Lebensstile lieferte. Zum anderen ging der Staat bis in die frühen siebziger Jahre recht rigide gegen die kulturellen Symbole des Wertewandels und des "Generationen-Konfliktes", die der eigenen Gesellschaft als wesensfremde und gefährliche Importe galten, vor . Während es also "den 68ern" der Bundesrepublik in den siebziger und achtziger Jahren gelang, die Diskurshoheit zu gewinnen und den gesellschaftlichen Wertewandel kommunikativ zu stützen, fehlte eine vergleichbare Breitenwirkung im Osten. Nicht nur bei der älteren und mittleren Generation, sondern auch bei grossen Teilen der Jugend gab und gibt es Dispositionen, die außenorientierter und weniger individualisiert und innengeleitet als im Westen sind.
Der Osten blieb eine weniger individualisierte, eher egalisierte arbeiterliche Gesellschaft. Auch in der subjektiven Schichteinstufung zeigten sich die Ostdeutschen in der Tendenz plebejischer als die Westdeutschen. Viele Menschen, die den nichtproletarischen Schichten angehörten, fühlten und sahen sich als Arbeiter. Dieser Trend hält bis in die Gegenwart an. In einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes unmittelbar nach dem Beitritt der DDR zeigte sich, dass sich fast zwei Drittel der ostdeutschen Bevölkerung (61 Prozent) der Unter- und Arbeiterschicht zurechneten - beinahe auf den Prozentpunkt genauso viel, wie sich im Westen der Mittelschicht zuordnen (62 Prozent) . Aber auch die miteinander vergleichbaren sozialen Schichten und Milieus sind heute noch in West und Ost recht verschieden. Im Osten hat sich der Wertewandel, die subjektive Modernisierung, also unter spezifischen sozialstrukturellen, ideologischen und alltagskulturellen Bedingungen vollzogen. Die Bildung der "modernen Milieus" führte hier zu anderen Ergebnissen als im Westen: Das alternative Milieu hat im Osten eine ausgeprägte linksintellektuelle Tendenz, und seine Angehörigen verstanden sich zum Teil als Gegenelite der DDR und des vereinigten Deutschlands, zudem ist diese Minderheit im Osten größer als ihr West-Pendant . Die hedonistische Strömung des Wertewandels wurde in der DDR vor allem durch die selbstbewussten, gut ausgebildeten jüngeren Arbeiter repräsentiert. Die Neuakzentuierung der SED-Politik in den siebziger Jahren, die stärkere Legitimierung der Konsumansprüche, die Förderung "junger Arbeiterfamilien" verstärkte das noch. Im Alter von 25 Jahren hatten die Angehörigen dieses Milieus erreicht, was sie für erstrebenswert hielten und was in der DDR erreichbar war - und suchten nun außerhalb der DDR nach besseren Arbeits- und Konsummöglichkeiten . Nach einer langen Phase relativer Stabilität, in der die Angehörigen der verschiedenen Milieus auf jeweils spezifische Art und Weise mit der DDR "ihren Frieden" gemacht hatten , war die DDR ab Mitte der achtziger Jahre für die Mehrzahl der Ostdeutschen - aus ganz verschiedenen Perspektiven - in jeder Hinsicht nur noch "zweite Wahl" : Weder war erkennbar, dass die SED-Führung für die Aufnahme des Perestroika-Impulses und eine Demokratisierung des Landes bereit war, noch nahm eine Mehrheit weiterhin an, dass man den technischen und konsumtiven Rückstand zu den westlichen Industrieländer auch nur verringern könnte.
III. Die politische Kultur nach dem Beitritt der Ostdeutschen
Für die mutige Minderheit der DDR-Bürger, die im Spätsommer und Herbst 1989 bei den riskanten Demonstrationen und öffentlichen Aktionen den Unmut über den Zustand des Landes und die Ziele für eine Reform artikulierte, war das Mehrheitsvotum der Ostdeutschen für die Übernahme des politischen und wirtschaftlichen Systems der Bundesrepublik eine herbe Enttäuschung - "das war doch nicht unsere Alternative" . Das traf auch auf die bedeutend größere Gruppe der systeminternen "Opposition" gegen die Politik der SED-Führung zu, die sich aus Angehörigen der Dienstklassen, der Intelligenz und aus Künstlern und Kulturschaffenden zusammensetzte, die einen reformorientierten, eigenständigen Weg in die Zukunft präferierten.
