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Was uns vorzeitig "alt aussehen" lässt | Demographischer Wandel und Erwerbsarbeit | bpb.de

Demographischer Wandel und Erwerbsarbeit Editorial Demographischer Wandel und "Erwerbsarbeit" Auswirkungen des demographischen Wandels auf Arbeit und Arbeitslosigkeit Was uns vorzeitig "alt aussehen" lässt Das Handwerk und seine Beschäftigten - Verlierer des demographischen Umbruchs? Die Situation älterer Menschen in der Phase nach dem Erwerbsleben

Was uns vorzeitig "alt aussehen" lässt Arbeits- und Laufbahngestaltung - Voraussetzung für eine länger andauernde Erwerbstätigkeit

Johann Behrens

/ 20 Minuten zu lesen

Manche glauben, einige Menschen wären mit 70 Jahren noch innovativ und produktiv. Andere wiederum vertreten die Meinung, dass bestimmte Arbeitnehmer - zumindest in den Augen ihrer Vorgesetzten - schon mit 45 zu alt wären.

I. Der Trend zur Frühverrentung und seine Nebenwirkungen

Seit den siebziger Jahren ist die Erwerbsbeteiligung der Männer im Alter von über 55 Jahren in der alten Bundesrepublik Deutschland - ganz im Unterschied zu jener in der DDR - erst schnell, dann etwas langsamer gefallen. Dieser Trend zum früheren Ausscheiden aus der versicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit war auch bei Frauen zu beobachten, besonders deutlich bei den jüngeren Jahrgängen . Die Sozialversicherungen haben dazu wahrscheinlich ungewollt beigetragen: Insbesondere die Rentenversicherung hat von den drei Strategien, die Betriebe im Umgang mit "begrenzter Tätigkeitsdauer" bei alternden Beschäftigten verfolgen können - "Arbeitsplatzgestaltung", "Laufbahngestaltung" und "Externalisierung" -, vor allem die Externalisierung, die Verlagerung des Problems nach außen, subventioniert. Sie finanzierte in der Vergangenheit ein historisches Bündnis zwischen Betrieben, Belegschaftsvertretern und Staat zur kostenträchtigen Bewältigung zweier Problemfelder: zur Bewältigung des Problems gesundheitlicher Beeinträchtigungen am Arbeitsplatz und zur Bewältigung des Mangels von Erwerbschancen am Arbeitsmarkt. Dieses Bündnis beugte gesundheitlichen Beeinträchtigungen dabei nur begrenzt vor und normalisierte die Erwartungen von Beschäftigten auf frühen Austritt aus der Erwerbstätigkeit. So entstand eine Vorstellung der optimalen Verteilung der Erwerbstätigkeit im Lebensverlauf, die ebenso illusionär wie weit verbreitet ist.

Das Modell "Hau rein bis 55 - und genieße dann einen frühen Ruhestand" liegt zumindest in den alten Bundesländern voll im Trend. Nicht nur die überwiegende Anzahl aller von uns untersuchten Handwerksbetriebe, der Industriebetriebe und der Dienstleistungsbetriebe präferieren dieses Modell und suchen staatliche Regelungen nach Lücken ab, um es umsetzen zu können. Es wird auch - wenngleich unbeabsichtigt - von der Renten- und Arbeitsmarktpolitik subventioniert. Auf diese Weise entstehen ungewollt Anreize zur frühen Ausgliederung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus dem Erwerbsarbeitsleben .

Viele der von uns befragten Beschäftigten sind sich zwar dessen durchaus bewusst, dass sie mit diesem Modell, in dem sie durch ständige Überstunden frühzeitig verschlissen werden, ihre Gesundheit aufs Spiel setzen, aber es lockt das "Reich der Freiheit", das mit der Rente anbrechen soll. Banken, Lebensversicherungen und Bausparkassen tragen mit großformatigen Plakaten von aktiven Alten am Meer und im Garten Eden sowie mit einschlägigen Sparplänen ihren Teil bei zur Illusionierung. In Industriebetrieben, die von der Montagearbeit leben wie die Autoindustrie, und in Dienstleistungsbetrieben, die auf junge Mitarbeiter setzen, gilt das gleiche Denkmuster: Wie kann ein Teil des (Über-)Stundenlohns der Dreißig- und Vierzigjährigen für Fonds abgezogen werden, aus denen Lohnsubventionen für ältere Leistungsgewandelte - der Begriff bezieht sich auf die abnehmende Leistungsfähigkeit älterer Menschen -, Teilzeit- und Frührentner zu bezahlen sind .

Die Unterstellungen dieses Trendmodells lassen sich leicht hermeneutisch in folgender Lebensverlaufskurve (vgl. Abbildung 1) darstellen, in der alles seine Zeit hat: Es gibt eine Zeit der Ausbildung, eine Zeit der zeitlich und körperlich besonders belastenden, überstundenreichen Arbeit unter starkem Termindruck, eine Zeit der Oberaufsicht vom Büro aus, eine Zeit der Kindererziehung, eine Zeit des Ehrenamtes und des bürgerschaftlichen Engagements, eine Zeit des Gartens, eine Zeit des Reisens, eine Zeit der Universität des dritten Lebensalters.

Alle diese Zeiten liegen im Trendmodell, das faktisch von der Mehrheit der Beschäftigten und der Betriebe angestrebt wird, hintereinander - auf die Zeiten der "Knechtschaft" folgen die Zeiten der Freiheit.

