Einleitung
Die Revolution in der DDR und die Vereinigung der beiden deutschen Staaten markieren eine zentrale Zäsur in der jüngsten deutschen Geschichte. Seither sind alle Vorstellungen, alle Auffassungen, alle Anschauungen, die vormals die Jahrzehnte des Kalten Krieges bestimmten, revisionsbedürftig geworden . Eine der wichtigsten Veränderungen von der geteilten Nation zur Berliner Republik betrifft das Selbstverständnis der Deutschen, das heißt die Art und Weise, in der die Menschen sich selbst sehen und von anderen gesehen werden wollen.
In der Nachkriegszeit und den Jahrzehnten der Zweistaatlichkeit war der Blick auf deutsche Geschichte von der fundamentalen Zäsur des Jahres 1945 geprägt; die Jahreszahl markierte den eigentlichen Fixpunkt deutscher Geschichtsbetrachtung. Von vielen Deutschen wurde 1945 zunächst als Zusammenbruch der Nation erlebt, in der Folge von Intellektuellen auch als Zivilisationsbruch begriffen und schließlich seit Mitte der achtziger Jahre vorwiegend von den Nachgeborenen als Befreiung vom Nationalsozialismus verstanden. Aufgrund der Singularität der deutschen Verbrechen wurde die Hitler-Diktatur nicht selten als katastrophischer Kulminationspunkt oder sogar als Synonym für die deutsche Geschichte schlechthin betrachtet. Sowohl die Bundesrepublik als auch die Deutsche Demokratische Republik waren daher von Anfang an bemüht, ihr demokratisches Selbstverständnis und ihre historische Legitimität durch die entschiedene Negation ihres geschichtlichen Vorgängers, des Dritten Reichs, zu rechtfertigen.
Mit dem Umbruch von 1989/90 wurde diese Form der Geschichtsbetrachtung einer Neubewertung unterzogen, die zu einer bemerkenswerten Perspektivenverschiebung führte: Die historiographische Fixierung auf 1945 wurde gelockert zugunsten einer affirmativeren Wahrnehmung der Bundesrepublik, deren fünfzigjährige Existenz heute von zahlreichen Deutschlandexperten als "Erfolgsgeschichte" begriffen wird. Diese Lesart wurde von prominenten Kritikern wie Jürgen Habermas gleichwohl als eine neue "historische Interpunktion" gedeutet, die von Revisionisten mit der Absicht angestrebt werde, den Einschnitt von 1945 zu relativieren, um eine unkritische Normalität im vereinigten Deutschland zu etablieren.
I. Die Negation der Geschichte
Zwischen 1945 und 1989/90 bildete die Abkehr von der nationalsozialistischen Vergangenheit ein zentrales Merkmal des Selbstverständnisses der Deutschen in Ost und West. Was die Bundesrepublik betrifft, hat die "Negation dessen, was Deutschland zwischen 1933 und 1945 war, . . . die neu entstehende Demokratie mit begründet" . Die Abwendung vom Dritten Reich manifestierte sich in der Frühphase des neugegründeten Staates vor allem in Konrad Adenauers "Vergangenheitspolitik" , die zum einen auf die symbolische Abgrenzung vom Nationalsozialismus zielte - etwa durch verbale Schuldbekenntnisse des Bundeskanzlers und durch praktische Maßnahmen wie das Wiedergutmachungsabkommen mit Israel -, zum anderen aber auch jenen "Schlussstrich" unter die Vergangenheit intendierte, beispielsweise indem über 55 000 ehemaligen NSDAP-Mitgliedern unter Berufung auf Artikel 131 des Grundgesetzes die Rückkehr in den öffentlichen Dienst ermöglicht wurde. Diese Politik war seinerzeit trotz ihrer tiefen Ambivalenz mehrheitsfähig, weil sie der Bewusstseinslage jener allzu vielen Deutschen entsprach, die zuvor den Nationalsozialismus in der einen oder anderen Form überhaupt erst möglich gemacht hatten. Nach dem verlorenen Krieg sagte man sich zwar vom Dritten Reich los, aber diese Abkehr gründete zumeist nicht in selbstkritischer Reflexion auf das Verbrechen, sondern war Ausdruck der totalen Desillusionierung, die der Zusammenbruch des NS-Staates bewirkt hatte.
Aus der Generation der damals jungen Deutschen reagierte ein Teil nach 1945 allerdings in anderer Weise auf die jüngste Vergangenheit. Diejenigen, die als Jugendliche unter Hitler in die Irre geführt worden waren und mit Kriegsende das Erwachsenenalter erreicht hatten, erlebten 1945 den Einsturz ihres nationalsozialistischen Weltbildes, an dessen Stelle in der Folge eine zutiefst skeptische Grundhaltung trat . Günter Grass zum Beispiel, den als Angehörigen dieser Altersgruppe die "Unbeirrbarkeit des Hitlerjungen" gekennzeichnet hatte, wandelte sich zu einem Westdeutschen, der nun eine "prinzipielle Antihaltung" bezog, und zwar einerseits gegenüber der konservativen Regierung, der Wiederaufrüstungspolitik oder dem Wirtschaftswunder-Materialismus der Bundesrepublik, andererseits aber eben auch gegenüber der Vergangenheit: er verstand "sich selbstredend und ohne Risiko als Antifaschist" .
