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Politisches Einflusspotenzial von Regierungsbürokratien in OECD-Ländern

Kai-Uwe Schnapp

/ 24 Minuten zu lesen

Ministerialbürokratien können politische Entscheidungsprozesse beeinflussen. Je nach Struktur des administrativen Apparates und der Kompetenzverteilung zwischen den politischen Akteuren haben sie dafür größere oder kleinere Spielräume.

I. Einleitung

Die staatliche Verwaltung ist in den meisten OECD-Staaten kein zentraler Gegenstand der verfassungsmäßigen Normierung der politischen Ordnung . Gleichwohl sind Verwaltungen unverzichtbarer Funktionsbestandteil eines jeden politischen Systems. Ihre häufige Nichterwähnung in Verfassungsdokumenten resultiert aus der Tatsache, dass Bürokratien nicht unmittelbares Element der gewählten Regierungsorgane sind, sondern lediglich deren "Werkzeug". Es ist unbestreitbar, dass das gute Funktionieren dieses "Instrumentes" eine zentrale Voraussetzung für die Arbeitsfähigkeit politischer Systeme ist. Es steht ebenfalls außer Frage, dass speziell Ministerialbürokratien - als direkt an politischen Gestaltungsprozessen beteiligte Verwaltungen - große Möglichkeiten zur Beeinflussung politischer Entscheidungen haben. Diese Einflussmöglichkeiten sind demokratietheoretisch nicht unbedenklich, und das "richtige" Maß bürokratischen Einflusses ist immer wieder Gegenstand von Debatten . Dieser Beitrag ist jedoch keine Fortsetzung dieser wichtigen normativen Diskussion. Seine Zielsetzung besteht vielmehr darin, anhand von Strukturmerkmalen nationaler Verwaltungssysteme das Potenzial von Ministerialbürokratien zu politischer Einflussnahme zu beschreiben.

Die Annäherung an eine Antwort wird mit Hilfe einer vergleichenden Betrachtung der Ministerialverwaltungen von 21 Mitgliedsländern der OECD vorgenommen . Dieser Vergleich scheint vor allem wegen der Tatsache geboten, dass es keinen absoluten Maßstab für die Einschätzung des potenziellen Einflusses von Bürokratien auf politische Entscheidungsprozesse gibt. Die vergleichende Betrachtung liefert in dieser Situation einen relativen Maßstab, weil die Situation in jedem einzelnen Land im Verhältnis zu der Situation in den anderen Ländern eingeschätzt werden kann.

Das verfügbare empirische Material ermöglicht jedoch nur die Beobachtung des Potenzials der Ministerialbürokratien zur Beeinflussung politischer Entscheidungen. Ob und wie es genutzt wird, hängt von weiteren Faktoren ab, wie etwa den Interessen der Mitarbeiter dieser Apparate. Für diese Faktoren liegen momentan keine hinreichend vergleichbaren Informationen vor. Deshalb können über die Realisierung des Einflusspotenzials hier keine Aussagen getroffen werden.

Der Beitrag ist in vier Argumentationsschritte gegliedert:

1. Zunächst wird in einer theoretischen Betrachtung geklärt, welche Arten von Einfluss Bürokratien ausüben können. Diese Einflussarten werden jeweils einer vorpolitischen, einer politischen und einer nachpolitischen bzw. Implementationsphase zugeordnet.

2. In Anlehnung an diese Phasenvorstellung wird für die Bundesrepublik Deutschland ein Einblick in die Aufgaben der Ministerialverwaltung des Bundes im Prozess der Gesetzgebung gegeben. Zu dieser Beschreibung wird auf eine Reihe von Merkmalen verwiesen, die definieren, wie groß der potenzielle Einfluss der Ministerialverwaltung auf politische Prozesse ist.

3. Im dritten Schritt wird empirisches Material für 21 OECD-Länder präsentiert, das einen Vergleich des potenziellen politischen Einflusses der Ministerialbürokratien in diesen Ländern ermöglicht.

4. Als Zusammenfassung wird im letzten Abschnitt eine Typologie von Verwaltungssystemen präsentiert, die eine Gesamteinschätzung des Einflusspotenzials der Verwaltungen in den genannten Ländern erlaubt.

II. Arten bürokratischen Einflusses

Ministerialbürokratien haben unbestreitbar Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse. Das zeigen satirisch orientierte Beiträge wie die britische Fernsehserie "Yes Minister", biographische Berichte ehemaliger Minister oder Mitarbeiter in Ministerialverwaltungen und schließlich eine fast endlose Reihe wissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit der Macht der Bürokratie von Max Weber bis hin zu modernen formalen Modellen, die mit großem Detailreichtum nachzuweisen versuchen, wo und warum Bürokratien Einfluss nehmen können.

Zu den zentralen Themen, mit denen sich schon Max Weber befasste, gehören bis heute Informationsasymmetrien. Es wird davon ausgegangen, dass zwischen den politischen Auftraggebern einerseits - zu denen Parlament, Regierungen und die einzelnen Minister zählen - und den Ministerialbeamten andererseits ein mehr oder minder starkes Informationsgefälle zugunsten der Beamten besteht.

Dieses Informationsgefälle beruht auf der durchschnittlich längeren Amtszeit der Bürokraten im Vergleich zu den Politikern sowie auf einer stärkeren Arbeitsteilung innerhalb der Verwaltungen, welche die Entstehung eines größeren Spezialwissens in der Verwaltung begünstigen . Informationsasymmetrien und ihre Nutzung durch die Bürokratie sind auch das Leitmotiv der folgenden Überlegungen, in denen zunächst drei Arten der Einflussnahme von Bürokratien auf politische Entscheidungen unterschieden werden.

