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Berliner Republik Editorial Berlin schafft keine neue Republik - und sie bewegt sich doch Das neue Selbstverständnis der Berliner Republik Der Osten in der Berliner Republik Leitkultur als Wertekonsens Leitkultur und Berliner Republik

Berlin schafft keine neue Republik - und sie bewegt sich doch

Kurt Sontheimer

/ 9 Minuten zu lesen

Durch den Umzug von Regierung und Parlament nach Berlin ist keine neue oder andersartige Republik entstanden. Die Rede von der Berliner Republik hat ihren Schwerpunkt im Feuilleton.

Einleitung

Berlin ist mit dem Umzug der wichtigsten Verfassungsorgane - Bundestag und Bundesrat, Bundespräsident und Bundesregierung - das selbstverständliche Zentrum der deutschen Politik geworden. Fast fünfzig Jahre lang war der Weststaat Bundesrepublik von Bonn aus regiert worden, nun hat, dank der glücklichen Wiedervereinigung beider deutscher Staaten, die frühere Hauptstadt des Deutschen Reiches das Kommando übernommen. Die Bundesrepublik Deutschland wird von Berlin aus regiert, Berlin ist nicht bloß auf dem Papier, sondern effektiv und realiter die Hauptstadt der Bundesrepublik. Was hat dieser Ortswechsel der Hauptstadt für die Bundesrepublik bedeutet, was hat er für Auswirkungen auf die Politik und das politische System gezeitigt und wie haben sich die Deutschen mit der Tatsache abgefunden, dass sie seit über einem Jahr von Berlin aus regiert werden? Ist, um es auf die kürzeste Formel zu bringen, aus der Bonner Republik eine Berliner Republik geworden?

Es mag, wenn man es mit den Augen eines Zeithistorikers betrachtet, eine Zumutung sein, diese Fragen schon jetzt beantworten zu wollen, aber für den Politikwissenschaftler gehört es zum Geschäft, den drängenden und interessanten Themen der unmittelbaren Gegenwart nicht auszuweichen, auch wenn sie sich nicht mit wissenschaftlicher Zuverlässigkeit beantworten lassen, weil die Dinge zu sehr im Fluss sind und objektivierbare Ergebnisse kaum vorliegen. Immerhin kann man versuchen, im Rückgriff auf die bisher geführte politische und publizistische Debatte eine vorläufige Bestandsaufnahme der Entwicklung der Bundesrepublik auf ihrem Weg von Bonn nach Berlin zu erheben. In diesem Sinne möchte dieser Essay verstanden und beurteilt werden.

Es empfiehlt sich bei unserem Thema, daran zu erinnern, dass in den ersten Monaten nach der erfolgten Wiedervereinigung vom 3. Oktober 1990 auch eine ganz andere Lösung des Hauptstadtproblems in der Diskussion war, nämlich die Beibehaltung von Bonn als Regierungssitz der Bundesrepublik. Heute kommt es einem fast absurd vor, dass über die im Vereinigungsvertrag offen gebliebene Frage, ob das zur Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland erklärte Berlin auch deren Regierungssitz werden sollte, damals eine heftige Auseinandersetzung tobte und die Abstimmung vom 20. Juni 1991 nur eine geringe Mehrheit für Berlin als Regierungssitz erbrachte. Nur 338 Abgeordnete stimmten an jenem Tag nach einer spannungsvollen Debatte für Berlin als tatsächliche Hauptstadt Deutschlands, während sich immerhin noch 320 für Bonn entschieden, darunter die Mehrheit der Parlamentarier aus der alten Bundesrepublik. Es war bei diesem knappen Ergebnis ein kleiner Lichtblick, dass die meisten prominenten deutschen Politiker jener Jahre wie Richard von Weizsäcker, Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble, Willy Brandt, Hans-Jochen Vogel und Hans-Dietrich Genscher für Berlin votierten, aber auch die Gegenseite war um politische Prominenz nicht verlegen. Es ist erstaunlich, dass dieses Abstimmungsverhalten, bei dem es doch um eine politische Grundentscheidung für das neue Deutschland ging, in der Folgezeit so wenig beachtet und den Abgeordneten positiv oder negativ zugerechnet worden ist. Die Parteinahme für Bonn gilt als ebenso honorig wie die für Berlin, obwohl es zu den Konstanten der deutschen Politik gehört hatte, im Falle der Wiedervereinigung wieder nach Berlin zurückzukehren. Politik ist in der Regel schnelllebig. Sie nährt sich am liebsten von den Konflikten der jeweiligen Aktualität und stellt, wenn es hart auf hart kommt, die vordergründigen materiellen und regionalen Interessen über eingegangene Verpflichtungen, die anscheinend zu nichts verpflichten. Das starke Votum zugunsten Bonns ist kein Ruhmesblatt in der Geschichte des Deutschen Bundestages, aber niemand nimmt es ihm übel.