Diese Sicht der ostdeutschen linken Minderheit auf die deutsche Vereinigung ähnelte auch den Positionen, die westdeutsche linke und linksliberale Intellektuelle bezogen. Sie sahen sich durch die ostdeutschen Wähler bei der Bundestagswahl 1990 um den anstehenden politischen und geistigen Wechsel in der Bundesrepublik gebracht. Die sich als modern, linksliberal und aufgeklärt verstehende Reflexionselite der Bundesrepublik verknüpfte die unbestreitbare Rettung der Konservativen durch die Ostdeutschen rasch mit der Konstruktion eines bestimmten Klischees von "den Ostdeutschen", das weit über das Politische hinausging. Das Bild vom selig-blöden Ossi mit der Banane war eine der ersten Metaphern des nun beginnenden kulturellen Stigmatisierungsdiskurses .
Es war die enorme Reibungsenergie, die im Kontakt zwischen den Ostdeutschen und den Westdeutschen entstand, die diesem Diskurs über Jahre hinweg und in ungeheurer Breite Antrieb verlieh. West- und Ostdeutsche waren einander fremder und verstanden einander weniger gut, als man erwartet hatte, und sie waren auch enttäuscht darüber. Die öffentliche mediale Kommunikation über diesen Zustand wurde fast ausschließlich aus der Westperspektive geführt. Nicht nur hitzige Journalisten, sondern auch Wissenschaftler entdeckten im Jahr nach dem Beitritt im Osten den "resignierten und völlig angepassten Menschen als die sozialistische Persönlichkeit". Neben einem "totalen Wissensmanko" sei "totale Vereinnahmung und Verkollektivierung des Einzelnen" zu konstatieren . Die Ostdeutschen wurden latent als eine Spezies dargestellt, die demokratieunfähig, autoritätsgläubig und konservativ sei. Kulturell wurden sie als provinziell, spießig-piefig und völlig rückständig gezeichnet, insgesamt entsprächen ihre Wertehaltungen jenen "der Bundesrepublik der fünfziger Jahre" . Zum Allgemeinplatz in der populären und sozialwissenschaftlichen Diskussion wurden die "Deformationen" der Ostdeutschen: "Vierzig Jahre antrainierte Unselbständigkeit lassen sich nicht einfach abschütteln. Der Wandel von Befehlsempfängern zu eigeninitiativ und selbstbewusst handelnden Arbeitnehmern braucht Zeit", prophezeite man . Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet jene Werte der politischen Kultur der Bundesrepublik, die als Früchte der 68er-Bewegung gelten, die Kritik- und Messpunkte für die Charakteristik der Ostdeutschen wurden: Antiautoritarismus, Antifaschismus und reformpädagogisches Denken. Man diagnostizierte, dass die Ostdeutschen autoritärer seien als die Westdeutschen und dass der "verordnete Antifaschismus der DDR" ohne die richtige Wirkung auf die Bevölkerung geblieben sei , dass in ostdeutschen Familien repressiver als in westdeutschen erzogen worden sei . Dieser Trend hielt auch noch im Jahr 1999 an .
Man stellte also fest, dass den Ostdeutschen all das fehlte, worauf man selbst so stolz war. Das Bild von den Ostdeutschen entsprach dem ins Negative gewendeten idealisierten Selbstbild, das eine sich als modern, linksliberal und aufgeklärt verstehende Gruppe von Westdeutschen von der Kultur ihres Landes hatte. Dieser in Wissenschaft und Feuilleton über beinahe alle politischen Spektren hin und über Jahre anhaltende Diskurs führte in der politischen Kultur der Bundesrepublik zu einem "Konsensschwall" , der den 1989 erreichten Stand einer kritischen Selbstreflexion der politischen Kultur der Bundesrepublik fortspülte.