1. Bürokratisches Agenda-Setting

Die erste Form der Politikbeeinflussung durch Bürokratien ist die Vorgabe von Entscheidungsproblemen durch die Bürokratie (bürokratisches Agenda-Setting ). Sie kann vor allem aus folgendem Grunde entstehen: Politische Akteure (sowohl exekutive als auch legislative) sind mit knappen Ressourcen zur Aufnahme von Informationen, Bildung von Präferenzen und Bearbeitung von Entscheidungen ausgestattet. Deshalb brauchen diese Akteure Entscheidungsregeln, nach denen sie festlegen, in welcher Reihenfolge sie Probleme bearbeiten. Es wird davon ausgegangen, dass diese Entscheidungen nach Problembedeutung und Ressourcenverfügbarkeit getroffen werden. Welche Bedeutung ein konkretes Problem für einen Politiker hat, hängt von folgenden Elementen ab: der Klarheit der Zielvorstellungen (Präferenzen) des Politikers bezüglich des Problems, der generellen Bedeutung, die ein Politiker dem Politikfeld zumisst, und dem Unterschied zwischen seinen Zielvorstellungen und dem politischen Status quo. Die Entscheidungsregel lautet dann, dass ein Problem bearbeitet wird, wenn alle Probleme mit höherer Bedeutung gelöst und noch Ressourcen zu seiner Bearbeitung verfügbar sind .

Es wird angenommen, dass es immer politische Probleme gibt, für deren Bearbeitung die Ressourcen der Politiker nicht ausreichen, so dass hier die Ministerialverwaltung "einspringen", ein Thema besetzen und selbstständig, das heißt ohne Auftrag des Ministers, Entscheidungsvorlagen liefern kann. Auslöser für solche Aktivitäten können eigene Beobachtungen der Bürokratie bezüglich eines zu regelnden Problems sein oder Informationen Dritter wie etwa von Interessenverbänden. Aufgrund des Fehlens eines politischen Auftrages wird das bürokratische Agenda-Setting als "vorpolitische" Aktivität der Bürokratie bezeichnet. Dementsprechend kann das Agenda-Setting höchstens indirekt politisch gesteuert sein, etwa durch die Ausrichtung der Verwaltungsmitarbeiter an politischen Leitlinien der amtierenden Regierung oder des Ministers. Abgesehen von dieser indirekten politischen Steuerung bestimmen Einstellungen und Einschätzungen der Bürokraten, welche Gestalt ein Vorhaben auf dieser Entwicklungsstufe annimmt.

Der Erfolg bürokratischer Einflussnahme über das Agenda-Setting ist von zwei Faktoren abhängig: Erstens muss das Agenda-Setting überhaupt möglich werden. Es wird davon ausgegangen, dass die Chancen für bürokratisches Agenda-Setting umso größer sind, je größer der Ressourcenvorsprung der Bürokratien gegenüber den politischen Akteuren ist und je ungenauer die politischen Zielvorstellungen der Letzteren sind. Ob Bürokratien mit dem Agenda-Setting erfolgreich sind, das heißt tatsächlich die Inhalte gesetzlicher Regelungen beeinflussen können, hängt zweitens davon ab, ob der zuständige Minister bereit ist, einen Vorschlag der Bürokratie in den politischen Entscheidungsprozess einzubringen, sowie von den Erfolgschancen von Regierungsvorlagen im Parlament. Je größer die Wahrscheinlichkeit der unveränderten Übernahme von Regierungsvorlagen im parlamentarischen Entscheidungsprozess ist, desto größer die Chancen für erfolgreiches bürokratisches Agenda-Setting.

2. Strategische Interaktion

Als zweite Möglichkeit bürokratischer Beeinflussung politischer Entscheidungsprozesse kann die strategische Interaktion bei der Bearbeitung von Gesetzesvorlagen auf ihrem Weg durch die Bürokratie angesehen werden. Diese findet ihren Platz in der "politischen" Phase, also nachdem eine Gesetzesidee von der Seite politischer Akteure in Umlauf gebracht oder ein Auftrag des Ministers zur Erarbeitung eines Vorschlages erteilt worden ist. Die Möglichkeit apriorischer Themenbestimmung durch die Bürokratie ist damit nicht mehr vorhanden, Verwaltungsmitarbeiter können aber durch geschicktes Interagieren, Ausnutzen wechselseitiger Kontakte und organisationeller Entscheidungsprozesse Einfluss auf die Entwicklungsrichtung einer solchen Initiative nehmen .

Zwei Faktoren bestimmen die Einflussmöglichkeiten der Bürokratie durch strategische Interaktion: Der erste Faktor ist der Grad der Homogenität des Personals, der vor allem durch die Rekrutierungs- und Karrieresysteme innerhalb der Verwaltung festgelegt wird. Eine höhere Homogenität kann aufgrund der daraus resultierenden besseren Koordinationsmöglichkeiten zu einem höheren Einflusspotenzial der Bürokratie führen. Der zweite Faktor ist der Grad der Politisierung der Führungsebene innerhalb der Bürokratie. Je stärker die Besetzung dieser Führungsebene politischem Zugriff unterliegt, desto geringer ist das Potenzial für bürokratische Beeinflussung politischer Entscheidungen durch strategische Interaktion .

3. Politikbeeinflussung in der Implementationsphase

Die dritte Möglichkeit bürokratischer Politikbeeinflussung ist die Abweichung von den politischen Intentionen bei der Implementation von Gesetzen. In der angelsächsischen Literatur wird dies als "bureaucratic drift", als bürokratisches Abdriften, bezeichnet . Die Möglichkeiten dafür werden durch die Interpretationsoffenheit von Gesetzen und durch die Möglichkeiten von Regierung und Parlament zur Kontrolle bürokratischen Handelns bestimmt. Dieser Punkt verweist wiederum auf die Ressourcenausstattung der politischen Akteure.