Natürlich waren die Gegner des Umzugs von Parlament und Regierung nach Berlin um Argumente nicht verlegen. Da erinnerte man sich plötzlich wieder der unheilvollen Rolle, die Berlin als Reichshauptstadt und schon als Kapitale des militaristischen Preußens gespielt hatte. Man wähnte die demokratische Kultur der westlichen Bundesrepublik in Gefahr, wenn das Land vom Osten her, von Berlin aus regiert würde. Man pries das kleine, brave Bonn als unverzichtbaren westlichen Vorposten für Deutschlands Anbindung an Europa und was der phantasievollen Eingebungen, mit denen vorrangig praktische Interessen bemäntelt wurden, sonst noch waren. Die Hauptstadtdebatte hat jedenfalls gezeigt, dass die Berufung auf die Geschichte kein verlässlicher Ratgeber für politische Entscheidungen sein muss, aber auch, dass man im Zeitalter hochentwickelter Technik und Kommunikation der Ortsbestimmung einer Hauptstadt, in der die politischen Entscheidungen für den Gesamtstaat getroffen werden, viel zu großes Gewicht beigemessen hat. So konnte Berlin als Gespenst für das böse Deutschland benutzt werden, anstatt alles daran zu setzen, es mit dem neuen, demokratischen Deutschland zu verbinden.

Ich kann auf die auch im Ausland lebhaft geführte Debatte über die Zukunft des wieder vereinigten Deutschland und seine Rolle in Europa und der Welt nicht näher eingehen, aber sie offenbarte doch ein hohes Maß an Angst und Wunschdenken, eine Lust an der politischen Spekulation, ein behändes Spiel mit beliebigen Versatzstücken aus der Geschichte, aber man sollte auch nicht verkennen, dass seit dem Fall der Berliner Mauer die Wiederherstellung Gesamtdeutschlands das vielleicht wichtigste und langfristig bedeutsamste historische Ereignis war. Es lag in der Natur der Sache, dass dieser außerordentliche politische Wandel in Deutschland überall aufmerksam verfolgt wurde. In der innerdeutschen Diskussion konzentrierte sich diese Diskussion auf die Frage: Wird aus der Bonner Republik nun eine Berliner Republik, und was bedeutet dies für Deutschland, Europa und die übrige Welt?