Für diejenigen aus Grass' Generation, die diesen Gestus der Verneinung teilten, erzeugte die Ablehnung der unmittelbaren Gegenwart und der Vergangenheit allerdings ein nicht unerhebliches Problem: Die Antihaltung stellte die nationale Identität dieser Altersgruppe als Deutsche grundsätzlich in Frage. Wie der Historiker Ernest Renan bereits Ende des neunzehnten Jahrhunderts deutlich gemacht hat, spielt bei der Bestimmung dessen, was eine Nation ist, die geschichtliche Dimension eine wichtige, wenn nicht die entscheidende Rolle. Neben gemeinsamen Grenzen, gemeinsamer Sprache und dem täglich sich erneuernden Willen zusammenzuleben konstituiere "der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen", einer "langen Vergangenheit von Anstrengungen, von Opfern und Hingabe" eine Nation. Interessanterweise hat Jürgen Habermas in diesem Zusammenhang eine Auffassung artikuliert, die auffallend mit der Renans korrespondiert: "Unsere Lebensform ist mit der Lebensform unserer Eltern und Großeltern verbunden durch ein schwer entwirrbares Geflecht von familialen, örtlichen, politischen, auch intellektuellen Überlieferungen - durch ein geschichtliches Milieu also, das uns erst zu dem gemacht hat, was und wer wir heute sind. Niemand von uns kann sich aus diesem Milieu herausstehlen, weil mit ihm unsere Identität, sowohl als Individuen wie als Deutsche, unauflöslich verwoben ist." Für Habermas wie für Renan konstituiert sich also die Identität einer Person oder Nation aus einer spezifischen Geschichte, die dieser Person oder Nation ein bestimmtes Profil verleiht, das sie von anderen unterscheidet.
Für Grass' Generation war diese Art der Identifikation mit der deutschen Geschichte nach 1945 allerdings unmöglich geworden. Seine vormals auf nationalsozialistische Zielsetzungen getrimmte Altersgruppe musste vielmehr erfahren, "wie schwer es ist, eine solche unheilvolle Identifikation wieder aufzulösen" . Auch Grass' Altersgenossin Christa Wolf zum Beispiel hat im Rückblick auf die Nachkriegsjahre betont, dass sie damals, "wie viele meiner Generation, intensiv gewünscht hatte, keine Deutsche sein zu müssen" . Nachdem das ungeheuerliche Ausmaß der Verbrechen ans Licht gekommen war, bot deutsche Geschichte vielen aus dieser Altersgruppe nur noch zutiefst fragwürdige Traditionsbestände. Die "klärende Rückbesinnung" war blockiert: "Die Herkunft entziffert nicht wie in anderen Nationalkulturen die Gegenwart, eher umgekehrt, sie wirkt nach wie vor bedrohlich." Im Jahr 1945 sah sich die Generation von Grass und Wolf deshalb mit nichts weniger als dem "Zusammenbruch der nationalen Identität der Deutschen" konfrontiert.
Auch für die Protestgeneration der sechziger Jahre war die kritische Negation der nationalsozialistischen Vergangenheit und deren höchst problematische Präsenz in der Gegenwart der Bundesrepublik von eminenter Bedeutung. Der Generationskonflikt flammte zu jener Zeit ja nicht zuletzt deshalb auf, weil die Eltern und Großeltern sich größtenteils unwillig gezeigt hatten, mit der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit zu beginnen. "Die Abwehr der mit der Nazivergangenheit verbundenen Schuld- und Schamgefühle ist weiterhin Trumpf", schrieben Margarete und Alexander Mitscherlich. "Alle Vorgänge, in die wir schuldhaft verflochten sind, werden verleugnet, in ihrer Bedeutung umgewertet, der Verantwortung anderer zugeschoben, jedenfalls nicht im Nacherleben mit unserer Identität verknüpft." Hans Magnus Enzensberger brandmarkte die Bundesrepublik der fünfziger und sechziger Jahre daher als "mördergrube", in der "die vergangenheit in den müllschluckern schwelt", in der "im ewigen frühling der amnesie" das Verbrechen mit "fleckenwasser" bearbeitet wird. Erst in der Kritischen Theorie der späten Frankfurter Schule fanden die Nachgeborenen die Lehre und die Sprache, um die "Kritik des Negativen" in die Praxis umzusetzen. Für diese Altersgruppe boten weder die Geschichte ihrer Eltern und Großeltern noch die Gegenwart der Bundesrepublik irgendeinen Identifikationsanreiz; statt dessen suchte sie eine Art "geschichtslosen Neuanfang" jenseits der deutschen Traditionen. Der 68er Thomas Schmid schreibt rückblickend, dass seine Generation in der "Existenz im toten Winkel der Geschichte" den "Normalfall" sah; eine Einschätzung, die illustriert, warum in der Zeitgeschichtsschreibung eine "eigentümliche Geschichtslosigkeit" für die Bundesrepublik der sechziger Jahre diagnostiziert wurde. Die Protestgeneration definierte sich nicht über die deutsche Geschichte, sondern in linker Opposition zu ihr; eben deshalb griffen viele junge Deutsche in jener Zeit andere Identifikationsangebote auf, wandten sich einem oft politisch motivierten Internationalismus zu oder verstanden sich primär als Kosmopoliten und Europäer. Enzensberger konstatierte damals mit Blick auf das Selbstverständnis seiner Generation, den Deutschen sei ihre nationale Identität 1945 so gründlich abhanden gekommen, "dass man sich fragen muss, ob von einer deutschen Nation überhaupt noch die Rede sein kann" .