Darüber hinaus gibt es im Falle der Existenz von Koalitionsregierungen eine Ermöglichungsstruktur für bürokratisches Driften, die sich wie folgt beschreiben lässt: Bei Koalitionspartnern kann davon ausgegangen werden, dass sie nicht über identische politische Ziele verfügen. Gesetze, die mit der Mehrheit der Koalitionspartner verabschiedet werden, stellen deshalb immer Kompromisse zwischen den politischen Positionen der Koalitionäre dar. Der Raum zwischen den politischen Positionen der Koalitionspartner kann in der Implementationsphase von der Bürokratie für Abweichungen von den politischen Intentionen genutzt werden.

Die maximale Driftmöglichkeit ist durch die politischen Positionen (Idealpositionen) der Koalitionspartner gegeben. Die Bürokratie kann ungefährdet bis zur Idealposition eines der Koalitionspartner driften. Geht sie über diese Position hinaus, muss sie mit politischen Kursberichtigungen rechnen. Daraus folgt, dass der Spielraum für bürokratisches Driften umso größer ist, je größer der Abstand zwischen den politischen Positionen der Koalitionspartner ist . Umgekehrt wird deutlich, dass der Spielraum bei Einparteienregierungen oder ideologisch sehr nahen Koalitionspartnern stark beschränkt sein kann.

III. Einflussmöglichkeiten der Bürokratie im Gesetzgebungsverfahren am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland

Die folgende Darstellung der Einbindung der Ministerialverwaltung des Bundes in den Gesetzgebungsprozess der Bundesrepublik Deutschland ist ein illustrierender Verbindungsschritt zur anschließenden vergleichenden Betrachtung einflussbestimmender Strukturmerkmale für ausgewählte OECD-Länder. Die strukturellen Bestimmungsgrößen bürokratischen Einflusspotenzials auf den verschiedenen Stufen werden am Ende dieses Abschnittes zusammengefasst.

1. Der Referentenentwurf

Auf der ersten Stufe des Gesetzgebungsprozesses sind die Mitarbeiter der Ministerialverwaltungen die Haupt-, im Prinzip sogar die einzigen Akteure. Damit ist offensichtlich, dass sie die Gestalt eines Gesetzentwurfes maßgeblich bestimmen. Anlass für die Entwicklung eines Gesetzentwurfes in der Bürokratie, den "Referentenentwurf", kann das "Entdecken" zu regelnder Probleme durch die Verwaltungsmitarbeiter selbst wie auch die Anregung durch Interessenverbände sein, die direkt an die Ministerialbürokratie geleitet wird. Dieser Fall wird in der Literatur als dezentrale Programmentwicklung bezeichnet und entspricht dem bürokratischen Agenda-Setting. Der Auftrag zur Entwicklung eines Gesetzes kann natürlich auch vom Minister oder aus seiner direkten Umgebung kommen. Das wird mit dem Begriff der zentralen Programmentwicklung bezeichnet und lässt der Bürokratie vor allem den Einflussweg der strategischen Interaktion.

Bei der Erarbeitung von Gesetzesvorlagen in den Ministerien haben die Referatsleiter einen entscheidenden Einfluss auf das Produkt, denn sie sind formal für den Entwurf verantwortlich. Ihnen obliegt nicht nur die Aufsicht über das Erarbeiten der Details eines Vorschlages innerhalb ihres Referates, in der Regel übernehmen sie auch die notwendige Koordination innerhalb des Ministeriums, mit anderen Ministerien sowie den laut Geschäftsordnung zu unterrichtenden Spitzenverbänden. Die Zusammenarbeit von Bürokratie und Interessenverbänden bedingt einen Zuwachs an Information für die Bürokratie. Diese Information stellt die Verwaltung in weiteren Stufen wiederum anderen Akteuren zur Verfügung. Da die politischen Akteure vom Expertentum der Bürokratie abhängig sind, besteht für diese die Möglichkeit einer strategischen Nutzung ihres Informationsvorsprungs.

Die inhaltliche Ausrichtung eines Entwurfes in der dezentralen Programmentwicklung wird neben den individuellen Vorstellungen und Zielen der bearbeitenden Beamten von der "Sicht des Ministeriums" beeinflusst. Unter der "Sicht des Ministeriums" ist eine kollektiv geteilte "Theorie" über die Aufgabe (Mission) und Funktionsweise eines Ministeriums zu verstehen, die in der Regel nicht explizit diskutiert oder als solche wahrgenommen wird . Besondere Bedeutung erlangt die "Sicht des Ministeriums" bei der zentralen Programmentwicklung. Da hier eine direkte Aufgabenstellung durch den Minister vorliegt, kann davon ausgegangen werden, dass der Minister relativ klare Vorstellungen über den Regelungsgegenstand und entsprechende Erwartungen zur Art der Regelung hat. Je deutlicher ausgeprägt in dieser Situation die "Sicht des Ministeriums" ist, desto besser kann die Verwaltung durch strategische Interaktion die Lieferung identischer Informationen und abgestimmter Vorlagen an den Minister sicherstellen. Sie kann dadurch einem Gesetz oder einer Verordnung trotz der Initiative des Ministers immer noch ihre eigene Prägung geben, weil nach einer langen Kette von Vorentscheidungen durch die Bürokratie die politische Beeinflussung eines Referentenentwurfs sehr schwierig ist . Alternativen, die auf der Referentenstufe verworfen wurden, kommen nur noch mit geringer Wahrscheinlichkeit in Kabinett und Parlament zur Sprache .

Folgendes muss jedoch zur Relativierung der Einflussmöglichkeiten der Bürokratie gesagt werden. Es ist davon auszugehen, dass Beamte der Ministerialbürokratie ein feines Gehör für Signale aus der politischen Führungsebene der Exekutive haben. Dies wird durch die Existenz politisch besetzter Positionen in der administrativen Führungsebene der Ministerien (Staatssekretäre, Abteilungsleiter, Unterabteilungsleiter) unterstützt. Mitarbeiter der Ministerialverwaltungen werden politische Ziele und Vorstellungen ihres Ministers oder des gesamten Kabinetts bei der Entwicklung von Vorschlägen - insbesondere bei der dezentralen Programmentwicklung - in Rechnung stellen, weil Entwürfe die Unterstützung des Ministers benötigen, um als Kabinettsvorlage in den politischen Entscheidungsprozess zu gelangen . Diese Unterstützung erhalten sie jedoch nur, wenn sie zentralen Interessen des Ministers nicht zuwider laufen.