2. Was spricht eigentlich gegen das Trendmodell des Lebensverlaufes?

So sehr das Modell im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Trend liegt und so massenhaft es angestrebt wird, so sehr kommen einem doch Zweifel, ob es wirklich realisierbar ist:

Die Finanzierbarkeit des frühen Ausstiegs aus der Erwerbstätigkeit ist noch das geringste Problem, obwohl diese am meisten diskutiert wird. Sicher, die Rente muss finanziert werden. Das geht nicht mit dem bisherigen Beitragssatz und dem bisherigen Erwerbsausmaß. Aber lässt sich nicht vielleicht durch Ausweitung der Erwerbstätigkeit in frühen Jahren die frühere Verrentung finanzieren, entweder über die gesetzliche Rentenversicherung oder über Zusatzversicherungen und Vermögensbildung schon in jüngeren Jahren ? Das läge ganz in der Logik des Modells.

Hier liegt zweifellos eine Schwierigkeit, die jeder beim ersten Blick auf die Abbildung 1 bemerkt hat: Die Medizin ist weit davon entfernt - falls es überhaupt wünschbar wäre -, die Gebärfähigkeit in das für Arbeitsmarkt und Betriebe günstigere Alter von 60 an aufwärts legen zu können, selbst wenn dies praktische Erkenntnisse verlangten. Hier zeigt sich zum ersten Mal und wird sich im Folgenden noch öfter zeigen, dass das zeitliche Hintereinander der Lebensaufgaben im Trendmodell sich nicht gut realisieren lässt.

Die Zeit der Familiengründung und Kindererziehung fällt ungünstigerweise mit der Zeit zusammen, die für hundertfünfzigprozentiges "Reinhauen" im Erwerbsleben, für Überstunden und Vermögensbildung vorgesehen ist . Das in Abbildung 1 dargestellte zeitliche Hintereinander der Lebensaufgaben (Trendmodell) lässt sich also nicht oder nur schwer realisieren.

Was bei der Geburtenplanung offensichtlich ist, ist bei den anderen in der Abbildung 1 genannten Lebensaktivitäten zwar weniger offensichtlich, stellt sich dafür aber eher noch krasser dar: Ein Hintereinander ist kaum möglich. Das Trendmodell lässt uns vielmehr, während wir noch auf die Zeit der Freiheit warten, schon vorzeitig sehr "alt aussehen".

Die Folge ist, dass Weiterbildung für Ältere, dass horizontale Laufbahnen, dass Einstellung Älterer auf Arbeitsplätzen mit herausfordernden Tätigkeiten unterlassen werden. Je früher die Frühverrentung möglich ist, umso früher gelten wir als zu alt. Fähigkeiten in den mittleren Jahren sind aber eine Frage des Umgangs mit Belastungen in jüngeren Jahren, der Gewohnheit, der Übung, der Herausforderung und des Trainings. Ist es denn wirklich so erstaunlich, dass nicht alle Berufe gleichmäßig ins Ehrenamt, ins bürgerschaftliche Engagement, in die Universität des dritten Lebensalters führen? Das Trendmodell, das die Lebensphasen kompensierend hintereinander setzt, erweist sich trotz massenhaften Zuspruchs als Illusion. Nicht überall in Deutschland wird übrigens dieser Illusion in gleicher Stärke nachgehangen. In den neuen Bundesländern halten viele, insbesondere Frauen, ganz gegen den Trend an der Vorstellung fest, bis zum gesetzlichen Rentenalter in Vollzeit erwerbstätig zu sein und trotzdem Kinder zu haben.

Über Finanzierungsprobleme der Rentenversicherung, die nur zum Teil demographisch bedingt sind, geriet das historische Bündnis schon in der alten Bundesrepublik unter Druck. Versuche der Trendumkehr von Frühverrentung bis zur Heraufsetzung des gesetzlichen Rentenalters sind zu beobachten. Aber es stellt sich die Frage, ob die Sozial-, insbesondere die Rentenversicherung den gleichen Einfluss bei der Trendumkehr hat, den sie bei der Trendetablierung hatte. Findet sie Anknüpfungspunkte bei den Unternehmen, die sich auf das alte Bündnis eingestellt haben? Die Antworten auf diese Fragen hängen von unserer Einschätzung der Prozesse der Arbeits- und Laufbahngestaltung ab, die nicht nur durch die Strategien von Betrieben und Beschäftigten, sondern auch von der Risiko- oder richtiger: Kosten-Aufteilung sozialpolitischer Träger bestimmt werden.

II. Länger erwerbstätig durch Arbeits- und Laufbahngestaltung

1. Drei betriebliche Strategien gegenüber begrenzter Tätigkeitsdauer und ihre Rückwirkung auf das Altern

Haben wir überhaupt einen Einfluss auf das Altern unserer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, Kolleginnen und Kollegen? Ist nicht z. B. die Abnahme der Geschwindigkeit von Informationsverarbeitung, der Rückgang der fluiden Intelligenz mit dem Alter ein Schicksal, das die Leistungsfähigkeit unabwendbar begrenzt? Nein, und dies aus zwei Gründen: Erstens führt die Arbeit - das heisst die von ihr ausgehenden Anregungen - zu einem geistigen Training, das mit hoher DNA-Aktivität mit der Folge andauernder Plastizität der Nervenzellen verbunden ist . Zweitens nehmen mit dem Alter kompensatorische Formen der Intelligenz zu, so dass die Korrelationen zwischen Alter und beruflicher Leistungsfähigkeit extrem gering sind .