Die Frage nach der nationalen Identität war damit allerdings nicht ad acta gelegt - auch nicht für Enzensberger. Nach dem Bau der Berliner Mauer schrieb er in seiner Büchner-Preis-Rede über die zwei deutschen Staaten: "Jeder Teil spricht dem andern Existenz oder Existenzberechtigung ab. Beide Teile sind sich in allen Punkten uneinig, außer in einem: dass es darauf ankomme, einander in allen Punkten zu widersprechen." Diese wechselseitige Verneinung, die in beiden Staaten zum Programm erhoben worden war, machte es den Ost- wie den Westdeutschen unmöglich, sich in einem Sinne als Deutsche zu verstehen, wie die Angehörigen anderer Staaten sich etwa als Franzosen oder Polen begreifen. "Wir sind nicht identisch mit einem dieser Staaten", schrieb Enzensberger über die beiden Deutschländer, "mit keinem von ihnen können wir uns identifizieren. Im Gegenteil: je mehr ihre Identität sich festigt, desto fragwürdiger wird die unsrige." Dieses geteilte Deutschland war im Vergleich mit seinen Nachbarländern nicht mit normalen Maßstäben zu messen, sondern stellte einen "Grenz- und Sonderfall" dar. Die Mauer, so Enzensberger damals, "trennt nicht allein Deutsche von Deutschen, sie scheidet uns alle von allen anderen Leuten". Angesichts der deutschen Anomalie kam er zu dem paradoxen Schluss: "Das einzige, was wir miteinander teilen, ist die Teilung. Die Zerrissenheit ist unsere Identität."
In der DDR bildete die Negation der nationalsozialistischen Vergangenheit eine Säule des offiziellen, von der SED propagierten Selbstverständnisses. Die kursorisch beschworene "antifaschistische Tradition" wurde zum historiographischen Diktum, das die DDR vom diktatorischen Teil der deutschen Geschichte abkoppeln sollte. Jurek Becker, in Ostdeutschland aufgewachsen, hat die "Lüge", die diesem offiziellen Selbstverständnis zugrunde lag, einmal auf sehr anschauliche Weise auf den Punkt gebracht. Die DDR, schrieb Becker in den neunziger Jahren, "erfand sich eine Geschichte, die nie stattgefunden hatte - ihre Ahnherren seien die deutschen Antifaschisten. . . . Faschismus hatte nichts mit uns, den DDR-Menschen, zu tun, auf wunderbare Weise hatten wir uns der Tatsachen entledigt. Filme über die Nazizeit waren immer Filme über den antifaschistischen Widerstand; der Schulunterricht über die Nazizeit war kein Unterricht über unsere jüngste Geschichte, er handelte stets von den Untaten dieser schrecklichen aliens, die wir, die Antifaschisten, mit etwas Unterstützung durch die Rote Armee, besiegt hatten. Von den zehntausend Antifaschisten, die es in Nazideutschland gegeben haben mag, lebten allein acht Millionen in der DDR" .
Eine weitere Funktion des antifaschistischen Imperativs bestand darin, das internationale Profil der DDR durch die permanente ideologische Negation der Bundesrepublik aufzuwerten. Von offizieller Seite wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass in Westdeutschland noch jene ideologischen Übel fortlebten, die es in der DDR angeblich nicht mehr gab. Ein linientreuer Schriftsteller wie Stephan Hermlin beschrieb die DDR deshalb Anfang der sechziger Jahre als "Antiglobkestaat" , in dem ehemalige Nazis wie Hans Globke, damals noch Staatssekretär unter Adenauer, keine Chance hätten. Die DDR war in der Tat ein "Gegenstaat" , der zur Konturierung seines positiven Profils die Bundesrepublik als negativen Gegenspieler benötigte. Auf diese Weise sollte der antifaschistische Imperativ zudem jenen ostdeutschen Minderwertigkeitskomplex ausgleichen, der in der territorialen und ökonomischen Asymmetrie zwischen den beiden Staaten gründete. Um die deutsche Ungleichheit wegzublenden und die historische Legitimität der DDR zu unterstreichen, begann die Regierung deshalb in den sechziger Jahren, "das Wort ,deutsch' aus allen öffentlichen Namen zu streichen und es durch ,DDR' zu ersetzen" . Maßnahmen dieser Art spiegelten allerdings nicht die Meinungen und Wünsche durchschnittlicher Bürger wider; in der Realität gelang es den DDR-Offiziellen nicht, die Ostdeutschen in eine sozialistische Klassennation umzuformen, und zwar weil "nationale Identitäten nicht einfach kurzfristig durch politische Manipulationen geschaffen oder verändert werden" .
