Es ist keine Übertreibung zu behaupten, dass HipHop in den vergangenen Jahrzehnten fast jeden Teil von Popkultur "irgendwie" berührt hat:
Angesichts der Tatsache, dass in Deutschland mittlerweile nicht nur Wu-Tang-T-Shirts bei H&M verkauft werden, sondern auch eine HipHop-Partei gegründet wurde und Rapalben im Feuilleton neben Filmen von Jim Jarmusch und Dramen von Elfriede Jelinek besprochen werden, können Journalisten und Akademikerinnen sogar zusätzlich darüber nachdenken, ob HipHop nicht ein ganz wesentlicher Teil einer alters- und generationsübergreifenden Mainstreamkultur geworden ist. Denn "35 Jahre Rap in Deutschland"
Die Etablierung von HipHop in Medien- und Bildungsinstitutionen hat insofern auch mit den älteren HipHop-Fans zu tun, die ihre Kultur in die Redaktionen und Universitäten getragen haben. Letzteres führte in den Sozial- und Kulturwissenschaften zu einer thematisch und perspektivisch breit aufgestellten HipHop-Forschung, deren wesentliche Linien im Folgenden dargestellt werden sollen.
Verzögerte Forschungsaufnahme
Die rein journalistische Beschäftigung mit und Dokumentation von HipHop ist fast so alt wie ihr Gegenstand selbst und setzte in den späten 1970er Jahren ein. Die wissenschaftliche Erforschung florierte in den Vereinigten Staaten bis auf wenige Ausnahmen jedoch erst ab den 1990er Jahren.
Es dauerte, bis sich Rap, der lange Zeit überhaupt nicht im Radio stattfand, medial durchsetzen konnte. Den kulturellen Nährboden für die Akzeptanz afroamerikanisch dominierter Popkultur bei einem breiteren weißen Publikum sehen die Journalisten Dan Charnas und Bakari Kitwana durch eine Reihe von Akteuren und Formaten bereitet,
Noch etwas mehr Verzögerung gab es diesbezüglich in Deutschland, wo sich die amerikanischstämmige Kultur zunächst verfestigen musste, um dann sukzessive zu einer eigenen kulturellen Identität zu gelangen. Die zeitversetzte Auseinandersetzung mit dem Forschungsgegenstand HipHop hängt hier allerdings auch mit zwei weiteren Faktoren zusammen.
Zum einen musste in den Wissenschaften erst eine normative Perspektive überwunden werden, der ein elitäres Kultur- und Kunstverständnis zugrunde lag. Schließlich galt Popkultur lange als nicht untersuchenswert oder -würdig: Der Blick auf Popkultur war über weite Strecken durch kulturpessimistische Einschätzungen geprägt, die sich ideologisch nicht zuletzt bei Theodor W. Adornos und Max Horkheimers einflussreicher Arbeit zur Kulturindustrie und weiteren Beiträgen zu pop(ulär)kulturellen Themen wie Jazz und Film bedienten.
Zum anderen musste HipHop zunächst einer gehaltvollen theoretischen Gegenstandserschließung zugeführt werden. Wenn sozial- und kulturwissenschaftliche Disziplinen den Forscherinnen und Forschern ohnehin zur Untersuchung eines Gegenstands "Legitimationsstrategien" abverlangen, dann musste auch im Falle von HipHop eine kultur- und gesellschaftstheoretische Einbettungsleistung erfolgen. Diese wurde im Wesentlichen erst 2003 durch eine soziologische Publikation zur Authentizität beziehungsweise realness im HipHop auf den Weg gebracht. Gabriele Kleins und Malte Friedrichs Ausführungen in "Is this real? Die Kultur des HipHop" wurden in der Folge vielfach Ausgangspunkt weiterführender Überlegungen,
Erstens zeigten sie in Anlehnung an die Arbeiten zu Habitus, Feld und Kapitalsorten des Soziologen Pierre Bourdieu, wie realness im HipHop hervorgebracht und reproduziert wird: Wenn realness für HipHop-Akteure bedeutet, glaubwürdig an gängige, häufig implizite Konzepte des Authentisch- und HipHop-Seins anzuschließen, was vor allem über die Integration des modischen Stils, die Verwendung spezifischer Codes und Körpersprache erfolgt, der Körper also eine wichtige Rolle spielt, kann dieser Zusammenhang soziologisch gefasst werden. Realness ist dann das Ergebnis einer körperlichen Leistung der Verinnerlichung von HipHop-Orientierungen und -Werten, wie sie durch eine HipHop-Sozialisation erfolgt. HipHopper haben eine Habitualisierung durchlaufen, bei der kursierende Werte und Codes dermaßen inkorporiert wurden, dass sie in HipHop-Kontexten ohne größere Reflexionsleistungen "authentisch" agieren können und dieser "praktische Sinn" dafür sorgt, dass auch die Bewertung anderer als authentisch erfolgen kann.