Allerdings steht auch diese Einschränkung wiederum unter einem Vorbehalt: Bei der Menge an Vorlagen, die in einem Ministerium entwickelt werden, ist davon auszugehen, dass der Minister nur einem Teil davon seine Aufmerksamkeit schenken kann und dass er auch nur für einen Teil dieser Anliegen ein wirkliches Interesse sowie Zielvorstellungen hat. In Bereichen, in denen das nicht der Fall ist, muss der Minister der Bürokratie mehr Spielraum bei der Politikgestaltung überlassen. Eine gute Illustration hierfür ist eine Aussage über den christdemokratischen Bundesinnenminister Gerhard Schröder (Amtszeit 1953-1961): "Schröder widmete sich nur einigen, den wichtigsten Dossiers, diesen aber ganz persönlich und intensiv. Die anderen Bereiche wusste er bei seinen Staatssekretären in guter Obhut." Letztere sind jedoch in der Regel gestandene Verwaltungsleute und folgen dementsprechend einer bürokratischen Handlungslogik.

Es ist wahrscheinlich, dass ein Minister die meisten Vorschläge unterstützt, durch die nicht ausdrücklich politische Interessen verletzt werden. Durch diese Art der Anerkennung der Arbeit seines Ministeriums kann er die Moral der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hoch halten und darüber hinaus nach außen Aktivität demonstrieren, ohne dass ihm dadurch "Kosten" entstehen.

Die Beschränktheit der Aufmerksamkeit gilt analog für das Parlament. Für Anliegen, die einzelnen Parlamentariern oder Gruppen von Parlamentariern wichtig sind, werden Gesetzesinitiativen aus dem Parlament gestartet. Das ist für die einzelnen Parlamentarier mit einem hohen Aufwand verbunden, und selbst bei einer parlamentarischen Initiative behalten die Ministerialbürokraten als Berater und Informationslieferanten oft einen erheblichen Einfluss . Da aber die verfügbare Zeit der Parlamentarier selbst in einem vergleichsweise ressourcenstarken Parlament wie dem Deutschen Bundestag stark beschränkt ist, muss ein großer Teil an zu regelnden Problemen der aktiven Aufnahme durch die Bürokratie überlassen bleiben. Je schlechter die parlamentarische Ressourcenausstattung ist und je geringer die Bedeutsamkeit der wahrgenommenen Probleme, desto höher dürfte dieser Anteil sein. Im vergleichenden Abschnitt wird gezeigt, dass zwischen den untersuchten Ländern große Unterschiede in dieser Hinsicht bestehen.

2. Die parlamentarische Diskussion eines Entwurfes

Bei der Diskussion der Gesetzesvorschläge in den Ausschüssen des Bundestages spielen Bürokraten aus den "vorschlagstragenden" Referaten nochmals eine wichtige Rolle. Die Referatsleiter übernehmen in der Regel die Verteidigung der Vorschläge in den Ausschüssen und unterstützen die Ausschüsse durch Bereitstellung von Fachinformationen . In vielen Fällen werden in den Ausschüssen Änderungen an Gesetzesvorlagen vorgenommen. Das zeigt, dass der Bundestag einschließlich seines Ausschusssystems ausreichend ressourcenstark ist, um die Arbeitsergebnisse der Verwaltung nicht nur zu bewerten, sondern auch zu ändern. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass durch die "nachsorgende" Betreuung von Vorlagen in den Ausschüssen durch die zuständigen Referenten der Einfluss des Ministeriums gewahrt bleibt. Deutliche Ausnahmen von der Regel der Beeinflussung politischer Entscheidungen durch die Ministerialbürokratie gibt es jedoch bei stark politisierten Entscheidungen, wie etwa der Entscheidung über die strafrechtliche Behandlung des Schwangerschaftsabbruches oder den Beschluss über den Umzug der Bundesregierung nach Berlin. Hier erhalten die Bürokratien erst wieder bei der Ausgestaltung von Detailregelungen, die den Grundsatzentscheidungen folgen, größere Einflussmöglichkeiten.

Ein direkter Zugang der Parlamente zur Bürokratie impliziert eine bessere Kontrollierbarkeit des Verwaltungs- und Regierungshandelns durch das Parlament. Dieser Zugang wird in der Bundesrepublik Deutschland unterstützt durch offizielle Rechte des Bundestages zur Anhörung von Ministern und Beamten aus den Ministerien sowie durch das Recht zur Anforderung von Regierungsdokumenten .

Eine Handlungsressource der Regierung, die de facto ebenfalls die Einflusschancen der Bürokratie verbessert, stellt die Einschränkung der parlamentarischen Diskussionsmöglichkeiten von Gesetzesvorschlägen dar. So stehen dem britischen Unterhaus nur drei Tage zur Diskussion des Haushaltsplanes zur Verfügung, danach muss dieser zur Abstimmung gestellt werden . Damit ist eine effektive parlamentarische Kontrolle und Überarbeitung des Entwurfes stark behindert. Da auch das Kabinett sich bei der Haushaltplanung auf das Setzen grober Richtlinien beschränken muss, verfügen die Bürokraten, die dieses detaillierte Gesetz entwerfen, über einen hohen Einfluss auf die Struktur des Staatshaushaltes.