Die Formel von einer Berliner Republik, die auf die Bonner Republik folgen und anders sein würde als ihre Vorgängerin, ist erstmals von dem inzwischen verstorbenen Publizisten Johannes Groß in einem Buch geprägt und positiv interpretiert worden. Seither gibt es, vorwiegend in der gehobenen Publizistik, eine lebhafte und auch interessante Debatte über die Frage, inwiefern die Vereinigung der jahrzehntelang getrennten deutschen Staaten ein neuartiges politisches Gebilde hervorbringen würde. Was würde sich an und in der Bundesrepublik durch die Einbeziehung der fünf neuen Länder in den Geltungsbereich des Grundgesetzes ändern? Die durch die Wiedervereinigung geschaffene neue nationale Situation war selbstverständlich das große, beherrschende Thema der politischen Diskussion in den Parteien, Parlamenten und den Massenmedien. Das Thema Berliner Republik bot den Journalisten nicht nur genügend Stoff für eine Beobachtung und Kommentierung des Vereinigungsprozesses, sondern eignete sich auch für allerlei Überlegungen und Vorschläge, denen zufolge die Berliner Republik etwas anderes, vielleicht sogar Besseres sein sollte als ihre Vorgängerin in Bonn. Die Politik selbst war nicht besonders initiativ. Sie brachte mit der Gemeinsamen Verfassungskommission, die das Grundgesetz den neuen Verhältnissen anpassen sollte, nicht viel zustande. Die konservative Mehrheit hielt das Grundgesetz für eine so gute und bewährte Verfassung, dass es möglichst unverändert bleiben sollte. Die entscheidenden Maßnahmen für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten waren aufgrund des Beitritts der fünf neuen Bundesländer nach. Art. 23 GG und dem Vereinigungsvertrag erfolgt, d. h., die Gebiete und Bürger der früheren DDR wurden dem verfassungsrechtlichen und politischen System der Bundesrepublik eingegliedert; es entstand durch diesen Beitritt keine neue politische Organisation, also auch keine neue Republik. Von einer Berliner Republik als erneuerter Republik ließe sich reden, wenn durch die Einbeziehung der DDR-Bevölkerung ein politischer Prozess in Gang gekommen wäre, der zu bedeutsamen Änderungen der politischen und wirtschaftlich-sozialen Ordnung der alten Bundesrepublik geführt hätte. Doch dies war nicht der Fall. Nur die Bundesrepublik kam zum Zuge, die andere Seite war geschlagen und hilflos. So konnte die nun von Berlin aus zu regierende Bundesrepublik im Wesentlichen keine andere Republik sein als ihre Vorgängerin mit Regierungssitz in Bonn. Beim Übergang von Bonn nach Berlin hat sich an der Verfassungsordnung und dem politischen System der Bundesrepublik nichts Wesentliches verändert. Die friedliche Revolution der DDR-Bürger kam in der westlichen Bundesrepublik an ihr Ziel und ihr Ende. Auf diese Bundesrepublik hat sie sich nicht verändernd ausgewirkt. Es war ein frommer Wunsch vieler Ostdeutscher zu meinen, auch die Bundesrepublik müsse sich im Vereinigungsprozess ändern. Sie tat es nicht.

In der angeregten politischen Diskussion über das mögliche Kommen und Werden einer Berliner Republik, die vor und während des Umzugs 1999 ihren jüngsten Höhepunkt erreichte und seither stark abgeflaut ist, wurde dieser grundlegende Tatbestand kaum in Frage gestellt. Dessen ungeachtet wurde die Erwartung oder Hoffnung genährt, der Vereinigungsprozess verändere mit dem politischen Klima auch bis zu einem gewissen Grade die Politik selbst und die neue politische Hauptstadt Berlin sei ein günstiger Nährboden für die Entstehung und Entfaltung einer von der Bonner Ära gelösten, ja sogar befreiten Republik: Mit der realen Politik und ihren Abläufen, die sich von denen zu Bonner Zeiten kaum unterscheiden, hat die Diskussion über eine Republik ziemlich wenig zu tun. Sie bietet dem politischen Feuilleton eine bunte politische Spielwiese, auf der Intellektuelle sich mehr oder weniger geistreich tummeln können, während die Politiker, von den Entscheidungsträgern bis zu den Hinterbänklern, ihr gewohntes Geschäft besorgen und sich im Allgemeinen nicht ausdrücklich zu einer Berliner Republik bekennen. Bei den feierlichen Anlässen, wie der Eröffnung des neuen Parlamentsgebäudes im Alten Reichstag, haben die führenden Politiker das Etikett einer Berliner Republik zurückgewiesen und nachdrücklich die Kontinuität und Stabilität der Bundesrepublik bis zur Gegenwart betont. Von Bonn, so der Tenor vieler Ansprachen zu diesem Thema, führe ein gerader Weg nach Berlin. Aber natürlich ist die neue Hauptstadt mit der kleinen Universitätsstadt am Rhein nicht zu vergleichen. Auch wenn sich die Spielregeln der deutschen Politik durch die Verlagerung des Zentrums der deutschen Politik von Bonn nach Berlin so gut wie gar nicht geändert haben, so haben wir es in der durch die Wiedervereinigung der Deutschen in Ost und West räumlich und bevölkerungsmäßig vergrößerten Bundesrepublik doch mit einem anderen politischen Gebilde zu tun als in der Ära des Kalten Krieges und des Eisernen Vorhangs. Die politischen Institutionen und ihre Verfahren sind zwar wenig verändert worden, aber die Bundesrepublik hat über 16 Millionen neue Bürger hinzugewonnen, sie hat einen Prozess der Angleichung der neuen Bundesländer an die Lebensverhältnisse im Westen in Angriff genommen, der noch lange nicht an sein Ziel gekommen ist; in ihr leben Deutsche, die durch eine je unterschiedliche Geschichte geprägt worden sind, zusammen mit Millionen ausländischer Mitbürger mit anderen kulturellen und religiösen Traditionen.

