Einleitung
Das Erwerbspersonenpotential wird älter, die "Belegschaften ergrauen", so lauteten noch vor einigen Jahren kaum hinterfragte Prognosen, und auch heute noch bestimmt diese Aussage unsere Vorstellung vom demographischen Wandel der Arbeitswelt. Allerdings mehren sich mittlerweile Zweifel an dieser These. Zwar stimmt es, dass das Erwerbspersonenpotential insgesamt älter wird, ob dies aber auch auf die Belegschaften, also die Erwerbstätigen zutrifft, lässt sich empirisch nicht eindeutig bestätigen. Die Frühverrentung hält ungebrochen an, wie dies z. B. die mehr oder weniger hauptsächliche Nutzung des Altersteilzeitgesetzes als neues Frühverrentungsinstrument verdeutlicht. Wir erleben derzeit ein merkwürdiges Paradoxon: Obwohl die Gesamtgesellschaft altert, wird ein zentrales Teilsegment, nämlich die Arbeitswelt, immer jünger. Es scheint, als ob der demographische Wandel an den Betrieben und Verwaltungen vollständig vorbeigeht.
Die meisten Arbeitsmarktexperten erwarten, dass sich dieses Paradoxon spätestens ab 2015 auflösen wird. Dann, so eine (auch von mir) seit langem favorisierte These, werden sich die Betriebe in ihrer Personalpolitik und -planung strategisch auf ältere Beschäftigte einstellen müssen, sind die Herausforderungen der Arbeitswelt mit insgesamt älteren und anders zusammengesetzten Belegschaften (mehr Frauen, mehr Ausländer) zu bewältigen. Allerdings setzt diese These voraus, dass künftig die Nachfrage nach Arbeit so erheblich sein wird, dass sie bei insgesamt rückläufigem Erwerbspersonenpotential auch ältere Arbeitskräfte erreicht. Hier sind jedoch offene Fragen angebracht, zum Beispiel: Welche betrieblichen Rationalisierungsreserven lassen sich mobilisieren? Auf welche Ausweichstrategien kann zurückgegriffen werden (noch mehr "green cards")? Und schließlich: Wie wirkt sich der demographisch bedingte Rückgang in der Gesamtbevölkerung auf die Güternachfrage und damit wiederum auf den Arbeitskräftebedarf aus?
Die Arbeitsmarktpolitik steht somit vor einem Dilemma: Sie hat auf die Frage zu reagieren, ob das Alter künftig mehr Chancen in der Arbeitswelt hat oder ob alles beim Alten bleibt. Für beide Optionen gibt es Anhaltspunkte. Folglich gilt es, sich auf beide Optionen vorzubereiten. "Demographische Großprojekte", wie etwa der Forschungsverbund "Demographischer Wandel - Innovationsfähigkeit in einer alternden Gesellschaft", aus dem die meisten der in diesem Heft präsentierten Beiträge stammen, oder die Bundestags-Enquetekommmission "Demographischer Wandel", gehen dabei von der (optimistischen) Variante der demographisch bedingten Verbesserung der Beschäftigungschancen älterer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen aus. Wenn diese Option die wahrscheinlichere ist - und dieser Auffassung schließe ich mich an -, dann sind entsprechende Handlungskonzepte gefordert. Denn im Selbstlauf erfolgt nichts.
Rentenpolitikerinnen und -politiker machen es sich dabei bekanntlich einfach. Ihre "simple" Antwort lautet: Anhebung der Altersgrenzen. Doch wer garantiert, dass dadurch nur ein einzelner älterer Arbeitnehmer oder eine einzelne ältere Arbeitnehmerin Beschäftigung findet oder in Beschäftigung bleibt? Die Altersgrenzenanhebung ist ein rein rentenrechtsinternes Instrument, ohne konkreten Betriebs- und Arbeitsmarktbezug. Weder der Gesundheitszustand noch die Qualifikation älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, noch ihre Lage in den Betrieben und auf dem Arbeitsmarkt verbessern sich automatisch. Die Anhebung der Altersgrenzen ist völlig losgelöst von ihrer tatsächlichen Erreichbarkeit im Arbeitsleben erfolgt, denn die konkreten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen ändern sich ja nicht: Ältere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sollen zwar weiterarbeiten, die Weichen dafür, dass sie dies auch können, sind aber nicht wirklich gestellt worden.
Die "Entberuflichung des Alters" ist Ergebnis eines Jahrzehnte dauernden politisch-korporatistischen Handelns relevanter Akteure (Staat, Tarifparteien, Arbeitsmarktpolitik, betriebliche Akteure, Betroffene). In der Konsequenz sind damit auch die verantwortlichen Gruppen benannt, wenn es um ihre Überwindung geht. Es handelt sich somit um eine echte "Gemeinschaftsaufgabe", die allerdings in dem Gemeinschaftsprojekt "Bündnis für Arbeit" keine Priorität zu haben scheint. Im Kern sollte sie auf eine sozial-akzeptable, d. h. relevante Unterschiede in den Lebens- und Arbeitsbedingungen der heterogenen Gruppe älterer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen angemessen berücksichtigende ("Arbeitsplätze mit begrenzten Tätigkeitsdauern", Langfristarbeitslose) Trendwende in der bisherigen, auf ältere Beschäftigte bezogenen Personal- und Arbeitspolitik zielen. Dass dies zu einem Zeitpunkt gesagt wird, zu dem noch immer Massenarbeitslosigkeit und zugleich Langfristarbeitslosigkeit älterer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen dominiert, mag zwar verwundern, ist aber angesichts einer erforderlichen strategischen Vorlaufzeit in den Betrieben von ca. zehn Jahren berechtigt. Gefordert ist daher - zumindest bis 2015 - eine Doppelstrategie, die zum einen Frühverrentungen unter finanziell und sozial akzeptablen Rahmenbedingungen in kurz- bis mittelfristiger Sicht ermöglicht, zum anderen überhaupt erst einmal die Grundvoraussetzungen für eine Weiterarbeit für die älteren Beschäftigten von morgen und übermorgen schafft.