In der Geschichte Ostdeutschlands gab es lediglich zwei Zeitabschnitte, in deren Verlauf die Herausbildung einer unabhängigen DDR-Identität möglich erschien: zum einen die "Phase der Nachkriegsentwicklung", als - wie Christa Wolf erläutert hat - "die allmähliche Identifikation von uns damals jungen Leuten mit der späteren DDR" sich abzeichnete - eine Entwicklung, die in den folgenden Jahren allerdings durch repressive staatliche Maßnahmen zunehmend zunichte gemacht wurde; zum anderen die Umbruchjahre von 1989/90, als die radikale öffentliche Kritik am "realexistierenden Sozialismus" die Möglichkeit einer vom Volk selbst bestimmten DDR aufscheinen ließ. Nach Erich Honeckers Sturz im Herbst 1989, schreibt beispielsweise Friedrich Schorlemmer, "gab es kurzfristig eine gelingende Identität der DDR-Deutschen, die sich auf sich selbst besannen und einen eigenständigen, grundlegenden demokratischen Umgestaltungsprozess begannen" . Auch Jens Reich unterstreicht in dieser Hinsicht: "Alle Ergebnisse dieses unglaublichen Vierteljahres führten dazu, dass ich mich mit der DDR im letzten agonalen Jahr ihres Bestehens doch noch identifizierte." Insgesamt bleibt allerdings festzuhalten, daß es abgesehen von diesen beiden Phasen "keine Identität gab", die für die DDR spezifisch gewesen wäre, "nur eine, die abgesichert wurde durch den Sicherheitsapparat" . Wie viele andere Bürger auch, bemerkt Schorlemmer, habe er sich "nie als DDR-Deutscher gefühlt. Ich war immer ein Deutscher aus der DDR" . Dass die Mehrheit der Bürger sich nicht mit ihrem Staat identifizierte, machten die Übersiedlerzahlen und die Ausreiseanträge in den Jahren der Teilung unmissverständlich deutlich. Mit Blick auf die Abwanderung aus dem SED-Staat, insbesondere der "Kinder der DDR", hat auch Christa Wolf eingeräumt, "dass die Verhältnisse in der DDR diesen jungen Leuten anscheinend keine wie immer streitbare, konfliktreiche Identifikation mit diesem Staat, und sei es im Widerspruch, ermöglicht haben" .
Da die Teilung der Nation die Herausbildung einer gesamtdeutschen Identität nicht erlaubte, propagierte der Politologe Dolf Sternberger von den späten siebziger Jahren an ein Konzept, das auf der Zweistaatlichkeit als Prämisse beruhte. In seinen Überlegungen zum "Verfassungspatriotismus" konzedierte Sternberger zunächst durchaus: "Das Vaterland ist in der Tat schwer zu finden, dasjenige, welches eine natürliche Empfindung der Zugehörigkeit, der fraglosen Identifizierung erlaubte und zu erwecken imstande wäre." Doch obwohl wir nicht in einem "ganzen Deutschland" leben, so Sternberger, leben wir zumindest in einer "ganzen Verfassung", dem Grundgesetz; und seit 1949 "hat sich unmerklich ein neuer, ein zweiter Patriotismus ausgebildet, der eben auf die Verfassung sich gründet" . Sternbergers Modell wurde von vielen Westdeutschen, zumal den gebildeteren, begrüßt, weil es eine Art pragmatisches Arrangement mit dem Identitätsproblem ermöglichte. Es enthielt allerdings auch zwei substantielle Defizite; zum einen schloss es die Deutschen in der DDR nicht mit ein, zum anderen wies es einen merkwürdig ahistorischen Aspekt auf: Die gesamte Dimension der deutschen Geschichte vor der Einführung des Grundgesetzes im Jahr 1949 blieb in ihrer zentralen Bedeutung für das Selbstverständnis der Bürger der Bundesrepublik unberücksichtigt.
Mitte der achtziger Jahre avancierte die kritische Negation der Vergangenheit schliesslich zum Zankapfel des berühmten Historikerstreits. Dessen Ausgangspunkt bildete damals die Infragestellung der Singularität des Holocaust durch Ernst Nolte, der einen "kausalen Nexus" zwischen Auschwitz und dem Archipel GULag behauptete und die sowjetische Untat für "ursprünglicher" als das deutsche Verbrechen erklärte. Als Noltes Hauptopponent bekämpfte Jürgen Habermas insbesondere dessen Relativierung des Holocaust, war aber zugleich nicht minder darum bemüht, die gesellschaftspolitische Intention hinter Noltes Lesart der Geschichte zu entlarven: nämlich "eine revisionistische Historie in Dienst [zu] nehmen für die nationalgeschichtliche Aufmöbelung einer konventionellen Identität" . Habermas fürchtete, dass die deutsche Vergangenheit nicht länger kritisch überprüft würde, sondern sich durch Noltes Interpretation positive Identifikationsangebote eröffnen, die zur Erneuerung eines konventionellen deutschen Selbstverständnisses führen könnten. Obwohl Habermas in der Auseinandersetzung mit Nolte und dessen Gesinnungsgenossen am Ende die Oberhand behielt und das Forum nutzte, um als Alternative Sternbergers Konzept des Verfassungspatriotismus zu propagieren, führte auch der Historikerstreit nicht zur Lösung des Identitätsproblems. Das zeigte nicht nur die akademische Diskussion, sondern wurde auch in der Literatur der achtziger Jahre deutlich. Peter Schneider zum Beispiel, einer der führenden Aktivisten der 68er-Generation, hat die zerrissene deutsche Position jener Zeit eindringlich in der Erzählung Der Mauerspringer von 1982 festgehalten.
II. Die Neubewertung der Bundesrepublik
Ende der achtziger Jahre führten die politischen Eruptionen in Mittel- und Osteuropa zu einer grundlegenden Verschiebung der historiographischen Perspektive: Zunehmend affirmative Wahrnehmungen deutscher Zeitgeschichte begannen sich abzuzeichnen. Schon die Titel internationaler Publikationen verkünden eine "Annäherung an Deutschland" , geben Deutschland eine "zweite Chance" oder enthalten gar eine "Liebeserklärung" an die "schrecklichen Deutschen" . Zahlreiche Veröffentlichungen deutscher Autoren weisen einen ähnlichen Tenor auf: Während Kurt Sontheimer zum Beispiel behauptet, dass die Geschichte der Bundesrepublik "seit 1949 wahrlich ein differenziertes Lob verdient" , fühlt sich Arnulf Baring gar zu dem Ausruf legitimiert: "Es lebe die Republik, es lebe Deutschland!" In den Schriften dieser und anderer Deutschlandexperten bildet nicht mehr vorrangig das Jahr 1945, sondern die Zäsur von 1989/90 den eigentlichen Bezugspunkt und Bewertungsmaßstab für deutsche Zeitgeschichte.