3. Implementation von Gesetzen

Die Implementation eines Gesetzes ist die Stunde bürokratischer Aktivität schlechthin. Eine Kontrolle findet zwar auch in dieser Phase statt, sie ist aber vornehmlich rechtliche und Finanzkontrolle oder wird über den Petitionsausschuss durch unzufriedene Bürger aktiviert. Erschwerend ist, dass in dieser Phase Kontrolle der Verwaltung nicht mit Erfolgskontrolle gleichgesetzt werden kann, da auch bei getreuer Umsetzung rechtlicher Regelungen nicht garantiert ist, dass die angestrebten Ziele auch erreicht werden. Zu diesem Ergebnis kommt nicht nur die Implementationsforschung, das zeigt auch die alltägliche Beobachtung politischer Prozesse . Deshalb ist die Implementationsphase nicht nur die Stunde bürokratischer Aktivität, sondern gegebenenfalls auch die Stunde bürokratischer Zielabwandlung oder "bürokratischen Driftens".

Als ebenfalls zentral für die Möglichkeit bürokratischen Driftens wird die Existenz von Koalitionsregierungen bezeichnet, weil sich zwischen den politischen Positionen der Koalitionäre Raum für bürokratische Zielabwandlung ergeben kann. Die Bundesrepublik, als in der Regel koalitionsregiertes Land, bietet nach diesem Modell der Bürokratie während der Implementation eigene Aktionsspielräume. Dass die Vorstellung von der Existenz eines Spielraumes nicht aus der Luft gegriffen ist, kann folgendes Beispiel verdeutlichen: Unter Minister Zimmermann (CSU, Minister von 1982-1989) wurden im Innenministerium Regelungen zum Datenschutz, Asyl- und Ausländerrecht entwickelt. Durch das liberal geführte Justizressort erfolgte seinerzeit schon auf der Referentenebene eine Beeinflussung der Gesetzesentwicklung, weil die Vorstellungen der FDP deutlich von denen der CDU/CSU abwichen . In der Implementationsphase eröffnen diese politischen Differenzen den Bürokraten einen Interpretationsspielraum, der durch erneute politische Entscheidungen kaum nachträglich verengt werden kann.

4. Bestimmungsgrößen bürokratischen Einflusspotenzials

Aus der Beschreibung wird deutlich, dass eine Reihe von Strukturmerkmalen Einfluss darauf haben, welche Rolle Ministerialbürokratien im Gesetzgebungsprozess spielen können. Diese Merkmale sind hier zusammenfassend den drei Einflussarten zugeordnet:

1. Bestimmend für Möglichkeiten administrativen Agenda-Settings sind (a) die Unterschiede in den Arbeitsressourcen (Personalstärke) zwischen Bürokratie und politischen Akteuren, (b) das "Kräfteverhältnis" zwischen rein bürokratischen Positionen und politischen Positionen an der Schnittstelle zwischen Politik und Verwaltung, (c) das "Kräfteverhältnis" zwischen Bürokratiespitzen und Kabinett und (d) die formalen Rechte des Parlamentes im Prozess der Gesetzgebung.

2. Das Potenzial für erfolgreiche strategische Interaktion im Entscheidungsprozess wird insbesondere durch die personelle Homogenität der Verwaltung bestimmt.

3. Schließlich werden die Möglichkeiten zu administrativer Zielverschiebung in der Implementationsphase vor allem durch die Anzahl der Regierungsparteien und die ideologischen Differenzen zwischen den Regierungsparteien bestimmt.

Die Ausprägung dieser Merkmale wird im Folgenden Abschnitt für ausgewählte OECD-Länder empirisch vergleichend dargestellt.

IV. Vergleich des politischen Einflusspotenzials der Regierungsbürokratien

Ziel dieses Abschnittes ist es, eine Klassifikation der Untersuchungsländer entsprechend dem Einflusspotenzial ihrer Ministerialbürokratien zu entwickeln. Dabei wird erwartet, dass Ländergruppen deutlich werden, die der Zugehörigkeit zu bestimmten Rechtstraditionen entsprechen. Es wird von der Existenz vier unterschiedlicher Rechtstraditionen ausgegangen: einer angloamerikanischen, einer kontinentaleuropäisch-französischen, einer kontinentaleuropäisch-deutschen und einer skandinavischen . Nach dem üblichen Verständnis müssten die Länder mit kontinentaleuropäischer Rechtstradition einflussreichere Bürokratien besitzen als Länder mit angloamerikanischer oder skandinavischer Tradition .

1. Bürokratisches Agenda Setting

Die Möglichkeit für bürokratisches Agenda-Setting ist, so wurde argumentiert, zunächst eine Funktion der Ressourcenausstattung der politischen Akteure Regierung und Parlament. Hier soll zunächst die Personalausstattung von Bürokratie und Kabinett verglichen werden, bevor ein Ausstattungsvergleich zwischen Bürokratie und Parlament angestellt wird. Es liegt auf der Hand, dass es in beiden Fällen nicht um die Frage gehen kann, ob die politischen Akteure ausreichende Ressourcen zur Ausarbeitung vollständiger Gesetzesentwürfe haben. Vielmehr geht es um die Frage, ob die Ressourcenausstattung so groß ist, dass in erheblichem Umfang die Anregung für das Erstellen von Referentenentwürfen von politischen Akteuren kommen kann, oder ob schon hier angelegt ist, dass die Bürokratie die Tagesordnung zu bestimmen vermag.

Als Strukturmerkmal wird erstens das Größenverhältnis zwischen Leitungsgruppe innerhalb der Ministerialverwaltung (SES - Senior Executive Service) und Kabinett betrachtet. Zweitens wird die Existenz einer Erweiterung des Kabinetts durch Positionen wie die britischen "Junior Ministers" oder die deutschen Parlamentarischen Staatssekretäre überprüft. Die Existenz solcher politischen Erweiterungen des Kabinetts kann die Aufmerksamkeitsspanne der politischen Exekutive spürbar erhöhen, weil die Anzahl politischer Exekutivposten sich gegenüber dem Kabinett im engeren Sinne deutlich erhöht.