Zweitens identifizierten die Autoren eine weltweite Verbreitungs- und Etablierungslogik der HipHop-Kultur in kritischer Abgrenzung zum Konzept der McDonaldisierung des Soziologen George Ritzer zugunsten des Glokalisierungskonzepts seines Kollegen Roland Robertson.
Hip-Hop Forschung
Innerhalb der Forschung zu HipHop wird bisweilen unterschieden zwischen einer deutschsprachigen Jugendkultur- oder Szeneforschung, die unter anderem zu HipHop arbeitet, und einem interdisziplinären, stärker auf die Integration US-amerikanischer Publikationen bedachten Diskursfeld, den sogenannten HipHop-Studies.
Ungeachtet der skizzierten Unterschiede und der Tatsache, dass HipHop in den Vereinigten Staaten bereits seit den 1990er Jahren vermehrt untersucht wird und dies in Deutschland erst seit etwa der Jahrtausendwende der Fall ist,
Die Herausgeber des bislang einzigen "HipHop-Studies Reader" lehnen für die US-Forschung eine disziplinspezifische Verortung ab. Als Gemeinsamkeit gegenwärtiger Positionen erkennen sie jedoch einen intersektionalen Ansatz, also eine Perspektive, die Sozialphänomene nicht länger eindimensional, sondern an der Schnittstelle mehrerer Kategorien wie Geschlecht und Klasse fokussiert.
Ein Vergleich der US-amerikanischen und deutschen Forschungslandschaft zeigt aber auch perspektiv- und zugangsbezogene Differenzen: In den Vereinigten Staaten ist die Rapdiskussion stärker politisiert, sie wird an die US-Sozialgeschichte und vor allem die Bürgerrechtsbewegung rückgebunden.
Insgesamt lassen sich in US-amerikanischen wie deutschen HipHop-Forschungsbeiträgen trotz unterschiedlicher Akzente thematische Überschneidungen ausmachen, die aufzeigen, unter welchen inhaltlichen Vorzeichen Forschung zu Rap vornehmlich erfolgt: race beziehungsweise Ethnizität,
Race/Ethnizität
In den Vereinigten Staaten werden Rap-Performances traditionell mit Blick auf Ermächtigungspotenziale für die afroamerikanische Community untersucht. Unter diesem Vorzeichen wird Rap in der US-Forschung nicht nur als Ergebnis und Ausdruck sozialer Missstände verhandelt, sondern auch mit Blick auf seine Kommerzialisierung kritisch reflektiert.
Deutscher HipHop wird in historisch orientierten Arbeiten als ethnisch diverses bis multikulturelles Projekt dargestellt, das sich vor allem durch Medienaufmerksamkeit und selektive Berichterstattung nationalisiert. Während frühere Forschungen die politischen Vereinnahmungsversuche der deutschen Szene und die Polarisierungen der 1990er Jahre reflektierten,
Weitere Arbeiten, die nicht auf Gangsta-Rap fokussiert sind und in denen es um Konstruktionen von Ethnizität oder assoziierten Aspekten geht, untersuchen lokale Szenen, die im Sinne von Klein und Friedrich als Resultat eines selektiven Aneignens globaler HipHop-Kulturmuster verstanden werden.
Klasse
In der deutschen Forschung wird speziell migrantischer Rap als Ausdrucksform sozialer Ungleichheit betrachtet – teilweise im Sinne eines Klassenkampfs.
So wurde erst in den Vereinigten Staaten Ende der 1980er Jahre und kurz nach der Jahrtausendwende auch in Deutschland die Etablierung von Gangsta- und Straßen-Rap von einem öffentlichen Skandalisierungsdiskurs begleitet, dem sich in den USA auch sozialwissenschaftliche Arbeiten und journalistische Beiträge widmeten.
