"Gangster-Rapper auch im wahren Leben ein Gangster" – mit dieser Schlagzeile betitelte die "Bild"-Zeitung am 17. Juni 2017 einen Bericht über den mehrfach vorbestraften Mohammed Ch., der bei einem Handgemenge zwischen zwei Männergruppen eine Pistole zog und auf sein Gegenüber schoss.
Authentizitätsanspruch und Rap-Persona
Mit der Gattung Rap verbindet sich für die Rezipienten offenbar grundsätzlich ein impliziter Authentizitätsanspruch, nach dem im Rap beziehungsweise durch Rap getätigten Äußerungen ein nicht gänzlich fiktiver Status unterstellt wird. Dabei wird zumeist wohl ein "weiter" Authentizitätsanspruch angenommen, der nicht zwangsläufig verlangt, dass die ausgestellten Handlungen tatsächlich so stattgefunden haben, sondern "nur", dass prinzipiell das ausgestellte einem lebensweltlichen Verhalten des Rappers oder der Rapperin nahekommt und vertretene Positionen und geäußerte Meinungen seinen oder ihren tatsächlichen Ansichten entsprechen.
Der Authentizitätsanspruch ist an ein spezifisches Autorschaftsmodell gekoppelt, das sich wesentlich von aktuellen Autorschaftsmodellen in Theater und Literatur unterscheidet. Rapperinnen und Rapper gelten hier nicht nur gleichzeitig als Verfasser ihrer Texte und als Performer des Sprechgesangs,
Unter ihrem Pseudonym, also als Rap-Persona, treten Rapperinnen und Rapper auch in Talkshows und Unterhaltungssendungen auf und werden in Interviews entsprechend adressiert. Das gilt auch für Mohammed Ch., der in der Berichterstattung zumeist mit seinem Rapnamen Hamad 45 bezeichnet wird, obwohl er als Rapper zuvor kaum bekannt war, mit "Mundpropaganda" aus dem Jahr 2014 nur ein einziges, independent veröffentlichtes Album vorweisen kann und vermutlich eher hobbymäßig rappt. Die Rap-Persona ist damit durchaus als soziale Rolle im Sinne des Soziologen Erving Goffman einzuschätzen, das heißt als eine, die nur in bestimmten lebenswirklichen Bereichen bekleidet wird und grundsätzlich für bestimmte Personengruppen intendiert ist, die aber dennoch als "authentische", also zu vertretende Rolle dem Menschen zugeordnet bleibt.
Der grundsätzliche Authentizitätsanspruch im Gangsta-Rap bedeutet nicht, dass die Mehrheit der Rezipienten alle Gangsta-Rapper für gleichermaßen authentisch hält. Vielmehr ermöglicht er erst, die Glaubwürdigkeit der getätigten Äußerungen und die Authentizität der Rolle sinnvoll zu hinterfragen. Schauspielern vorzuwerfen, sie seien ganz anders als die von ihnen verkörperten Rollen, oder Romanautorinnen, sie seien überhaupt nicht so, wie ihre Erzählinstanzen es vermuten ließen, erscheint offensichtlich wenig zielführend und lässt auf eine reichlich naive Rezeptionshaltung schließen. Im Umgang mit Gangsta-Rap ist das Hinterfragen der Authentizität indes gang und gäbe.
So gefallen sich auch die Mainstream-Medien darin, Gangsta-Rapper als "Maulhelden" oder heimliche Spießer und damit als unauthentisch zu enttarnen und zu diskreditieren. Andererseits inszenieren sie die Gangsta-Rapper auch gerne als akute, lebenswirkliche Bedrohung. In der eingangs zitierten "Bild"-Schlagzeile klingt beides an, nämlich sowohl "Hier ist nun (endlich) einmal ein Gangsta-Rapper, der wirklich kriminell ist" als auch "Vorsicht, Gangsta-Rapper können tatsächlich gefährlich sein".
Voyeurismus und Rapgossip im digitalen Zeitalter
Offenbar gewinnt der Gangsta-Rap durch sein vermeintliches Authentizitätsversprechen für viele seiner Fans an Spannung, Brisanz und damit an Attraktivität.
Durch den Authentizitätsanspruch im Rap kann eine "zu Unrecht" ausgestellte Gangster-Attitude allerdings als "Ranganmaßung" aufgefasst werden. Textexterne Authentizitätsbelege gewinnen daher gerade im digitalen Zeitalter an Relevanz. Ein von den Mainstream-Medien attestiertes Verbrechen kann dabei einer Karriere als Gangsta-Rapper einen großen Schub verleihen. So hatte Giwar H.s spektakulärer Goldraub 2009 sicher Einfluss auf seinen späteren Erfolg als nunmehr erwiesen authentischer Gangsta-Rapper Xatar.