Für die vorzeitige Begrenzung der Tätigkeitsdauer scheinen biologisch fassbare Alterungsprozesse nahezu irrelevant zu sein. Um diese Irrelevanz nachzuweisen, müssen wir gar nicht behaupten, es gingen mit wachsendem Alter keinerlei Wandlungen der Leistungsfähigkeit einher. Im Gegenteil können wir sogar davon ausgehen, dass es mit zunehmendem Alter nahezu immer zu Wandlungen der Leistungsfähigkeit kommt. Dass einige mit 70 Jahren noch innovativ, produktiv, zumindest gut bezahlt sind, andere schon mit 45 Jahren als fast zu alt für ihre Tätigkeit gelten, liegt offensichtlich weniger an biologisch determinierten, altersbedingten Wandlungen der generellen menschlichen Leistungsfähigkeit, sondern, wie in diesem Beitrag zu resümieren ist, eher an der Art der Tätigkeit und dem Erwerbsverlauf, der zu ihr führte.

Wir wissen mehr darüber, wie wir bis zum gesetzlichen Rentenalter und häufig sogar noch darüber hinaus (auch als "Leistungsgewandelte") recht befriedigend berufstätig bleiben können, als es die öffentliche Diskussion vermuten lässt. Dieses Wissen beziehen wir nicht so sehr aus Modellprojekten, sondern vor allem aus der systematischen Beobachtung alltäglicher Strategien von Betrieben und Beschäftigten. Daher kennen wir auch die (falschen) Weichenstellungen, die in vielen Fällen verhindern, dass Menschen, die das wollen, tatsächlich bis zum gesetzlichen Rentenalter befriedigend berufstätig bleiben. In vielen unserer Betriebsfallstudien verweisen betriebliche Vorgesetzte auf Arbeitsplätze, die von mehr als 50 Prozent der auf ihnen Beschäftigten nicht bis ins gesetzliche Rentenalter, ja häufig nicht einmal bis zum 55. Lebensjahr ausgefüllt werden können: Auf diesen Arbeitsplätzen ist die Tätigkeitsdauer für die Mehrheit der Beschäftigten "begrenzt". Dies ist eine quantitativ gut nachvollziehbare operationale Definition von "begrenzter Tätigkeitsdauer". Während diese Begrenzung den einzelnen Beschäftigten noch als unvorhersehbar erscheinen konnte, war sie für die Unternehmen ein regelmäßig auftretendes Phänomen, auf das sie reagieren, für das sie - wenn auch manchmal inoffiziell - Vorsorge treffen mussten. Das Spektrum betrieblicher Reaktionen auf arbeitsplatzspezifisch begrenzte Tätigkeitsdauer umfasste drei Strategien : Arbeitsplatzgestaltung, betriebliche und überbetriebliche Laufbahnpolitik sowie Externalisierung der betroffenen Beschäftigten aus ihren Betrieben (zu anderen Betrieben, in die Arbeitslosigkeit, in die Frührente).

Diese drei Möglichkeiten sind wechselseitig begrenzt substitutiv. Je mehr eine von den dreien genutzt werden kann, umso weniger muss von den beiden anderen Gebrauch gemacht werden. Je "sozialverträglicher" und kostengünstiger leistungsgewandelte, darunter auch ältere Beschäftigte, zum Verlassen eines Betriebes bewegt werden und neue eingeworben werden können, umso weniger notwendig sind aus einzelbetrieblicher Sicht altersgerechte Gestaltung von Arbeitsplätzen und Einrichtung betrieblicher Laufbahnen. Wer sich funktionale Äquivalente gerne in "magischen Dreiecken" klarmacht, könnte hier eines sehen.

Wir erkennen dabei, dass begrenzte Tätigkeitsdauer keineswegs unabhängig von den drei betrieblichen Reaktionen auf sie auftritt. Im Gegenteil sind begrenzte Tätigkeitsdauer und Leistungswandel selbst auch ein Ergebnis der negativen Rückkoppelung zwischen Arbeits- und Laufbahngestaltung einerseits, Externalisierung andererseits: Weil es die Möglichkeit der Externalisierung gibt, können Betriebe es sich leisten, Arbeitsplätze und Berufswege so zu gestalten, dass sie Arbeitsfähigkeit frühzeitig verschleißen, und nicht die qualifikatorischen und organisatorischen Ressourcen zum rechtzeitigen Tätigkeitswechsel innerhalb eines gegebenen Berufes (nach dem Vorbild der vertikalen oder horizontalen "Bahnung von Erwerbsverläufen") bereitzustellen. Und umgekehrt: Weil auf Arbeitsplätzen die Arbeitsfähigkeit frühzeitig verschlissen wird und weil in den Betrieben nicht die qualifikatorischen und organisatorischen Ressourcen zum rechtzeitigen Tätigkeitswechsel vorhanden sind, scheint am Ende die Externalisierung als einzige Reaktion übrig zu bleiben.