Bald zeigte sich, dass auch viele Ostdeutsche ihre kulturelle Andersartigkeit reflektierten, mehr noch, sie bestanden auch darauf, anders zu sein. Insgesamt 60 Prozent der Ostdeutschen haben ein spezifisch ostdeutsches Wir-Bewusstsein und die Gewissheit, "nicht westdeutsch zu sein", nur 20 Prozent der Ostdeutschen fühlen sich als Bundesbürger und nicht oder weniger als Ostdeutsche. Doch genau jenes Fünftel hat die meisten Ressourcen und westdeutsche Unterstützung, in den Medien ihre Wirklichkeitsdefinition als die "der Ostdeutschen" auszugeben . Die kommunikative Situation im vereinigten Deutschland ist dadurch gekennzeichnet, dass im Offizialdiskurs und dem der meinungsbildenden Medien die positiven Bezüge zum Osten, zur DDR und dem Leben in ihr tabuisiert, ignoriert und stigmatisiert werden . Bei vielen Menschen in den neuen Bundesländern gibt es aber einen gesteigerten Kommunikationsbedarf darüber, was ihr Leben, ihre Werte und Erfahrungen aus der DDR wie auch ihre Identifikationen als Ostdeutsche im Lichte der oft sehr problematischen Nach-Wende-Zeit bedeuten. Da diesem Selbstverständigungs- und Selbstvergewisserungsbedarf das professionelle Pendant fehlt, wird er in einer Art Laien-Diskurs in Form von Ostalgie befriedigt. Zum Teil unreflektiert, unbegrifflich, oft ironisch gebrochen, ist Ostalgie damit sowohl ein laienhafter Kommentar zum professionellen Diskurs über die DDR und die Ostdeutschen wie auch dessen Komplettierung.
IV. Erbschaften
Dennoch sind und waren die Ostdeutschen nicht das "kollektive Subjekt", das die SED-Führung angestrebt hatte, sondern eine Bevölkerung, die sich aus unterschiedlichen sozial-moralischen Milieus zusammensetzte und zusammensetzt. Auch heute sind die Ostdeutschen keine Gruppe mit klarem, politisch formulierbaren Gruppenbewusstsein, es gibt keine markanten politischen Ziele, für die sich "die Ostdeutschen" gemeinsam einsetzen. Dennoch gibt es als typisch ostdeutsch zu bezeichnende Abweichungen im Verhältnis zur westdeutschen Durchschnittsverteilung politischer Werte und Einstellungen.
In den Untersuchungen der empirischen Sozialforschung zu politischen Präferenzen und gesellschaftsbezogenen Werten der Bevölkerung, zu Ordnungskonzepten und Zielvorstellungen zeigt sich regelmässig, dass deren jeweilige Ausprägung von solchen Variablen wie Bildungsstand, sozialer Status, Geschlecht und Alter abhängt. Zehn Jahre nach dem Beitritt kann man immer noch feststellen, dass "Herkunft DDR" in Bezug auf gesellschaftsbezogene Werte eine gleichermassen relevante Variable ist, wie Bildungsstand und Sozialstatus. Das zeigt sich vor allem am Konstrukt "Gerechtigkeit" und daran, inwieweit dem Staat soziale Verantwortung zugeschrieben wird. Aber auch hinsichtlich "Vertrauen zu den Institutionen der Bundesrepublik" ist eine Ostspezifik auszumachen. Selbst Inhaber von Elitepositionen unterscheiden sich - entgegen dem bisherigen Trend zu einer "konsensuell geeinten" und einstellungshomogenen Elite - nach der Ost-West-Herkunftslinie und das selbst dann, wenn sie den gleichen politischen Lagern angehören. Beispielsweise zeigte sich, dass 93 Prozent der sich als links definierenden Eliteangehörigen ostdeutscher Herkunft die "Sicherung des Sozialstaates" für sehr wichtig halten, während nur 63 Prozent der sich als links definierenden West-Elite eine solche Position vertreten. Linke westdeutsche Eliteangehörige präferieren mit 24 Prozent das Ziel der "Verhinderung des Sozialmissbrauchs" während es bei der Gruppe der sich als links definierenden Eliteangehörigen ostdeutscher Herkunft nur 13 Prozent sind .
Auch in der Bewertung der bundesdeutschen Demokratie zeigen sich sehr deutliche Differenzen. Nach wie vor und mit großer Mehrheit befürwortet die ostdeutsche Bevölkerung die Einführung eines demokratischen Systems. Dass aber die bundesdeutsche Demokratie die "beste Staatsform" ist, glauben nur die Westdeutschen. Im Jahr 1997 waren über zwei Drittel von ihnen dieser Meinung, im Osten denkt das nur ein Drittel der Bevölkerung. Die Ostdeutschen kritisieren zudem, dass sich "demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten im Vergleich zur DDR-Zeit" kaum verbessert hätten . Auch die Wählerbindung ist beim ostdeutschen Wahlvolk eine andere als die im Westen zu beobachtende Milieubindung. Die Volkskammer- und Bundestageswahlen 1990 waren reine Themenwahlen, "die Wähler traten im März 1990 also nicht als Glieder sozialer Gruppen, sondern als Einzelne an die Wahlurnen. So gesehen war die deutsche Wahllandschaft nunmehr in zwei Gebiete gespalten, ein westliches, in dem gruppenbezogenes Wählen nach wie vor eine wichtige Rolle spielt, und ein östliches, in dem rational nutzenkalkulierende Individuen den dominanten Wählertyp darstellen." Diese Orientierung der Ostdeutschen ist offenbar relativ stabil, und sie trug dann 1998 auch maßgeblich zur Abwahl der Kohl-Regierung bei, aber auch zur prompten "Abstrafung" der rot-grünen Regierungskoalition in den Landtagswahlen des Jahres 1999.