Für diese neuen, affirmativen Interpretationen gibt es eine Reihe von Gründen. Der erste betrifft die "Wiederkehr der Geschichte" mit der Zeitenwende von 1989/90, als die Bürger der DDR zum ersten Mal seit dem Arbeiteraufstand vom Juni 1953 ihr Schicksal wieder in die eigenen Hände nahmen und sich in einer friedlichen Revolution von einem diktatorischen Regime befreiten. Der folgende Vereinigungsprozess zeigte ebenfalls, dass die Deutschen den "Wartesaal der Geschichte" verlassen hatten: Kanzler Kohls Zehn-Punkte-Programm, die Volkskammerwahlen im März 1990, die Einführung der D-Mark im Sommer und die offizielle Vereinigung am 3. Oktober desselben Jahres waren Akte der Selbstbestimmung. In ihrer Verbindung zeigen sie, dass die Deutschen in den Jahren 1989/90 zum ersten Mal seit 1945 wieder begannen, eine gemeinsame Geschichte zu schreiben.
Ein zweiter Grund war der Glaube, dass die Öffnung der Grenzen nicht nur die territoriale und ökonomische Asymmetrie, sondern auch die kulturelle und mentalitätsbedingte Zerrissenheit beenden würde, die die Deutschen nicht erst seit 1945 gespalten hat. In einer eindrucksvollen Studie hat Fritz Stern gezeigt, dass vor allem anderen "das Drama der deutschen Zerrissenheit" der Grund dafür war, dass es Deutschland nicht gelang, im 20. Jahrhundert eine konstruktive Rolle zu spielen, ja der es Hitler überhaupt erst ermöglichte, zur Macht aufzusteigen. In Anbetracht der Zäsur von 1989/90 allerdings erscheint deutsche Geschichte für Stern in einem anderen Licht, und zwar insofern, als er konstatiert, dass die "alte Bundesrepublik etwas geleistet hat, was in den vorhergehenden Jahrzehnten nicht erreicht wurde - die Überwindung der alten Zerrissenheit" . Die gleiche, von vielen Deutschen seinerzeit geteilte Überzeugung brachte ja auch Willy Brandt am Tag nach der Maueröffnung zum Ausdruck, als er vor dem Schöneberger Rathaus sagte, dass jetzt zusammenwachse, was zusammengehöre .
Ein dritter Grund liegt in der Tatsache, dass die Vereinigung Deutschland normaler, das heißt, seinen europäischen Nachbarn ähnlicher gemacht hat. Es bestehe kein Zweifel, schreiben Andrei S. Markovits und Simon Reich, bis 1989 sei Deutschland aufgrund seiner Teilung entlang der Frontlinie des Kalten Krieges "in no way normal" gewesen. Nach der jüngsten Zeitenwende allerdings haben durchschnittliche Bürger die Zusammenfügung der beiden Staaten auch im Sinne einer psychologischen Normalisierung erlebt, und zwar weil die Teilung von vielen als eine Art Strafe für den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust empfunden worden war . In Anbetracht des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik und der vertraglichen Regelung aller Grenzfragen muss die Deutsche Frage heute als gelöst gelten. Zum ersten Mal in der Geschichte respektiert oder unterstützt die Mehrheit der Deutschen das demokratische System und die Institutionen des Landes und erkennt die Grenzen mit allen neun Nachbarstaaten an.
Ein letzter Grund für die Neubewertung der Geschichte ist, dass die jüngste Zeitenwende den Weg zur Beantwortung der Frage nach der nationalen Identität frei gemacht hat. Zuvor hatten die nationalsozialistische Vergangenheit und die Teilung eine allen Deutschen offen stehende Identifikation mit ihrer Geschichte versperrt. Die ungeheuerlichen Ereignisse vor 1945 und die beiden zutiefst unterschiedlichen deutschen Geschichten seit 1949 hatten diese Option nicht zugelassen. "Viele der verworrenen und neurotischen Versuche einer deutschen Identitätsfindung während der vergangenen vierzig Jahre waren ganz offensichtlich Resultat der abnormen Teilung in zwei Staaten." Erst die Zäsur von 1989/90 beendete diese Anomalie und führte dazu, dass die Deutschen wieder begannen, eine gemeinsame Geschichte zu schreiben, auf die sie sich - wenn sie es wünschen - affirmativ beziehen können. Allerdings hat diese gemeinsame Geschichte kaum erst begonnen, und die alten und neuen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zwischen Ost und West verursachen weiterhin große Probleme. Richard Schröder hat deshalb zu Recht betont, dass die Deutschen ihre unterschiedlichen Geschichten vereinigen müssen, wenn die Vereinigung als Ganzes gelingen soll. Um dies zu erreichen, so Schröder, müssten sie sich wieder als ein Volk verstehen, und zwar nicht, indem sie sich - wie zwischen 1871 und 1945 - gegen ihre Nachbarn und die angeblichen inneren Feinde abgrenzen, sondern sich von dem Grundsatz leiten lassen, dass es "nichts Besonderes, aber etwas Bestimmtes" bedeute, heute Deutscher zu sein.