In allen Betrieben kannten Fach- und Führungskräfte, Personalvertretungen und Beschäftigte Bereiche mit begrenzter Tätigkeitsdauer. Dabei war es keineswegs nur der psychophysische Verschleiß, der eine Fortsetzung der Tätigkeit bis ins Rentenalter unvorstellbar erscheinen ließ. Vielmehr scheinen sich drei Komponenten des Alterns wechselweise zu verstärken: psychophysischer "Verschleiß", das Veralten von Qualifikationen, Entmutigung und Rufverlust.

Psychophysische Grenzen zeigten sich bei

- schwerem Heben und Tragen (Bauhof, Innenausbau, Pflege, Frachtumschlag, sehr viel weniger in der Automobilmontage);

- besonderen körperlichen Anforderungen (Feuerwehr, Bau);

- Arbeitsumgebungseinflüssen wie Hitze, Nässe, Lärm (z. B. Feuerwehr, Bau, Frachtumschlag, weniger Montage);

- Zwangshaltungen (Bau, Frachtumschlag, Schreibtätigkeiten, z. T. Montage),

- Schicht- und Nachtarbeit (nehmen in allen Branchen eher zu);

- besonderen Anforderungen an Konzentration und Monotonieresistenz (Daueraufmerksamkeit), Programmierung, Service in EDV;

- geringer Autonomie, insbesondere gegenüber eng getakteten Zeitvorgaben (begrenzt in der Automontage und Zulieferindustrie die Tätigkeitsdauer selbst da, wo schweres Heben und Tragen nicht mehr alternskritisch verbreitet sind).

Veraltende Qualifikation begrenzt die Tätigkeitsdauer in fast allen Branchen, angefangen beim Bau (Ältere haben Scheu, mit neuen Geräten umzugehen) bis zu den Banken oder zum EDV-Bereich, wo Systemspezialisten mit den Systemen obsolet wurden, auf die sie sich virtuos spezialisiert hatten. Qualifikatorische Sackgassen und gesundheitliche Belastungen korrelieren hoch und wirken aufeinander nach dem bekannten Muster des Teufelskreises: gesundheitlich belastende Arbeitsplätze qualifizieren häufig nicht; und die mangelnde formale Qualifikation begrenzt die Chancen zum Tätigkeitswechsel bei gesundheitlichen Problemen. Daraus ergibt sich, dass primär- und sekundärpräventive Maßnahmen gegen vorzeitigen gesundheitlichen Verschleiß häufig zugleich Qualifizierungsmaßnahmen sein müssen.

Entmutigung und Rufverlust bilden eine vom psychophysischen und moralischen Verschleiß von Qualifikationen unabhängige Dimension. Wenn sie auch häufig mit gesundheitlichem und moralischem Verschleiß gleichgesetzt werden und Entmutigte sich manchmal krank fühlen, haben Entmutigung und Rufverlust doch auch eigene Quellen. Statistisch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, bei unvorhergesehenen Fehlern dabei gewesen zu sein, mit der Dauer der Tätigkeit. Da Berichtigungen und Umorientierungen in Organisationen häufig mit Wechseln von Führungskräften verbunden sind, können auch - wie insbesondere unsere Fallstudien in Banken zeigten - die jeweiligen Mitarbeiter mit vom Rufverlust betroffen sein.

Organisationen, die durch das Versprechen von Karrieren herrschen und motivieren, erzeugen - bei zu langer Tätigkeit in derselben Position - ebenfalls Entmutigung und Rufverlust. Das Motivationssystem ist darauf angewiesen, dass keine Beförderungsstaus entstehen. Entmutigung und Rufverlust drohen mit steigendem Alter schließlich in Bereichen, die sich als besonders jung und dynamisch darstellen. Dafür ist die EDV nur ein Beispiel. Erst diese unabhängigen Quellen von Entmutigung und Rufverlust führen dazu, dass Ältere als weniger innovativ wahrgenommen werden, als sie es biomedizinisch sein können.

Diesen drei Komponenten von Altern entspricht je eine typische Gegenstrategie, in der Abbildung 2 jeweils unter "B Gegenmittel" aufgeführt:

- verschleißbezogene Trainings- und Rehabilitationsmaßnahmen, Tätigkeitswechsel, Mischarbeitsplätze;

- Erwerb neuer Qualifikationen, nicht nur Kumulation von Erfahrung;

- absehbare Neuanfänge als Reaktion auf Reputationsverlust und Entmutigung.

Diese typischen "Verjüngungsmöglichkeiten" können durch strategische Entscheidungen von Betrieben erschwert werden (in Abbildung 2 sind diese unter "C" aufgeführt).

Alle drei Gegenstrategien in einer: die horizontale und die vertikale Laufbahn

Alle drei Verjüngungsmöglichkeiten laufen, wie leicht erkennbar ist, in einer Maßnahme zusammen, die aber nur für Teile von Belegschaften greift: die überbetriebliche und innerbetriebliche Laufbahn. Laufbahnen ordnen im Lebenslauf Anforderungen, Anreize und Belastungen so hintereinander, dass ein Erwerbsleben bis ins gesetzliche Rentenalter hinein regelmäßig erreicht werden kann - auch dann, wenn die einzelne Tätigkeit nur befristet auszuüben ist (z. B. Schichtarbeit, schweres Heben und Tragen, einige Dienstleistungen). Die bekannteste derartige Laufbahn ist die Karriere, vertikal als beruflicher Aufstieg, horizontal als zunehmende Spezialisierung und Virtuosität:

- Karrieren lösen das Problem des physischen, z. T. des psychischen Verschleißes, indem sie auf zumindest körperlich weniger belastende Arbeitsplätze führen: z. B. von der Montage in die Meistertätigkeit, von der direkten Pflege zur Pflegelehre, vom Außen- in den Innendienst. Viele Vorgesetztenarbeitsplätze können zumindest aus orthopädischer Sicht als relative Schonarbeitsplätze gelten.