Betrachtet man die Größenverhältnisse zwischen SES und Kabinett kann man im Falle Neuseelands als dem einen Extrem ein sehr geringes Gefälle von lediglich acht Spitzenbürokraten auf einen Minister konstatieren (vgl. Tabelle 1), womit eine hohe politische Steuerbarkeit der Ministerien durch die Minister und dementsprechend eher geringe Möglichkeiten des Agenda-Settings für die Bürokratie einhergehen dürften. Da die USA (531 Spitzenbeamte auf einen Minister) wegen der äußerst hohen Besetzung der Exekutive mit politischen Stelleninhabern keinen echten Vergleichsfall darstellen, ist Großbritannien - mit mehr als 150 Spitzenbürokraten auf ein Kabinettsmitglied - als das entgegengesetzte Extrem anzusehen. Das hier gegebene Größenverhältnis lässt nur eine begrenzte politische Steuerung des bürokratischen Apparates erwarten.

Diese Einschätzung muss jedoch wegen der Existenz kabinettserweiternder Funktionen ("Junior Ministers") mit eigener Politikzuständigkeit in Großbritannien relativiert werden. Die "Junior Ministers" erhöhen die Steuerungsfähigkeit des Kabinetts gegenüber der Bürokratie. Ähnlich hochwertige "Zusatzminister" gibt es nur noch in Australien und Irland - beides Länder mit einer britischen Tradition der politischen Institutionen. Das Land mit den schwächsten Möglichkeiten politischer Steuerung der nationalen Ministerialbürokratie und dementsprechend den größten Möglichkeiten bürokratischen Agenda-Settings ist unter den genannten Kriterien die Schweiz.

Auf der parlamentarischen Seite wird die Möglichkeit effektiven administrativen Agenda-Settings von mehreren Faktoren beeinflusst: So geht es zunächst um Ressourcen, die beschreiben, in welchem Maße das Parlament zur Klärung von Zielvorstellungen und zur Bearbeitung von Politikvorschlägen in der Lage ist. Dabei wird unterschieden nach personellen Ressourcen (Größe des parlamentarischen Unterstützungsapparates), strukturellen Ressourcen (Differenziertheit und Arbeitsweise des Ausschusssystems), formellen Ressourcen (gesetzlich oder verfassungsmäßig festgeschriebene Rechte des Parlaments im legislativen Prozess) und schließlich informationellen Ressourcen. Hier kann jedoch nur exemplarisch auf den Vergleich der Personalausstattung eingegangen werden .

Auf der Ebene der personellen Ressourcen kann eine große Variationsbreite zwischen den untersuchten OECD-Ländern festgestellt werden. So variiert die Größe des parlamentarischen Unterstützungsapparates in der ersten Hälfte der neunziger Jahre zwischen 115 Personen in der Schweiz und ca. 23 500 Personen in den USA. Das Verhältnis von parlamentarischem Unterstützungsapparat zur Größe der Ministerialbürokratie variiert von weniger als zehn Ministerialangestellten pro Parlamentsmitarbeiter in der Bundesrepublik Deutschland und Norwegen bis zu über 800 Ministerialangestellten pro Parlamentsmitarbeiter in Portugal . Es wird deutlich, dass die einzelnen Parlamente dramatisch unterschiedliche Voraussetzungen haben, mit den Informationsverarbeitungskapazitäten der Ministerialbürokratien mitzuhalten. Während der norwegische Storting und der Bundestag in dieser Beziehung glänzend dastehen, kann für die portugiesische Assembleia da República nicht von einer adäquaten Ressourcenausstattung gesprochen werden . Folglich müssen die Bedingungen für bürokratisches Agenda-Setting in Portugal wesentlich besser sein als in Deutschland oder Norwegen.

Der Ressourcenvergleich zwischen Parlament und Bürokratie gestattet die Einschätzung der Möglichkeiten bürokratischen Agenda-Settings. Der zentrale Indikator für die Erfolgschancen bürokratischen Agenda-Settings ist die Wahrscheinlichkeit, mit der die Regierung im Parlament Unterstützung für ihre Vorschläge finden wird. Je höher die Verlässlichkeit parlamentarischer Unterstützung, wie sie etwa bei Einparteienmehrheitsregierungen in der Regel gegeben ist , desto besser sind die Chancen für erfolgreiches administratives Agenda-Setting. Je geringer diese Verlässlichkeit - wie etwa bei Minderheitsregierungen -, desto geringer die Erfolgschancen. Die Daten zeigen, dass in einer Reihe von Ländern - namentlich Großbritannien, Neuseeland, Spanien und Griechenland - während der letzten drei Dekaden ganz überwiegend Einparteienmehrheitsregierungen wirkten. Dem gegenüber stehen Schweden, Dänemark und Norwegen als Länder, in denen überwiegend Minderheitsregierungen amtierten. Damit ist für die erste Ländergruppe von hohen Chancen für erfolgreiches administratives Agenda-Setting auszugehen, während in der letzteren Gruppe das Gegenteil gilt.

Nach der Darstellung struktureller Bedingungen für bürokratisches Agenda-Setting soll nun zur Betrachtung der Struktur des öffentlichen Personalsystems übergegangen werden. Die Struktur des Personalsystems definiert maßgeblich die Chancen für erfolgreiche strategische Interaktion bei der Bearbeitung von Gesetzesentwürfen innerhalb der Ministerialverwaltung.

2. Struktureigenschaften des Personalsystems und strategische Interaktion

Als zweite Art bürokratischer Politikbeeinflussung wurde die strategische Interaktion bei der Bearbeitung von Gesetzesvorlagen innerhalb der Bürokratie beschrieben. Die Fähigkeit der Verwaltungsmitarbeiter dazu wird erstens durch das Rekrutierungs- und Karrieresystem beeinflusst. Eine homogenisierende Wirkung des Rekrutierungssystems auf die Personalstruktur kann das Potenzial zu erfolgreicher strategischer Interaktion erhöhen. Zweitens haben der Grad der Politisierung der Führungsebene der Bürokratie und das Rekrutierungssystem für die Besetzung der Spitzenpositionen Einfluss auf dieses Potenzial. Je offener das Rekrutierungssystem der Führungsebene und je stärker ihre Politisierung ist, desto geringer sind die Erfolgschancen strategischer Interaktion.