In den vergangenen Jahren haben Gossip-Formate wie die Website "Rapupdate", das Blog-Magazin "Spit-TV" oder die Youtube-Kanäle "Hiphopticker" und "Rap Slap" großen Anteil an der Verbreitung von Tratsch und Gerüchten zu deutschsprachigen Rapacts. Dabei generieren besonders die vielen beefs (Fehden) zwischen Gangsta-Rappern Aufmerksamkeit, wohl weil sie ein besonderes Eskalationspotenzial versprechen. Vielfach erscheinen die Rezipienten weniger als Fans der Akteure denn als Voyeure, die sich von Konflikten unterhalten fühlen. Durch neue und neueste Medientechnologien erfährt der Voyeurismus dabei eine neue Qualität. So konnte man etwa im Livestream verfolgen, wie Rapper Animus (bürgerlich Mousa A.) in Begleitung einiger Hells Angels nach Berlin fuhr, um dort seinen ehemaligen Mentor Fler (bürgerlich Patrick L.) zu verprügeln.
Der soziale Druck auf Gangsta-Rapper, textexterne Belege für ihren Status als Gangster zu liefern, scheint zu wachsen. So veröffentlichen sie neben ihrer Musik zunehmend Internet-Content etwa in Form von langen Video-Interviews oder Blogs, durch den nicht zuletzt ihre Authentizität belegt werden soll. Aktuelle Durchstarter im deutschsprachigen Gangsta-Rap wie die 187 Strassenbande oder die KMN-Gang dokumentieren entsprechend ihre Haftaufenthalte oder Gerichtsprozesse. Zugleich erscheinen auch immer mehr Amateurvideos von Fans oder Passanten, die die Akteure auch ohne deren Genehmigung in lebenswirklichen Kontexten zeigen.
Zur Schießerei in Oer-Erkenschwick ist ebenfalls ein Internetvideo im Umlauf, das Anwohner mit dem Handy gefilmt hatten und das im Netz vielfach geteilt und kommentiert wurde. Für die digitale Rapcommunity ist dabei vor allem spannend, dass der Beschossene, Ali M., ein Cousin von Arafat Abou-Chaker sein soll, dem prominentesten Vertreter des mafiös agierenden Abou-Chaker-Clans aus Berlin und engen Vertrauten von Gangsta-Rap-Ikone Bushido. Die "Bild"-Zeitung erklärte Ali M. daher kurzerhand zum "Bushido-Kumpel" und den Vorfall zum Beginn eines "Rapper-Krieg[es]".
Bushido: Ingebegriff authentischen Gangsta-Raps
Anis Mohamed Youssef Ferchichi schuf und besetzte mit Bushido den medialen Prototyp des authentischen Gangsta-Rappers in Deutschland. Während sich Gangsta-Rap in den USA spätestens mit dem großen Erfolg des N.W.A-Albums "Straight Outta Compton" 1988 im Mainstream etablieren konnte und seither den amerikanischen Rap in Gänze dominiert, zeichnete sich der deutschsprachige Rap der 1990er Jahre insgesamt noch durch eine gewisse Seichtigkeit aus. Rapgruppen aus der bürgerlichen Mitte wie die Fantastischen Vier oder Fettes Brot bestimmten das Bild des Rap im Mainstream.
Erst mit den großen Erfolgen des Labels Aggro Berlin Anfang der 2000er Jahre erhielt der amerikanische Gangsta-Rap ein populäres deutschsprachiges Äquivalent,
Dieses migrantische Gangster-Ideal erscheint als deutsche Variante des afroamerikanischen "Badd Nigga", einer sehr viel älteren idealisierten Vorstellung des "schwarzen Mannes" als Outlaw, der die Wertvorstellungen der weißen Mehrheitsgesellschaft geflissentlich ignoriert beziehungsweise "sich im vollen Bewusstsein gegen alle Tabus und Gesetze des ‚weißen‘ Mannes auflehnt".
Auch 15 Jahre nach seinem modellbildenden Debüt-Album "Carlo Cokxxx Nutten" (zusammen mit Fler) bleibt Ferchichi/Bushido einer der populärsten deutschsprachigen Rapacts und veröffentlichte mit "Black Friday" das zweiterfolgreichste deutschsprachige Rapalbum 2017.