- Karrieren lösen das Problem des moralischen Verschleißes von Qualifikationen, indem sie nicht nur neue Qualifikationen erfordern, sondern vor allem kränkungslose Übergänge ermöglichen. Die Entwertung der alten Qualifikation wird gar nicht bewusst: Bevor sie bemerkt wird, ist man eine Stufe weiter. Es müssen auch nicht neue Qualifikationen für die alte Position, sondern andere Qualifikationen für eine bessere Position erworben werden. Dabei erscheint der Übergang zu altersgerechten Tätigkeiten nicht als Unfähigkeit zu den bisherigen, sondern als Fähigkeit zu neuen Aufgaben.

- Dass Aufstieg ein Mittel gegen Reputationsverzehr und Entmutigung ist, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden.

Den Zusammenhang zwischen dem Grad der Schwierigkeit einer Arbeitsaufgabe und dem Alter kann man sich an einer Erscheinung klarmachen, die sich als "Alterskorridor" bezeichnen ließe. Er misst die Jahre zwischen den tätigkeitsbedingten "Altersgrenzen" verschiedener Tätigkeiten. Der Alterskorridor ist durchschnittlich "30 Jahre breit", der Abstand zwischen den tätigkeitstypischen "Altersgrenzen" ist so lang wie eine ganze Generation: Während man für einige Berufe in den Augen der befragten Vorgesetzten schon mit 42 fast zu alt ist, ist man es für andere erst jenseits der 70. Sehen wir uns an, welche Berufe die frühe, welche die späte tätigkeitsbedingte Altersgrenze aufweisen, so finden wir: Je besser entlohnt, je schwieriger und anspruchsvoller, je qualifizierter, je "prestigeträchtiger" ein Beruf oder eine Position ist oder - besser gesagt - gilt, um so eher finden wir sie an der oberen Grenze des Alterskorridors, umso eher liegen ihre tätigkeitsbedingten Altersgrenzen erst nahe an oder sogar jenseits der gesetzlichen.

Der Vorschlag "Aufstieg in Leitungs- und Ausbildungspositionen" widerspricht - so häufig er bei Rückenproblemen Bauarbeitern, Pflegekräften, Handwerkern von ihren Ärzten auch gemacht wurde - einer Bedingung, die eingangs für die Präsentation von Beispielfällen gemacht wurde: Die vertikale Karriere ist eine Lösung, die nicht verallgemeinerbar, ein Weg, der nicht allen Betroffenen zugänglich ist. Horizontale Laufbahnen dagegen könnten allen zugänglich sein, wenn Betriebe einige falsche Weichenstellungen vermieden. Diese sind das Thema des nächsten Abschnittes.

2. Betriebliche Weichenstellungen zur Vermeidung vorzeitigen beruflichen Alterns



Horizontale Laufbahnen

Absehbahre überbetriebliche und innerbetriebliche Laufbahnen auf gleicher hierarchischer Ebene ermöglichen einen Wechsel der beruflichen Position auch dann, wenn ein Aufstieg in eine Vorgesetztenposition nicht möglich ist. Die Möglichkeit, solche Wechsel vorzunehmen, ist für Betriebe und Beschäftigte entscheidend, auch wenn später davon kein Gebrauch gemacht wird. Spezielle Altenarbeitsplätze sind nach den Ergebnissen unserer Untersuchungen keine gute Alternative zu einem Tätigkeitswechsel auf horizontaler Ebene. Die von uns befragten Betroffenen haben häufig das Angebot eines Altenarbeitsplatzes als so krassen Bruch mit dem erreichten Status erlebt, dass ihnen - auch bei großen finanziellen Einbußen - die Verrentung erstrebenswerter erschien.

Rechtzeitige Mischung von Tätigkeiten

Überbetriebliche und innerbetriebliche Laufbahnen setzen eine frühzeitige Mischung von Tätigkeiten voraus bzw. werden dadurch erleichtert. Mischungsverhältnisse von Tätigkeiten lassen sich leichter ändern, als abrupte Wechsel durchgeführt werden können. Gegen diesen einfachen Grundsatz wird am häufigsten verstoßen. Personen werden jahrelang in Tätigkeiten belassen, die sie - vorhersehbar - nicht unbegrenzt ausüben können und die kein Training für Folgetätigkeiten ermöglichen. Sie stellen das Gegenteil von Laufbahnen, nämlich Sackgassen dar. Die Personen, die sich in diesen befinden, scheinen für andere Tätigkeiten ungeeignet. Wurden Tätigkeiten in den von uns untersuchten Unternehmen gemischt, z. B. Bauausführung mit Arbeitsorganisation und Verwaltungstätigkeiten, erwiesen sich Wechsel als leichter. Das traf sogar für Wechsel in bisher nicht ausgeübte Tätigkeiten und zu anderen Arbeitgebern zu.