Bezüglich der Rekrutierungs- und Karrieresysteme werden zwei Gruppen von Ländern erkennbar: solche mit eher offenen und solche mit eher geschlossenen Systemen. In Abbildung 1 wird dies verdeutlicht durch die Lage der Kreise auf der horizontalen Achse, die einen Indikator für das Rekrutierungssystem des Verwaltungspersonals darstellt. Die skandinavischen und angloamerikanischen Länder sowie die Schweiz erscheinen hier als rekrutierungsoffen, im Gegensatz zu den kontinentaleuropäischen Ländern und Japan, die eher geschlossene Rekrutierungssysteme aufweisen .

Unterschiede bestehen auch im Leitungsbereich der Verwaltungen, dem "Senior Executive Service" (SES), wie die Lage der Kreise auf der vertikalen Achse der Abbildung veranschaulicht. Allerdings liegt das Feld hier wesentlich dichter beieinander und die Unterschiede verlaufen nicht entlang der gleichen Linien wie beim Rekrutierungssystem. Portugal und Irland fallen mit einer vergleichsweise schwachen Stellung des SES auf, während die stärkste Stellung in Österreich und Belgien beobachtet werden kann. Die Aggregation beider Indikatoren wird durch die Größe der Kreise in der Abbildung dargestellt. Sie gibt einen Gesamtwert für das Potenzial zu strategischer Interaktion, dass aus der Struktur der Personalsysteme in den untersuchten Ländern hervorgeht. Hier wird nochmals die relativ schwächere Position der Bürokratie in den skandinavischen und angloamerikanischen Ländern sowie der Schweiz deutlich.

3. Spielraum bei der Implementation

Als dritte Art bürokratischer Politikbeeinflussung soll die Möglichkeit der Abweichung von politischen Zielen in der Implementationsphase empirisch betrachtet werden. Dabei wird in der Tradition des Vetospieleransatzes von Tsebelis davon ausgegangen, dass in der Tendenz die ideologische Gesamtdistanz zwischen den Regierungspartnern mit der Anzahl der Regierungsparteien steigt. Daraus folgt, dass mit der Anzahl der Regierungsparteien tendenziell auch der Spielraum für bürokratische Zielverschiebungen in der Implementationsphase steigt.

In einer Reihe von Ländern sind die Möglichkeiten administrativer Politikbeeinflussung durch Zielverschiebung in der Implementationsphase gering. Namentlich sind dies Spanien, Kanada, Großbritannien, Griechenland und Neuseeland, denn diese Länder wurden überwiegend von Einparteienregierungen geführt (vgl. Tabelle 2) . In einer solchen Konstellation ergibt sich für die Bürokratie überhaupt kein mehrheitsfreier Raum, denn zu dessen Entstehung sind mindestens zwei Regierungsparteien notwendig. Am anderen Ende des Spektrums stehen Finnland, die Schweiz, Belgien, Japan und Italien in denen durchschnittlich vier und mehr "Vetospieler" agieren, Hier kann mit einem großen Handlungsfreiraum für die Bürokratien gerechnet werden.

V. Resumee

Die Zusammenfassung der Ergebnisse erfolgt in einer Rangklassifikation, in der die Untersuchungsländer nach dem relativen Einflusspotenzial ihrer Ministerialbürokratien platziert werden . Diese Klassifikation zeigt, dass die am Beginn des vierten Abschnittes formulierten Erwartungen grosso modo als zutreffend angesehen werden können. In der oberen Hälfte der Tabelle 3 finden wir vor allem kontinentaleuropäische Länder und Japan. Hier platzierte Länder weisen ein vergleichsweise hohes politisches Einflusspotenzial ihrer Ministerialbürokratien auf. Japan gehört - wegen der starken Orientierung seiner Verwaltungstradition am preußischen Modell - systematisch in diese Gruppe hinein. Die innere Differenzierung des kontinentaleuropäischen Modells in eine französisch und eine deutsch dominierte Tradition erscheint ebenfalls in der Reihenfolge der Länder wieder . Während die romanischen Länder im oberen Viertel der Tabelle platziert sind, liegen die deutschsprachigen Länder vor allem im zweiten Viertel.

Der mittlere und untere Teil der Tabelle stehen für sinkende Einflussmöglichkeiten der Ministerialbürokratie. Hier befinden sich vor allem angloamerikanische und skandinavische Staaten. Die Ersteren sind relativ breit über den mittleren und unteren Tabellenteil verteilt. Die Ministerialbürokratien in den europäischen Staaten Irland und Großbritannien sind dabei offensichtlich einflussreicher als die Bürokratien der englischsprachigen Länder der Neuen Welt. Die skandinavischen Länder mit ihren bürgeroffenen Verwaltungen konzentrieren sich schließlich im letzten Viertel der Tabelle. Hier erscheint der politische Einfluss der Ministerialverwaltungen als am deutlichsten begrenzt. Insgesamt wird sichtbar, dass die Rechts- und Verwaltungstradition erkennbare Konsequenzen für die strukturellen Bedingungen bürokratischen Einflusses auf politische Entscheidungen hat.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ich möchte mich bei Susann Burchardt, Jutta Horstmann und Edeltraud Roller für kritische Kommentare bedanken.

  2. Das zeigt eine Textanalyse der Verfassungen der OECD-Länder mit Hilfe der International Constitutional Library (ICL) der Universität Würzburg (http://www.uni-wuerzburg.de/law/index.html).