Offensichtlich fühlen sich die Ostdeutschen auch stärker von der Regulierung durch die Politik abhängig und sorgen sich mehr um die "richtige" politische Steuerung als die Westdeutschen. Das ist ein entscheidender Hinweis zur Einordnung aktueller und künftiger Systembewertungen. Jeder zweite Ostdeutsche befürwortet eine stärkere Kontrolle der Wirtschaft durch die Politik . Diese Präferenz dürfte einerseits spezifisches Erbe der politischen Sozialisation in der DDR sein, andererseits dürften aber in hohem Maße auch die sozialen Absturzerfahrungen aus der Transformationszeit Anteil daran haben. Diese werden weniger einem persönlichen Verschulden, sondern mehr dem Kollaps eines Systems zugerechnet. Die Ostdeutschen interpretieren die Politik als ein der Wirtschaft übergeordnetes und nicht nur beigeordnetes System. Im "freien Spiel der Kräfte" sehen sie mehr als die Westdeutschen die Gefahr, dass Gesellschaft zu einem Freiraum für die Stärkeren und Verantwortungsloseren wird und ihre Funktion als Lebensraum verliert - und dass sie die Leidtragenden dieser Entwicklung sind. Viele Ostdeutschen erwarten ein System, das Stabilität und Solidarität zumindest befördert und Kontingenz, Partialinteressen und die zentrifugalen Kräfte des Marktliberalismus im Zaume zu halten versucht.
Damit kommt man auch zur zweiten, für die deutsch-deutsche politische Kultur wichtigen Dichotomie, nämlich der von Freiheit und Gleichheit. Dreiviertel der Westdeutschen sind stolz auf die persönliche Freiheit in Deutschland, nur die Hälfte der Ostdeutschen teilt diesen Stolz . Entsprechend "aufgeregt" werden auch ostdeutsche Statements, die Freiheit nicht über Gleichheit stellen wollen, diskutiert. In einer der Erhebungen des Allensbacher Institutes kommentiert Elisabeth Noelle-Neumann den Befund, dass 48 Prozent der Ostdeutschen dem Satz: "Wir waren alle gleich, und wir hatten alle Arbeit - darum war es eine schöne Zeit" zustimmen: "Aber sie irren sich, es war keine schöne Zeit! . . . Wie groß ist die Gefahr, die Freiheit, gerade gewonnen, Stück für Stück wieder zu verlieren, sie einzutauschen gegen das Linsengericht der Gleichheit, genannt: ,soziale Gerechtigkeit'? Gleichheit macht nicht glücklich, macht passiv, die eigenen Kräfte verfallen." Dass politische Freiheit ein hoher Wert ist, wissen die Ostdeutschen sehr wohl. Ein Teil von ihnen hat sich höchst engagiert im Herbst 1989 für die Demokratisierung der Gesellschaft eingesetzt. Und immerhin sind "die Montagsdemonstrationen" neben der "Einheit" die einzigen politischen Symbole in der deutschen Kultur, bei denen Identifikation und Stolz der Ostdeutschen noch größer ist als bei den Westdeutschen, die ansonsten sehr viel Stolz auf ihr politisches System zeigen . Die Ostdeutschen wissen politische Freiheiten sehr wohl zu schätzen, aber sie haben seit 1989 erlebt, dass diese allein nicht ausreichen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Die Formulierung vom "Linsengericht der Gleichheit" bringt die unterschiedlichen Erwartungen, oder besser, die tendenziöse Beschreibung der unterschiedlichen Erwartungen von Ostdeutschen und Westdeutschen, auf den Punkt. Es ist die Attitüde derer, die sich um das tägliche Linsengericht nicht mehr sorgen, sondern nur noch um die Raffinesse des Desserts und dessen stilvolle Zelebrierung. Es ist die Perspektive einer sich unerschütterbar fühlenden Saturiertheit jener, zu deren Erinnerungsrepertoire soziale Absturz- und Desintegrationserfahrungen oder Ängste vor politischen und ökonomischen Bedrohungen nicht mehr gehören und denen folglich auch die "Witterung" für drohende soziale und ökonomische Verwerfungen verloren gegangen ist. Genau diese Wahrnehmungsweisen gehören aber zu dem in den letzten beiden Dekaden geformten Erinnerungsbestand der Ostdeutschen. Damit bringen die Ostdeutschen in die politische Kultur der Bundesrepublik einen gebeutelten, geläuterten Realismus mit ein, der zu den künftigen gesellschaftlichen Belastungen im sich einigenden Europa wahrscheinlich besser passt als die Wahrnehmungsmuster einer breiten westdeutschen Bevölkerungsgruppe, die sich in der historischen Ausnahmeperiode der Wohlstands-Bundesrepublik herausgebildet hatten.