Vermeidung von Spezialisierungen in veraltende Wissensbestände

Spezialisierungen können genauso wirken wie ein Mangel an Weiterbildung, wenn diese auf veraltender Wissensbasis erfolgen. Systemspezialisten für EDV-Programme sind dafür ein schlagendes Beispiel. Sie werden als Spezialisten mit einem System groß und zu anerkannten Autoritäten. Wenn dieses System ersetzt wird, ist ihr Wissen entwertet. "Erfahrung" wird zur Sackgasse, wenn neue Systeme vor allem mit neu eintretenden "jungen Leuten" entwickelt werden.

Ausgewogene Altersstruktur durch Neueinstellung älterer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen

Bei Neueinstellungen auch Ältere einzubeziehen, also auf ausgewogene Altersstrukturen zu achten, erleichtert Laufbahnen. In mehreren Fallstudien zeigte sich, dass dies jedoch ganz und gar unüblich ist: Einerseits klagten die Verantwortlichen der Personalabteilungen über Kohorten (Geburtenjahrgänge) gleichaltriger Mitarbeiter. Sie könnten heute weder ihre Tätigkeit, für die sie eingestellt worden waren, qualifiziert ausüben, noch seien sie anderweitig einsetzbar. Andererseits war es ganz unüblich, in der eigenen Verwaltungsabteilung eine Reihe von Arbeitsplätzen für Ältere aus anderen Abteilungen zu reservieren.

Eine Einstellung auch Älterer muss erfolgen, um die horizontalen Laufbahnen sichtbar und damit absehbar zu machen und Vakanzen kontinuierlich zur Verfügung zu haben. Wenn die Gesamtheit der Stellen nicht ausgeweitet wird, dominiert die gemeinsam eingestellte relativ junge Kohorte für Jahrzehnte, und für Neueinstellungen entstehen keine Vakanzen.

Anpassung der Betriebsstrategie an die spezifischen Fähigkeiten der Mitarbeiter

Flankierende Anstrengungen im Marketing, insbesondere im Dienstleistungsbereich, sind für die Laufbahngestaltung häufig schon deshalb entscheidend, weil die Anpassung der Marketingstrategie an die Belegschaft erfolgreicher ist als die umgekehrte Anpassung.

Erwerbs- und Berufsunfähigkeit, das sei als Ergebnis festgehalten, zeigt häufig nichts anderes an als den Mangel an angemessen gestalteten Arbeitsplätzen und den Mangel an Laufbahnen . Nicht selten sehen betriebliche Strategien - natürlich gegen die Absicht der Personalverantwortlichen - so aus, als sollten sie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vorzeitig "zu alt aussehen" lassen - gemäß folgenden Regeln:

Wie sie ihre Leute zu alt aussehen lassen können

Rat 1: Vermeide rechtzeitige Mischung von Tätigkeiten

Rat 2: Fördere virtuose Spezialisierungen in veraltende Wissensbestände

Rat 3: Vermeide absehbare horizontale Laufbahnen

Rat 4: Vermeide die Neueinstellung Älterer

Rat 5: Passe nicht das Angebot des Betriebes an die spezifischen Fähigkeiten der Beschäftigten an

3. Wovon die betrieblichen Strategien beeinflusst werden

In welchem Mischungsverhältnis und Ausmaß Betriebe die drei Strategien - Arbeitsplatzgestaltung, Laufbahngestaltung, Externalisierung - realisieren, hängt von ihrer inneren "betrieblichen Sozialverfassung", von der zeitlichen Ausdehnung ihres Planungshorizontes, ihrer Marketingkompetenz sowie von ihrer Einschätzung der politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen ab. Zu diesen gehört neben der Arbeitsmarktlage auch das Sozialversicherungssystem. Wenn das Sozialversicherungssystem es erleichtert, sich von älteren Beschäftigten mehr oder weniger einvernehmlich über die Frühverrentung zu trennen, ist ein Anreiz gegeben, der dritten Strategie, der Externalisierung, betrieblich den Vorrang zu geben. Insofern hätte die Sozialversicherung, insbesondere die Rentenversicherung, einen sicherlich unbeabsichtigten Effekt auf Arbeitsbedingungen, nämlich den, sie zu verschlechtern - für alle, die einmal älter werden.

Diese Anreizwirkung hat die Sozialversicherung zugestandenermaßen nur deshalb, weil die Kosten der Externalisierungsstrategie nicht denen zugerechnet werden (können), die sie nutzen. Das Umlageverfahren der Sozialversicherung bringt die Unternehmen in eine Situation, die in Ökonomie und Spieltheorie als "Gefangenendilemma" erörtert wird: Selbst wenn für alle Unternehmen Investitionen in Arbeitsplatz- und Laufbahngestaltung am lohnendsten sind, kommt es nicht zu diesen Investitionen - solange das einzelne Unternehmen, das diese Investitionen tätigt, sich dadurch kostenmäßig schlechter stellt als das Konkurrenzunternehmen, das diese Investitionen nicht trägt. Im Vergleich zur Externalisierungsstrategie verteuert die Frührentenfinanzierung die Gestaltungsstrategien relativ .