In diesem Zusammenhang sollte überdies bedacht werden, ob in einem zusammenwachsenden Europa überhaupt weiterhin von "deutscher" oder "nationaler Identität" die Rede sein muss und ob es nicht zeitgemäßer wäre, statt dessen von einem "deutschen Selbstverständnis" zu sprechen. Sicher lassen sich beide Begriffe nicht vollkommen voneinander trennen, aber es gibt Unterschiede, sowohl auf der denotativen als auch auf der konnotativen Ebene. Gängigen Definitionen zufolge ist mit "Identität" eine "Übereinstimmung, Gleichheit in allen Merkmalen" oder gar "Wesenseinheit" gemeint. Auf das Konzept der Nation bezogen, wirkt das dem Begriff inhärente Ideal einer Art absoluter Identifikation oder Symbiose von Subjekt und Nation ausgesprochen anachronistisch. Im Kontext der europäischen Integration gesehen zeigt sich zudem, dass derartigen Definitionen die Wahrnehmung der Nachbarnationen vollkommen abgeht. Überdies kann man sich mit Blick auf Deutschland der Assoziation der nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft" kaum erwehren. Zwei Gründe sprechen dafür, dem Begriff "Selbstverständnis" mehr Platz einzuräumen. Zum einen ist er frei von jenen prekären geschichtlichen Konnotationen; zum anderen kommt er ohne den Aspekt der Symbiose von Subjekt und Nation aus. Man kann sich ja zum Beispiel durchaus als Deutscher verstehen, ohne gleich eine "Wesenseinheit" mit der Nation zu verspüren. Und es gibt noch einen dritten Grund, auf der sprachlichen Ebene, der für die Verwendung des Begriffs spricht. In der jüngsten Forschung ist zu Recht betont worden, dass "nationale Identität", wie andere Identitäten auch, nicht als eine zeitunabhängige, quasi absolute Essenz, sondern vielmehr als relatives Konstrukt, als menschliches Modell, verstanden werden sollte. "There is no such thing as an ,essential' national identity" , schreibt Mary Fulbrook und spricht deshalb von "national identity construction" . Auch wenn man in der Debatte um die Berliner Republik nicht am Begriff der "nationalen Identität" vorbeikommt, scheint doch die Rede vom "Selbstverständnis" in diesem Zusammenhang angemessener, zumal dieser Begriff den Konstruktionscharakter stärker hervortreten lässt: Die gängigen Definitionen betonen, dass mit dem "Selbstverständnis", das eine Person oder Gruppe von sich hat, vor allem eine "Vorstellung", etwas Konstruiertes also, gemeint ist.
III. Selbstverständnis und "Normalität"
Affirmative Lesarten deutscher Zeitgeschichte sind von Teilen der politischen Linken in Deutschland heftig kritisiert worden. Insbesondere Jürgen Habermas hat hervorgehoben, dass der Einschnitt des Jahres 1945 in der "alten" Bundesrepublik aus gutem Grund einen zentralen historiographischen Bezugspunkt repäsentierte. Für Habermas kommt dieser Jahreszahl vor allem dadurch eine singuläre Bedeutung zu, weil sie auf Auschwitz verweist, das seiner Überzeugung zufolge "zur Signatur eines ganzen Zeitalters" geworden ist; eine Lesart, die ja beispielsweise auch Günter Grass teilt, für den die deutschen Verbrechen dergestalt eine Zäsur darstellen, "dass es nahe liegt, die Menschheitsgeschichte und unseren Begriff von menschlicher Existenz mit Ereignissen zu datieren, die vor und nach Auschwitz geschehen sind" . Allein die kritische Reflexion auf diesen Zivilisationsbruch, so Habermas, habe in der Bundesrepublik seit 1949 die Entstehung politisch zivilisierter Verhältnisse erlaubt, ja eine "liberale politische Kultur" habe sich überhaupt nur "wegen Auschwitz" ausbilden können . Aus dieser Perspektive avancieren das Jahr 1945 und insbesondere der Holocaust zu einem alles andere überragenden Maßstab, an dem die Bewertung von Zeitgeschichte sich ausrichten soll. Affirmative Geschichtsinterpretationen neueren Datums werden als "revisionistische Lesarten" verworfen, weil sie Habermas zufolge eine "historische Interpunktion" anstreben, die auf zweierlei zielt: zum einen darauf, den Bruch von 1945 zugunsten einer Relativierung von Auschwitz einzuebenen, und zum anderen darauf, 1989/90 als das Ende einer vorübergehenden Anomalie zu begreifen, das den Deutschen die Rückkehr zur Normalität erlaubt .
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums weigern sich Historiker wie Arnulf Baring, Auschwitz als das "zentrale Datum" oder die "Essenz unserer Geschichte" zu verstehen. "Es ist falsch zu glauben, unsere Geschichte müsse und könne nur im Lichte der Vernichtungslager gesehen werden." Statt dessen spricht er sich für eine umfassendere Perspektive aus, die die "Vielgestaltigkeit, Vieldeutigkeit und Offenheit unserer Geschichte" mit in Betracht zieht. Den Holocaust begreift Baring daher nur als eines von vielen Geschichtskapiteln, obwohl er eingesteht, dass diese Vergangenheit schwer auf den Deutschen lastet: "Nichts wird uns von ihr erlösen." Barings Lesart rückt nicht die NS-Zeit, sondern die "demokratische Erneuerung" der vergangenen fünfzig Jahre in den Vordergrund, die den Deutschen das Recht auf eine "freudige Bejahung der Staatsform, die wir uns gegeben haben" , einräume. Eine Bemerkung von Angela Merkel, der neuen Vorsitzenden der CDU, illustriert, wie weit diese affirmative Neubewertung von Zeitgeschichte bereits ins Alltagsbewusstsein vorgedrungen ist: "Wir sollten ein natürliches Gefühl für unsere ganze Geschichte entwickeln und dann sagen: Wir sind auch froh, Deutsche zu sein."