V. Perspektiven
Der Beitritt der Ostdeutschen hat die Balance und die Maßverhältnisse der politischen Kultur der Bundesrepublik verändert. Die politische Kultur ist nun gewissermaßen wieder komplettiert, und zwar um den egalitaristischen und etatistischen Teil der Modernisierungsansätze des einst gesamtdeutschen Traditionsbestandes. Diese Komplettierung geschah allerdings nicht durch die Legitimierung dieses Traditionsstranges und damit durch seine Aufnahme in den Werte-Kanon des vereinigten Deutschlands, sondern sie geschah durch die Aufnahme einer Bevölkerung, die in mehreren Generationen unter dem in der DDR durchgesetzten Modernisierungsmodell sozialisiert wurde . Seit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik sind also die Träger egalitär und etatistisch akzentuierter Wertebestände nicht mehr lediglich eine Minderheit von engagierten und idealistischen Intellektuellen und Ideologen, sondern eine relativ große, sich aus verschiedenen sozial-moralischen Milieus zusammensetzende Bevölkerungsgruppe. Das symbolische Gewicht dieser Werte ist zwar nach wie vor gering, aber sein "statistisches Gewicht" hat deutlich zugenommen.
Aus diesen Fakten resultiert die Akzentverschiebung in der politischen Kultur der Bundesrepublik. Sie macht sich aber nur durch die spezifische Politik-Rezeption des ostdeutschen Wahlvolkes bemerkbar, weniger durch eine klare Modifizierung der Politikgestaltung durch ostdeutsche Politiker oder durch spürbare Politikbeeinflussung mittels eines speziellen "ostdeutschen Lobbyismus". Pointiert gesagt: Die Ostdeutschen stellen einen anderen politischen Resonanzboden dar - sie machen nicht die Musik, aber sie verändern doch ihren Klang.
Der Beitritt der Ostdeutschen hat also die politische Kultur Deutschlands vervollständigt, pluralisiert und damit auch gewissermassen normalisiert. Das berühmte Alt-Kanzler-Wort, demgemäß nun zusammenwachse, was zusammengehöre, hat sich insoweit erfüllt, als man "Zusammengehörigkeit" nicht nach einem altbackenen Harmonie- oder Identitätsverständnis interpretiert. Die Diskussion der ostdeutschen Lebensmodelle und Wertehorizonte begann zu einer Zeit, als sich innerhalb der Westkultur bereits eine Verunsicherung hinsichtlich der hochindividualisierten und flexibilisierten Identitätsmodelle und die Suche nach anders akzentuierten Lebensmodellen abzeichneten. Während die übergroße Mehrheit der Ostdeutschen der Meinung ist, dass "sie im vereinigten Deutschland ihre kulturellen Werte beibehalten sollten", meinen nur zwei Drittel der Westdeutschen, dass sie die eigenen kulturellen Werte behalten sollten . Der Wandel in Gesellschaften ist oft ein "Wandel durch Minderheiten". Möglicherweise können die Ostdeutschen mit ihren anderen Werten und einer anderen kulturellen Praxis, ihren Erfahrungen, Erinnerungen und Sinnkonstruktionen der Diskussion um den beginnenden alltagskulturellen Wandel produktive Impulse geben. Damit hätte der Beitritt "des Ostens" in "den Westen" für die Berliner Republik auch ein Moment des Kulturtransfers.