Insofern geht vom selben Karrieremechanismus, der im mittleren Alter Leistungswandlungen durch laufbahngerechte Tätigkeitswechsel ausgleicht, in späteren Jahren ein Druck zur Externalisierung aus - und zwar, worauf es uns hier ankommt, völlig unabhängig von der Leistungsfähigkeit des alternden Beschäftigten wie von der konjunkturellen Lage des Betriebes. Herrschaft durch vertikale Karriere ist ein ganz eigenständig wirkender Mechanismus, der zunächst Externalisierung einschränkt und sie später unumgänglich macht.

III. Fazit

Dass einige mit 70 Jahren innovativ und produktiv, andere schon mit 45 Jahren zumindest in den Augen ihrer Vorgesetzten zu alt sind - dieser Unterschied kann offenbar mit biologisch fassbaren Wandlungen der generellen menschlichen Leistungsfähigkeit kaum ausreichend erklärt werden. Als viel relevanter erwies sich - so lässt sich resümieren - die Art der Tätigkeit und insbesondere der Erwerbsverlauf, der zu ihr führte. Gerade weil Wandlungen der Leistungsfähigkeit mit dem Alter fast immer vorkommen, kommt es entscheidend auf den Erwerbsverlauf an, der neue Kombinationen von Tätigkeiten ermöglicht oder versperrt.

Ebenso wenig relevant sind humankapitaltheoretische Erklärungen des vorzeitigen qualifikatorischen Veraltens dann, wenn geringere Neuqualifikationen Fünfzigjähriger mit Abschreibungszeiten von Wissensinvestitionen begründet wird. Es ist fast kein Arbeitsplatz bekannt, auf dem ein einmal erworbenes Wissen 20, 10 oder selbst 8 Jahre vorhält und nicht grundlegend erneuert werden muss. Wenn aber Wissen ohnehin nicht Jahrzehnte unerneuert vorhält, kann man nicht mangelnde Investitionen in das Humankapital eines Fünfzigjährigen damit erklären, dass die Nutzungszeit nur noch maximal 15 Jahre umfasse.

Die Ungleichheit der Chance, länger erwerbstätig zu sein, hat daher wahrscheinlich sehr wenig mit ungleicher biologischer Ausstattung oder mit zu kurzer Abschreibungszeit für Wissen zu tun. Diese soziale Ungleichheit scheint fast ausschließlich reproduziert zu werden durch den Zuschnitt von Tätigkeiten, die sich als qualifikatorische und gesundheitliche Sackgassen erweisen, und durch die Zuweisung von Personen zu diesen Tätigkeiten nach schulischen Abschlüssen, Geschlecht und Region.

Es reicht offensichtlich nicht aus, lediglich auf die zweite Ursache einzuwirken und den Zugang zu fortbestehenden Sackgassen gleichmäßiger zu gestalten, also die Chancengleichheit zu erhöhen. Dadurch verringert sich noch nicht die Zahl der Sackgassen. Nur der veränderte Zuschnitt von Tätigkeiten - also eine horizontale Laufbahnen ermöglichende Arbeitsgestaltung - verallgemeinert die Chance zu länger andauernder Erwerbstätigkeit.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dieser Beitrag berichtet aus den Ergebnisse des vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie unter dem Förderkennzeichen 01 HH 9901/0 geförderten Projekts "Arbeits- und Laufbahngestaltung zur Bewältigung begrenzter Tätigkeitsdauer im Generationenaustausch". Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt beim Autor.

  2. Vgl. Martin Kohli/Martin Rein/Anne-Marie Guillemand/ Hermann van Gunsteren (Hrsg.), Time for Retirement: Comparative Studies of Early Exit from the Labor Force, New York 1991.

  3. Vgl. Johann Behrens, Gnade, bürgerliche Autonomie, Krankheit. Staatliche Sozialpolitik und betriebliche Sozialverfassung, in: Zeitschrift für Sozialreform, 36 (1990) 11/12, S. 803-827; ders/Martina Morschhäuser/Holger Viebrock/Eberhard Zimmermann, Länger erwerbstätig aber wie?, Wiesbaden 1999.

  4. Vgl. Johann Behrens, Die Reservearmee im Betrieb. Machttheoretische Überlegungen zu den Konzepten der "Kontrolle", der "Eigentumsrechte" und der "Sozialen Schließung", in: Ulrich Jürgens/Frieder Naschold (Hrsg.), Arbeitspolitik. Materialien zum Zusammenhang von politischer Macht, Kontrolle und betrieblicher Organisation der Arbeit, Leviathan, Sonderheft 5/1983, Opladen 1984, S. 133-155; ders., Gnade (Anm. 2); ders./M. Morschhäuser/H. Viebrock/E. Zimmermann (Anm. 2).

  5. Vgl. Anm. 3.

  6. Vgl. Johann Behrens, Was Demographie mit Kinderkriegen zu tun hat und was uns vorzeitig alt aussehen lässt - Illusionen im Trendmodell der Erwerbszeit in: Chr. von Rothkirch (Hrsg.), Altern und Arbeit: Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft, Berlin, 2000.

  7. Vgl. Psychologische Beiträge zur Leistungsfähigkeit im mittleren und höheren Erwachsenenalter - eine ressourcenorientierte Perspektive, in: Chr. von Rothkirch (Anm. 5).

  8. Vgl. P. Warr, Age and job performance, in: J. Suel/R. Cremer (Hrsg.), Work and Aging: An European Perspective, London 1995, S. 309-322.