Der zentrale Punkt an diesen unterschiedlichen Lesarten ist, dass es Habermas und Baring gleichermaßen darum geht zu definieren, welche Art "Normalität" das neue Selbstverständnis der Berliner Republik prägen soll. So gesehen dreht sich alles - wie beim Historikerstreit Mitte der achtziger Jahre - um die Deutungshoheit über Zeitgeschichte . Für Habermas ist das Bemühen um die Herstellung einer quasi genuinen Normalität in Deutschland inakzeptabel, weil sie die Relativierung und Einebnung jenes Zivilisationsbruchs zur Voraussetzung haben würde. Die Bürger der "alten" Bundesrepublik hätten wenigstens ein gewisses Gespür dafür entwickelt, "dass nur die Vermeidung eines auftrumpfend-zudeckenden Bewusstseins von ,Normalität' auch in unserem Land halbwegs normale Verhältnisse hat entstehen lassen" . Bedenklich sei deshalb, dass revisionistische Historiker wie Michael Stürmer heute Fragwürdigkeiten verkündeten, die auf die Devise hinausliefen: "Um wieder eine normale Nation zu werden, sollten wir uns der selbstkritischen Erinnerung an Auschwitz erwehren."
Andere Deutschlandexperten hingegen verstehen die Zäsur von 1945 kaum mehr als maßgebend, sondern beschreiben das heutige Deutschland als "finally normal - ,stinknormal', in the Berlin argot" . Die neue Normalität des Landes, so die beiden Autoren, "probably grants it the same tolerance for mistakes that others enjoy" . Kurt Sontheimer schliesslich betont, noch bestehende Unterschiede zwischen den Deutschen und ihren Nachbarn werden "doch überwölbt von einer gemeineuropäischen modernen Normalität, in der nun endlich auch die Deutschen ihren Platz und ihre Rolle gefunden haben" .
IV. Schlussbetrachtung
Für das neue Selbstverständnis der Berliner Republik ist die historische Zäsur von 1989/90 von entscheidender Bedeutung. Mit ihr wurde die Negativfixierung auf die nationalsozialistische Vergangenheit gelockert zugunsten einer Neubewertung der Geschichte der Bundesrepublik seit 1949. Deren fünfzigjährige Existenz wird heute weithin als "Erfolgsgeschichte" begriffen, nicht zuletzt weil der Beitritt der DDR so etwas wie eine gesamtdeutsche Ratifizierung des Grundgesetzes vollzog. "Für die Bundesrepublik hat der Zusammenbruch des Staatssozialismus in der DDR zunächst einmal einen Selbstanerkennungsstoß sondergleichen ausgelöst." Nach Jahrzehnten deutscher Systemkonkurrenz beglaubigte der Untergang der DDR gleichsam die historische Legitimität der Bundesrepublik. Fritz Stern hat die Vereinigung deshalb treffend als "eine Art zweiter Anerkennung der Bundesrepublik" bezeichnet.
In Anbetracht der ganzen deutschen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts bleibt allerdings zu fragen, ob diese neue "historische Interpunktion" gerechtfertigt ist, oder ob der Einschnitt von 1945 nicht doch weiterhin als entscheidende historiographische Orientierungsmarke begriffen werden sollte. Es besteht wohl kein Zweifel, dass die fundamentale Umgestaltung Mittel- und Osteuropas eine kritische Revision der alten Positionen und Maßstäbe erfordert. Deshalb wird der "große Umbruch" von 1989/90, wie Jürgen Kocka betont hat, "nicht vorbeigehen an der Art, in der wir Geschichte schreiben" . Das kann allerdings nicht bedeuten, dass der Zivilisationsbruch von 1945 eingeebnet oder durch 1989/90 überdeckt werden sollte. Für die Deutschen steht 1945 weiterhin für eine nicht zu bewältigende Vergangenheit, deren Ungeheuerlichkeiten als Warnung der Geschichte Geltung haben müssen - nicht zuletzt, weil sie die Deutschen lehren, wer sie waren, wer sie nicht mehr sind und wer sie nicht wieder sein wollen. In ihrem Enthusiasmus für die bundesdeutsche "Erfolgsgeschichte" verlieren einige konservative Kommentatoren diese Lektion aus dem Blick und propagieren eine Position, die versucht, "to ,normalise' Auschwitz, to render it part of Germany's lively pluralist political culture like any other topic" .
Auf der anderen Seite werden aber auch linke Kritiker der Sache nicht in vollem Umfang gerecht, wenn sie 1945 zur einzigen Messlatte deutscher Geschichtsbetrachtung erklären. Diese Sicht ist zwar verständlich, zumal wenn man berücksichtigt, dass zum Beispiel Jürgen Habermas und Günter Grass der "Auschwitz-Generation" angehören, also jenem Jahrgang, dem "inmitten der üblichen Daten, das Datum der Wannsee-Konferenz eingeschrieben war" . Für einige aus dieser Altersgruppe, vor allem für die Überlebenden, ist der Holocaust deshalb zum Maß aller Dinge geworden. Zugleich aber lässt sich die Tatsache nicht übersehen, dass die große Mehrheit der Deutschen von heute nicht mehr direkt vom Nationalsozialismus geprägt wurde. Den wirklich formenden Einschnitt in der Biographie vieler Menschen markieren vielmehr die Jahre 1989/90, insbesondere in Ostdeutschland, wo die jüngste Zeitenwende die Lebensläufe und Lebensbedingungen fast aller Bürger radikal veränderte. Eine rationale und realistische Lesart deutscher Zeitgeschichte sollte daher beide Daten als zentrale Bezugspunkte ins Auge fassen: Es ist zum einen unerlässlich, die eminente Bedeutung von 1945 als Niederlage, Zivilisationsbruch und Befreiung von außen zu erfassen. Diese Einsicht sollte jedoch auf der anderen Seite nicht die Dimension von 1989/90 verkleinern; denn als positive Zäsur steht diese wichtigste Jahreszahl seit 1945 immerhin für die friedliche Selbstbefreiung von einer Diktatur und den Wiederbeginn einer selbstbestimmten Geschichte in ganz Deutschland.