Dieser (Stigmatisierungs-)Diskurs, der Gangsta-Rap als bedenkliches Produkt migrantisch-männlicher Parallelgesellschaften in Deutschland und deren devianter Praktiken betrachtete, wurde forschungsseitig ebenfalls kritisch untersucht. Vor diesem Hintergrund wurden spätere Medienberichte zum angeblichen Nexus von HipHop und Islamismus als Stellvertreterdiskurs eingeordnet und in den Zusammenhang eines in der Bundesrepublik seit Langem etablierten Krisendiskurses um junge Männer mit Migrationshintergrund gerückt.
Authentizität
Gewissermaßen als Kulminationspunkt der dargestellten Themen race/Ethnizität und Klasse lassen sich praktisch alle amerikanischen und deutschen Arbeiten betrachten, die sich dezidiert Authentizitätskonzepten im Rap widmen:
Im deutschen Rap entspricht dieser Konstitutionslogik eine Selbstinszenierung, die häufig einen arabischen oder türkischen Hintergrund markiert und Straßenmilieus und (Brennpunkt-)Räume referenziert, die als segregiert und/oder gefährlich gelten.
Gender
Durchaus häufig mit den beschriebenen Realness-Analysen verbunden sind Studien zu Männlichkeitskonstruktionen im HipHop und den damit verbundenen Weiblichkeitskonstruktionen,
Aufbauend auf der These von Rap als männlich dominierter Praxis, die männliche Macht mithilfe von Sprachspielen stabilisiert, werden insbesondere auch Performances von Rapperinnen, ihre Sprache und visuelle Selbstpräsentation diskutiert. Die grundsätzliche Frage lautet, ob dabei die Aneignung männlicher Praktiken und Sprachspiele subversives oder gar emanzipatorisches Potenzial birgt
Forschungsdesiderate und -perspektiven
Entlang der skizzierten Kategorien untersucht die HipHop-Forschung in den USA und Deutschland HipHop-spezifische, soziokulturell bedeutsame Konstruktionen und Aushandlungen und konzentriert sich dabei immer auch auf die kritische Kommentierung und Einordnung der Art und Weise, wie diese Themen in gesellschaftlichen (Medien-)Debatten verhandelt werden. Damit ist die Analyse von HipHop, wo dieser nicht allein auf ästhetische Qualitäten befragt und innerhalb literarischer Traditionen verortet wird, immer auch Gesellschafts- und Kulturanalyse. Trotz mittlerweile jahrzehntelanger Forschung sind aber noch immer Themen identifizierbar, die ungenügend erforscht sind.
Als ziemlich unterforscht kann beispielsweise nach wie vor die HipHop-Musikindustrie gelten. Eine HipHop-Kulturgeschichte unter ökonomischen Vorzeichen zu schreiben, wie dies der Journalist Dan Charnas für den amerikanischen Raum geleistet hat,
Vor dem Hintergrund dieses Selbstverständnisses der Rapperinnen und Rapper als autonom und erfolgsorientiert hat in den vergangenen Jahren auch die Etablierung von Social Media als Instrument der Online-Selbstvermarktung großen Einfluss entfaltet.
Eng verknüpft mit der sehr früh erfolgten Adaption von Social Media im HipHop ist das ebenfalls bislang unterforschte Themenfeld der digitalen Kultur. Bereits 2010 verwies der Band "Digitale Jugendkulturen" auf die Notwendigkeit, das Internet als Ort der Vergemeinschaftung und Aushandlung von Jugendkulturen zu untersuchen,
Diese Themen werden seit einigen Jahren immer häufiger in Arbeiten von Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern verhandelt, die häufig selbst in der Szene verwurzelt sind. Haus-, Bachelor- oder Masterarbeiten analysieren bereits HipHop-Diskurse im Internet, haben bislang jedoch zu wenig Eingang in wissenschaftliche Publikationen und damit breitere Diskussionszusammenhänge gefunden. Dass sich dies bald ändert, ist zu hoffen. Denn andernfalls droht die Forschung zusehends hinter die HipHop-Entwicklung zurückzufallen und allein der journalistischen Kommentierung das Feld zu überlassen.