Es sind diese großen und schwierigen Aufgaben des Zusammenwachsens und der gegenseitigen Anerkennung und Toleranz, die der jetzt von Berlin aus regierten Bundesrepublik von der Geschichte zugewiesen worden sind. Ihre Bewältigung, die auch misslingen oder nur unbefriedigend gelingen kann, unterscheidet die heutige Bundesrepublik von ihrer Bonner Variante. Dazu kommen die außerordentlichen Wandlungsprozesse im wirtschaftlichen und sozialen Bereich, die mit dem Allerweltsbegriff der Globalisierung umschrieben werden und die dem Staat einiges von seiner früheren Gestaltungsmacht entziehen. Kurz: Die Berliner Republik von heute unterscheidet sich hinsichtlich ihrer Probleme und Aufgaben, auch in ihrer Stellung im Rahmen der internationalen Ordnung, doch ganz wesentlich von den Problemen, mit denen es Bonn und seine Politiker vor Jahrzehnten zu tun hatten. Ich komme deshalb hinsichtlich der Ausgangsfrage - Gibt es eine von der Bonner Republik abgehobene, wesentlich unterschiedene Berliner Republik? - zu folgendem Ergebnis:

Es gibt die Bundesrepublik Deutschland. Sie wurde fast ein halbes Jahrhundert lang von Bonn aus regiert. Das historische Geschenk der Wiedervereinigung hat Berlin zur effektiven Hauptstadt Deutschlands werden lassen, so dass die Bundesrepublik nach dem Umzug von Parlament und Regierung jetzt und für alle voraussehbare Zukunft von Berlin aus regiert wird, mit der gleichen Verfassung, doch mit sich wandelnden Problemen und Aufgaben und, hoffentlich, einem politischen Personal, das die demokratische Staatsform lebendig und lebenstüchtig erhält. So gesehen ist die reizvolle Frage, ob die Bundesrepublik Deutschland nun in die Phase einer Berliner Republik eingetreten ist, sekundär. Es spricht nichts dagegen, sie so zu bezeichnen, wenn man damit die von Berlin aus regierte, 1990 wieder vereinigte Bundesrepublik meint. Sollte man mit dieser Bezeichnung jedoch zum Ausdruck bringen wollen, dass es sich bei der Berliner Republik um eine wesentlich andere Republik als die von Bonn handele - so wie man in Frankreich die fünf Republiken voneinander unterscheidet -, so wäre das irreführend und die Vortäuschung eines Wandels, der über das hinausgeht, was die sich laufend verwandelnde Welt, in der wir leben, an politischen Veränderungen mit sich bringt. Es ist deshalb wenig sinnvoll, darüber zu streiten, ob die Berliner Republik etwas Neues oder Besonderes sein muss, um diesen Namen zu verdienen. Nachdem wir die Bundesrepublik aus guten Gründen jetzt nicht mehr mit Bonn in Verbindung bringen können, spricht nichts dagegen, sie von nun an eine Berliner Republik zu heißen - auch wenn diese Bezeichnung nicht amtlich werden kann. Ich plädiere für Bezeichnungsfreiheit, umso mehr dann, wenn sich mit der Berliner Republik die Idee und das Engagement verbinden, eine bessere Republik, eine menschenfreundlichere Demokratie zu schaffen.

Prof. Dr. Dr. phil., geb. 1928; bis 1995 Professor für Politische Wissenschaft am Geschwister-Scholl-Institut der Universität München.

Anschrift: Viktor-Schefflerstr. 2, 80803 München.

Veröffentlichungen u. a.: So war Deutschland nie, München 1999; (zus. mit Wilhelm Bleek) Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, 11. Aufl., München 1999.