Damit ist der Kernauftrag einer Gesellschaftspolitik angesprochen, die sich ernsthaft den Konsequenzen des Alterns der Belegschaften widmet. Ihr Ziel muss es sein, die Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit ("employability") alternder Belegschaften zu erhöhen. Die notwendige Trendwende kann dabei nur durch gezielte, mittel- bis langfristig angelegte Investitionen in das Humanvermögen alternder Belegschaften und durch die Schaffung diese begünstigender Rahmenbedingungen erfolgen. Hierzu gelten insbesondere die folgenden Grundsätze:
- Gesellschaftliche Herausforderungen erfordern gesellschaftliche und keine isolierten Lösungen. Bezogen auf die tangierten Politikbereiche gilt, dass die Beschäftigungspolitik zwar ein essentieller, aber eben nur ein Teil einer übergreifenden gesellschaftspolitischen Antwort auf den demographischen Wandel sein kann. Gefordert sind integrierte Politikkonzepte unter Beteiligung der für die Zukunft der Beschäftigungssituation alternder Belegschaften maßgeblichen Teilpolitiken, so insbesondere der Bildungs-, Sozial- und Gesundheitspolitik, aber auch - wegen der künftig anderen Zusammensetzung des Erwerbspersonenpotentials - der Gleichstellungs-, der Familien- und der Migrationspolitik.
- Viele der heute älteren Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zeichnen sich durch eine Kumulation von Benachteiligungen aus, z. B. durch die Gleichzeitigkeit von formalen Ausbildungsmängeln und zu geringer beruflicher Fort- und Weiterbildung. Notwendig ist daher eine "Doppelstrategie" von Maßnahmen, die sowohl auf die Förderung der Beschäftigungsfähigkeit während des gesamten Erwerbslebens als auch auf die Verringerung und Beseitigung akuter Beschäftigungsprobleme in späteren Stadien abzielt.
- Insgesamt bleibt die betriebliche Ebene die entscheidende Eingriffsebene. Hier fällt die Entscheidung für oder gegen eine Zukunft der Alterserwerbsarbeit, für oder gegen die Zukunft älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Eine besondere Bedeutung haben dabei die Tarifvertragsparteien. Der Politik kommt die Rolle zu, Prozesse zu initiieren, zu moderieren und gegebenenfalls die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu schaffen. Davon ist derzeit nur wenig zu erkennen.
- Maßnahmen, die der Förderung alternder Arbeitskräfte bzw. der Sicherung ihrer Beschäftigungsfähigkeit dienen, dürfen nicht erst am Ende, sondern müssen während der gesamten Erwerbsbiographie zum Einsatz kommen (von der Arbeitnehmerpolitik für Ältere hin zu einer lebenslaufbezogenen Beschäftigungsförderungpolitik). Sie müssen zugleich präventiv sein. Um die Entstehung alterstypischer Beschäftigungsprobleme zu vermeiden, gilt es, potentielle Beschäftigungsrisiken bereits im Stadium ihrer Entstehung, d. h. auf möglichst frühen Stufen der Erwerbsbiographie, zu bekämpfen.
- Es gilt, unterschiedliche Maßnahmetypen in sinnvoller Weise miteinander zu kombinieren. Dies betrifft Aktionen auf politischer wie auf betrieblicher Ebene gleichermaßen. Aber auch zwischen diesen beiden Ebenen sollten die jeweiligen Maßnahmen besser abgestimmt und aufeinander bezogen sein (z. B. staatliche Bildungsangebote und betriebliche Arbeitszeitpolitik). Aufgrund der zunehmenden Verschränkung von betrieblichen mit außerbetrieblichen Lebenswelten ist es weiterhin erforderlich, arbeitsplatzbezogene Initiativen mit örtlichen Aktionen im Bereich der kommunalen Sozialpolitik, so z. B. in den Bereichen soziale Sicherung, berufliche Qualifizierung oder pflegerische Dienste, abzustimmen.
- Eingebettet sein müssen derartige integrierte Konzepte in Überlegungen zur Neuorganisation von Lebensarbeitszeit. Diese sollte auf eine Überwindung der klassischen Dreiteilung des Arbeitnehmerlebenslaufs in Richtung auf eine Integration von Arbeit, Bildung und Freizeit sowie auf die institutionelle Verknüpfung dieser drei Ebenen abzielen.
- Die Formel vom "lebenslangen Lernen" muss mit Leben gefüllt werden. Insgesamt gilt es, die Qualifizierungsbedarfe der Arbeitswelt besser (und strategischer) mit den institutionellen Strukturen der beruflichen Aus-, Fort- und Weiterbildung zu verknüpfen.