Wohl aufgrund dieser drastischen Bedrohlichkeit gelang es Ferchichi/Bushido bislang nicht, sein Image als Gangsta-Rapper abzulegen und sich als "gewöhnlicher" Popstar zu resozialisieren. Hierzu unternahm er in den vergangenen Jahren durchaus zahlreiche Anläufe, wie 2011 das Peter-Maffay-Feature "Erwachsen sein", seine dialogsuchende Dankesrede für den Integrations-Bambi
Doch weil Papa in sein’n Liedern böse Sachen sagt
Denkt die ganze Nachbarschaft, dass er auch böse Sachen macht
Aber Papa sagt die Sachen, die er sagt
Nur damit er nicht mehr tun muss, was Papa früher tat
Papa hatte keine Wahl, nahm sich alles auf die falsche Art
Ich war auf mich allein gestellt, als ich in eurem Alter war
Damit scheint Ferchichi/Bushido sich von den problematischen Inhalten seiner Texte distanzieren zu wollen, ohne sie als Unwahrheiten erscheinen zu lassen. 2013 veröffentlichte er mit Marcus Staiger gar das ambitionierte Integrationsbuch "Auch wir sind Deutschland. Ohne uns geht nicht. Ohne euch auch nicht", in dem er in der Rolle des "Anti-Sarrazin" aufritt,
In diesem Zusammenhang erscheint der Sachverhalt bemerkenswert, dass der Gesellschaftskommentar unter dem bürgerlichen Namen veröffentlicht wurde, die Biografie indes unter dem Rappernamen Bushido. Privatperson und Rap-Persona vermischen sich anscheinend untrennbar beziehungsweise unentrinnbar. So berichtet Ferchichi/Bushido in "Auch wir sind Deutschland", er habe sogar schon ein offizielles Schreiben vom Gericht erhalten, das an Bushido adressiert gewesen sei.
Kollegah: Prototyp eines liberalen Authentizitätskonzepts
Der kommerziell erfolgreichste deutschsprachige Rapper der vergangenen Jahre ist unbestritten Kollegah (bürgerlich Felix Blume). Sein 2014 erschienenes Album "King" brach diverse Streaming- und Downloadrekorde in Deutschland und verkaufte sich über 300.000 Mal.
Auch Blume/Kollegah verwendet in seinen Texten typische Elemente des Gangsta-Rap. Anders als bei Bushido wird der Persona Kollegah bei Weitem nicht von allen Rezipienten ein lebenswirklich zu vertretender Anspruch zugeschrieben. Viele betrachten das Image des hypermaskulinen, omnipotenten Zuhälters und Drogendealers als offen artifiziell und beinahe parodistisch. Der liberalere Umgang mit der Persona Kollegah erklärt sich zum Teil wohl daraus, dass dessen wesentlicher Unterhaltungswert in seinen vielsilbig gereimten Punchlines gesehen wird, also in Rapzeilen, die wortspielerische Pointen generieren.
So rappt Kollegah etwa im Song "30", er sei "der Boss mit Diamantenkette, der die Glock zieht und dir durch den Kopf schießt wie Gedankengänge". Durch diesen wortspielerischen Umgang mit der exzessiven Gewaltbehauptung wird einerseits durch die Unangemessenheit die Coolness der Figur erhöht, anderseits lässt sie die Aussage auch als unernst erscheinen. Die Komik hält die Position des Sprechers zu den behandelten Gegenständen offen. Das offensichtlich Unernste kann sowohl als ironische und damit gegenteilig intendierte Äußerung gedeutet werden, als auch als scherzhafte Übertreibung der tatsächlich vertretenen Position oder gar als völlig bedeutungsloser Spaß.
Kollegah wird dabei von vielen eher als Battle-Rapper denn als Gangsta-Rapper rubriziert, also als jemand, der in seinen Raps (fiktive) Gegner auf möglichst originelle und unterhaltsame Art beleidigt. In dieser Untergattung des Rap wird der Authentizitätsanspruch tendenziell liberaler gehandelt. Insbesondere in Online-Battle-Foren, in denen auch Blume/Kollegah seine Karriere begann, wie dem Video Battle Turnier oder dem Juliens Blog Battle, treten die Teilnehmer inzwischen in absurden Rollen auf, die schwerlich einem lebensweltlichen Authentizitätsanspruch genügen.
Die Offenheit der Rollenauslegung und Rezeptionshaltung erleichtert es Rezipienten aus dem bürgerlichen Milieu, ihren Kollegah-Konsum zu "rechtfertigen", da sie die ausgestellte Haltung als unernst abtun können, selbst wenn sie die Figur des Gangsters heimlich fasziniert. Dies mag ein Grund dafür sein, dass Kollegah auch und gerade an Gymnasien populär ist. Blume spielt dabei offensichtlich bewusst mit der Ambivalenz seiner Rolle und variiert in unterschiedlichen Kontexten ihre Inszenierung. Tritt er in Mainstreamformaten auf, etwa beim Radio-Sender 1Live oder bis 2015 bei Stefan Raabs "TV-Total", betont er die Manieriertheit und den fiktiven Status seiner Rolle, indem er zum Beispiel über sein Jurastudium spricht. Dass er offensichtlich kein arabischstämmiger Migrant ist, scheint seiner Mainstreamadaptierbarkeit durchaus dienlich zu sein. Gleichzeitig bemüht er sich in rapspezifischeren Kontexten explizit darum, die Angemessenheit und Authentizität seiner Rolle zu belegen.