  9. Vgl. J. Behrens (Anm. 3), ders. (Anm. 2); ders. u. a. (Anm 2).

  10. Diese Überlegungen mögen auf den ersten Blick nur soziologisch, nicht aber sozialmedizinisch relevant erscheinen. Sie entsprechen aber einem gewissermaßen latenten sozialmedizinischen Begriff von relativer Gesundheit, von dem zu zeigen ist, dass er - wenn auch nicht immer explizit - jeder Arbeitsunfähigkeits-, jeder Berufsunfähigkeits- und jeder Erwerbsunfähigkeitsbescheinigung zu Grunde liegt. Die faktische Unterscheidung von absoluter und relativer Gesundheit hat sich in der San-Francisco-Schule der Sozialmedizin bei der Beobachtung herausgebildet, dass organmedizinischer Befund und Einschränkung von Lebensvollzügen keineswegs übereinstimmen und im Alltagsverständnis "Gesundheit" eher an Teilhabefähigkeit bei jeweils als normal angesehenen Lebensvollzügen gemessen wird als an medizinischen Befunden. Ein organisch Kranker oder auch Schwerbehinderter kann relativ gesund sein, wenn er - z. B. als Diabetiker - in den für ihn wichtigen Bereichen annähernd so leben kann, als wäre er gesund. Offensichtlich ist "relative Gesundheit" stark von der jeweiligen Tätigkeit abhängig, an der sie gemessen wird. Für die meisten einfachen, aber körperlich anspruchsvollen Un- und Angelerntentätigkeiten wären die betroffenen Menschen zu wenig gesund gewesen. Ein derartiger Vergleich zwischen Arbeitsanforderungen und medizinischen Kenngrößen ist die Grundoperation nahezu jeder Bescheinigung von Arbeits-, Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit, wobei hier auf den selbstverständlich großen Unterschied nicht weiter einzugehen ist, ob jemand sich selbst eine Tätigkeit zumutet oder ob sie ihm von anderen zugemutet wird.

  11. Der hier vertretene Begriff der relativen Gesundheit erweist sich als tragfähig bis hin zur Standard-Diagnostik. Er kann einen theoretischen, also klärenden Rahmen für die "Internationale Klassifikation der Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen (ICIDH)" bieten. Diese von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gepflegte internationale Klassifikation zieht heute z. B. der Medizinische Dienst der Krankenkassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit heran. Die Klassifikation beschreibt die "Folgeerscheinungen von chronischen Erkrankungen und Behinderungen": Fähigkeitsstörungen ("Disabilities") und soziale Beeinträchtigungen ("Handicaps") werden als Folge psychophysischer Schädigungen ("Impairments") thematisiert. Der Begriff der "Folgeerscheinung" ist falsch, wo der Zusammenhang von impairments einerseits, disabilities und handicaps andererseits so locker erscheint, dass von "Folgen" kaum noch die Rede sein kann: Je nach ihrer Umwelt haben zwei Personen mit identischen körperlichen Schädigungen (impairments) sehr unterschiedlich schwere Fähigkeitsstörungen (disabilities) und Beeinträchtigungen (handicaps) zu gewärtigen.

  12. Dasselbe Argument gilt in der Tendenz auch für die Kosten der Arbeitslosigkeit. Diese können Unternehmen zwar keineswegs ganz, aber doch weitgehend externalisieren. Die Erfassung der Kosten derartiger externer Effekte ist in der Umweltökonomie wesentlich breiter erörtert worden als in der Sozialpolitik-Forschung. Prinzipiell liegen ähnliche Erfassungsprobleme vor. Die "Verursachung von Erwerbsunfähigkeit" ist - wegen Beschäftigtenmobilität, multifaktorieller Krankheitsentstehung und vor allem wegen der großen Bedeutung der Verursachung durch Unterlassen präventiver Qualifikation und Arbeitsplatzgestaltung - ähnlich schwer einzelnen Unternehmen zuzuordnen wie die Verursachung von Luftverschmutzung und ihrer Folgeschäden. Für solche Zurechnungsprobleme werden in der Umweltökonomie Modelle der zivilrechtlichen Proportionalhaftung herangezogen. Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, die Übertragbarkeit dieser Modelle auf den Bereich der Rentenversicherung - insbesondere auch unter verteilungspolitischen Gesichtspunkten - zu diskutieren Im Unterschied zur Umweltpolitik propagiert jedoch kein sozialpolitischer Akteur zur Zeit eine solche Zurechnung von Erwerbsunfähigkeit zu Unternehmen. Dabei sind die Voraussetzungen dafür - durch die eigenen Daten der Kranken- und Rentenversicherung, die im Verwaltungsprozess routinemäßig anfallen und sowohl wichtige gesundheitliche Ereignisse der Versicherten als auch die Zugehörigkeit zu Unternehmen erfassen - besser als im Umweltbereich.

Dr. phil. habil., geb. 1949; Professor für Gesundheits- und Pflegewissenschaften der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Mitglied des DFG-Sonderforschungsbereiches "Statuspassagen und Risikoanlagen im Lebenslauf.

Anschrift: Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Medizinische Fakultät, Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft, Magdeburger Str. 27, 06097 Halle.

Veröffentlichung u. a.: (zus. mit Martina Morschhäuser, Holger Viebrock, Eberhard Zimmermann, Länger erwerbstätig - aber wie?, Wiesbaden 1999.