Richard Schröder hat sich dafür ausgesprochen, dass es heute "nichts Besonderes" mehr bedeuten dürfe, Deutscher zu sein. Im Vergleich betrachtet ist die Berliner Republik in der Tat normaler, als es die Mehrzahl der deutschen Staatsgebilde im zwanzigsten Jahrhundert je war. Jenen fragwürdigen "Sonderweg", der die Nation vor 1945 der westlichen Welt entfremdete und unter dem Nationalsozialismus in einem absurden "Sonderbewusstsein" gipfelte, hat das Land längst verlassen; mit der Vereinigung legte Deutschland auch seine bilateralen und internationalen "Sonderrollen" ab; es stellt also keinen "Sonderfall" mehr dar, wie Hans Magnus Enzensberger noch in den Zeiten der Teilung formuliert hatte. Vielmehr spricht der deutsche Außenminister heute zu Recht davon, dass die "Vollendung der EU . . . das oberste nationale Interesse Deutschlands" sei.
Mit diesem Selbstverständnis will Richard Schröder aber nicht nur die relative Normalität der Deutschen in Europa, sondern eben auch "etwas Bestimmtes" verbunden wissen. Es reiche nicht, sich heute ins unverbindliche Menschheitspathos zu flüchten, weil man damit den anderen in seiner "Nationalität und Geschichte" nicht erkenne. Was die Deutschen in der Tat wesentlich von den Bürgern anderer Staaten unterscheidet, ist ihre Geschichte - auch wenn sich heute die Lebensformen und Mentalitäten in Europa einander annähern. Während zum Beispiel die Briten ihr Selbstverständnis nicht zuletzt über die gewonnenen Weltkriege und die bemerkenswerte Kontinuität ihrer demokratischen Traditionen definieren, wurden die Deutschen zu dem, was sie heute sind, durch zwei verlorene Weltkriege und das Holocaust-Verbrechen, durch vier Jahrzehnte der Teilung, schliesslich durch die friedlich geglückte Revolution in der DDR und die Zusammenfügung der beiden Staaten zur Berliner Republik. Diese zutiefst ambivalente, von Brüchen geprägte Vergangenheit hat bei den Nachkriegsgenerationen eine oft kritischere Einstellung gegenüber der eigenen Geschichte herausgebildet, als das anderswo zuweilen der Fall ist. Zumindest in den letzten drei Jahrzehnten konnte sich deshalb die Aufarbeitung fragwürdiger Geschichtsabschnitte zu einer spezifischen Qualität der politischen Kultur in Deutschland entwickeln. Die neueren öffentlichen Debatten lassen erkennen, dass nicht wenige Bürger die Normalität der Berliner Republik durchaus im Licht der problematischen deutschen Geschichte sehen.
Zum Selbstverständnis der Berliner Republik gehört auch die Zäsur von 1945. Dies dokumentiert am eindringlichsten die öffentliche Debatte über die Errichtung des Holocaust-Mahnmals im Zentrum von Berlin. Diese erste gesamtdeutsche Kontroverse zeigte von den späten achtziger Jahren bis zum Bundestagsentscheid vom Juni 1999, dass Politiker, Akademiker, Publizisten, Künstler und durchschnittliche Bürger die deutsche Vergangenheit kritisch in der Gegenwart repräsentiert sehen wollen - nicht irgendwo in Deutschland, sondern an einem von niemandem zu übersehenden öffentlichen Ort zwischen dem Potsdamer Platz und dem Brandenburger Tor. Die Debatte und die anschließende Entscheidung zum Bau des Mahnmals haben im Grunde die von Andrei S. Markovits und Simon Reich geäußerte Befürchtung entkräftet, wonach Deutschland in seinem Wunsch nach Normalität möglicherweise sein "collective memory" aufgeben könnte "to normalise its relations with the past" . Das Selbstverständnis der Deutschen ist überwiegend nicht von dem Drang geprägt, eine unkritische Normalität zu etablieren. Im Gegenteil, selbst Jürgen Habermas hat bei allen Vorbehalten über das Mahnmal-Projekt bemerkt: "Mit dem Denkmal bekennen sich die heute lebenden Generationen der Nachkommen der Täter zu einem politischen Selbstverständnis, in das die Tat . . . als persistierende Beunruhigung und Mahnung eingebrannt ist." Genau dort also, wo man die in den vergangenen Jahren oft zitierte Neue Mitte findet, unter den brandneuen und restaurierten Bauwerken der Stadt, wird sich das von Peter Eisenman entworfene Stelenfeld zum Gedenken an die ermordeten europäischen Juden wie eine Art Kainsmal in die Züge der Berliner Republik einprägen. So sehen sich, so wollen viele Deutsche heute offenbar gesehen werden.