So ließ er etwa bereits 2008 einen offiziellen Urteilsbeschluss des Amtsgerichts Simmern in der "Bravo HipHop" abdrucken, durch den seine Verurteilung wegen Besitz und Handel mit Betäubungsmitteln belegt und somit seine Rap-Persona verifiziert werden sollte.
In diesen Kontexten verhilft ihm sein marokkanischstämmiger Rappartner Farid Bang (bürgerlich Hamed El Abdellaoui) zu mehr "Migrantenauthentizität". Beide sind zudem dafür bekannt, in Battle-Raps statt namenloser Gegner andere Rapacts zu dissen, also zu beleidigen, wodurch sich die Brisanz der Texte drastisch erhöht. Auf dem aktuellen Album wagen sie sich dabei sogar an Bushido ran, weshalb die Rapcommunity bereits auf dessen Reaktion gespannt ist und vielfach wohl auch auf eine gewalttätige Eskalation hofft. Auch Hamad 45 wird in einer Line erwähnt, allerdings nicht in einem Diss, sondern als Referenz für ein doppeldeutiges Wortspiel: "Ich bin Shootingstar so wie Hamad aus Essen." Die Erwähnung zeigt, dass die Persona Hamad 45 als authentische, migrantische Gangster-Figur endgültig im deutschsprachgien Rapdiskurs angekommen ist.
Resümee
Offensichtlich sind Gangster und Gangsta-Rapper zweierlei. Wer wirklich kriminelle Handlungen vollführt, wird in der Regel um Diskretion bemüht sein und nicht öffentlich davon berichten. Von den Zigtausenden von Jugendlichen, die im Amateurbereich Gangsta-Raps verfassen, entsprechen wohl nur die allerwenigsten den Anforderungen an einen echten Gangster. Medienwirksame Vorfälle wie die Schießerei in Oer-Erkenschwick bleiben die Ausnahme. Erfahrungsgemäß kann in den wenigen Fällen, in denen kriminelles Verhalten und Gangsta-Rap korrelieren, zudem nicht davon ausgegangen werden, dass Letzterer ursächlich verantwortlich für Ersteres wäre.
Meine Erfahrungen mit Rapworkshops in sozialen Brennpunkten sprechen vielmehr dafür, dass das engagierte Rappen Jugendliche eher von antisozialem Verhalten abhält oder auch ablenkt, schon allein weil es zeitintensiv ist. Für manche ist es sogar eine Möglichkeit, alternativ zu kriminellen Handlungen durch eine durchaus anspruchsvolle lyrische Sprachpraxis einen realen Statusgewinn im sozialen Brennpunkt zu erzielen. Häufig ist Gangsta-Rap zudem eine der wenigen Möglichkeiten, um mit auffälligen Jugendlichen ins Gespräch zu kommen.
Mir ist allerdings auch ein Fall bekannt, bei dem ein Jugendlicher aus wohlsituierten Verhältnissen als etwa 13-Jähriger begann, Gangsta-Raps zu produzieren, in der Folge, wohl aus einem Erwartungsdruck heraus, den Kontakt zum (klein)kriminellen Milieu suchte und inzwischen eine Gefängnisstrafe verbüßt. Gerade der neue Voyeurismus im digitalen Zeitalter erhöht den Druck auf die Gangsta-Rapper massiv, ihren Behauptungen gerecht zu werden und den textgenerierten Images lebenswirklich zu entsprechen.
Auch die diskursive Idealisierung und Bagatellisierung von Gewalt, Kriminalität und Sexismus bleibt bedenklich, auch wenn die Akteure selbst dem ausgestellten Lebensstil nicht wirklich entsprechen. Besonders brisant erscheint mir dabei, dass das Stereotyp des kriminellen Migranten stark popularisiert und plausibilisiert wird. Es hat womöglich entscheidenden Anteil am gesellschaftlichen Rechtsruck und lässt zudem eine kriminelle Laufbahn für Migranten als legitime Karriereoption erscheinen.
Der empörte "Moralismus", der sich seitens der Mainstream-Medien im Umgang mit Gangsta-Rap häufig beobachten lässt,