  3. Vgl. David Beetham, Bureaucracy, Buckingham 1996, S. 86-108.

  4. Namentlich sind dies Australien, Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, Dänemark, Frankreich, Finnland, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Japan, Kanada, Neuseeland, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, die Schweiz, Spanien und die USA.

  5. Vgl. Barbara Castle, The Castle Diaries 1974-76, London 1980; dies., The Castle Diaries 1964-70, London 1984; Michael Hesseltine, Where There Is a Will, London 1990.

  6. Vgl. Siegfried Fröhlich/Reinhold Haverkamp/Hans-Jürgen v. d. Heide/Sieghardt von Köckritz/Eckhardt Schiffer, Das Bonner Innenministerium. Innenansichten einer Behörde, Bonn 1997; Stépane Hessel, Danse avec le siècle, Paris 1997.

  7. Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Studienausgabe), Tübingen 19725, S. 854-855 als eine von vielen Textstellen.

  8. In Ermangelung einer eingängigen deutschen Übersetzung wird auch im Folgenden der englische Begriff verwendet.

  9. Vgl. Kai-Uwe Schnapp, Ministerial Bureaucracies as Stand-In Agenda Setters? A Comparative Description, Wissenschaftszentrum Berlin, Discussion Paper FS III 00-204, Berlin 2000, S. 14-16 und 21-24. (http://www.wzberlin.de/iw/papers/iii00-204.pdf)

  10. Zur Frage der strategischen Nutzung von Organisationsstrukturen siehe Thomas H. Hammond, Agenda Control, Organizational Structure, and Bureaucratic Politics, in: American Journal of Political Science, 30 (1986), S. 379-420.

  11. Zum Begriff der Politisierung vgl. Hans-Ulrich Derlien, The Politicization of Bureaucracies in Historical and Comparative Perspective, in: B. Guy Peters/Bert A. Rockman (Hrsg.), Agenda for Excellence 2. Administering the State, Chatham 1996, S. 149-162.

  12. Vgl. Christopher Kam, Not just Parliamentary "Cowboys and Indians": Ministerial Responsibility and Bureaucratic Drift, in: Governance, 13 (2000), S. 365-392.

  13. Vgl. zu dieser Argumentation Thomas Hammond/Jack Knott, Who Controls the Bureaucracy? Presidential Power, Congressional Dominance, Legal Constraints, and Bureaucratic Autonomy in a Model of Multi-Institutional Policy-Making, in: Journal of Law, Economics and Organization, 12 (1996), S. 119-166.

  14. Vgl. Bodo Benzner, Ministerialbürokratien und Interessengruppen, Baden-Baden 1989, S. 112-122.

  15. Vgl. ebd.

  16. Als klassische Beschreibung hierzu Edward Bridges, Portrait of a Profession: The Civil Service Tradition, London 1950, S. 15-16, zitiert in: Peter Barberis, The Elite of the Elite, Dartmouth 1996, S. 59.

  17. Vgl. Frido Wagner/Bernd Rückwardt, Führungshilfskräfte in Ministerien, Baden-Baden 1982, S. 79.

  18. Vgl. Jürgen Kussau/Lutz Oertel, Der Prozess der Problembearbeitung in der Ministerialverwaltung: Das Verkehrspolitische Programm für die Jahre 1968-1972, in: Axel Murswieck/Peter Grottian (Hrsg.), Handlungsspielräume der Staatsadministration, Beiträge zur politologisch-soziologischen Verwaltungsforschung, Hamburg 1974, S. 135-138.

  19. Vgl. Renate Mayntz/Fritz W. Scharpf, Policy-Making in the West-German Federal Bureaucracy, Amsterdam 1975, S. 95. Für Großbritannien Richard Rose, Giving direction to permanent officials: signals from the electorate, the market, laws and expertise, in: Jan-Erik Lane (Hrsg.), Bureaucracy and Public Choice, London 1987, S. 210-230.

  20. S. Fröhlich u. a. (Anm. 5), S. 48.

  21. Hans-Ulrich Derlien, Wer macht in Bonn Karriere? Spitzenbeamte und ihr beruflicher Werdegang, in: Die öffentliche Verwaltung, 43 (1990), S. 317, zeigt, dass in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ca. 70 Prozent aller Staatssekretäre direkt aus Bundesministerien und weitere 20 Prozent aus Landesministerien und anderen Behörden kamen. Eine Überprüfung der Lebensläufe der amtierenden Staatssekretäre ergab eine ähnliche Verteilung.

  22. Eine gute Illustration für den Aufwand, den Parlamentarier zu treiben haben, um eine Gesetzesinitiative aus der Mitte des Bundestages zu starten, findet sich bei Ullrich Fichtner, Politik aus der sechsten Reihe, in: Die Zeit, Nr. 42 vom 12. Oktober 2000, S. 17-20.

  23. Vgl. Joachim Jens Hesse/Thomas Ellwein, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1992, S. 228.

  24. Zur Problematik parlamentarischer Kontrolle des Regierungshandelns vgl. Herbert Döring, Parlamentarische Kontrolle in Westeuropa. Strukturen, Probleme, Perspektiven, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 27/96, S. 42-55, sowie Torbjörn Bergman/Wolfgang C. Müller/Kaare Strom, Introduction: Parliamentary democracy and the chain of delegation, in: European Journal of Political Research, 37 (2000), S. 255-260.

  25. Vgl. Brian Smith, The United Kingdom, in: D.C. Rowat (Hrsg.), Public Administration in Developed Democracies. A Comparative Study, New York 1988, S. 81.

  26. Vgl. Jan-Erik Lane, The Public Sector, London 1995, S. 97-117.

  27. Vgl. S. Fröhlich u. a. (Anm. 5), S. 132.

  28. Vgl. die Übersicht der in die Untersuchung einbezogenen Länder in Anm. 3.

  29. Die Einteilung der Rechtstradition nach Rafael La Porta/Florencio Lopez-de-Silanes/Andrei Shleifer/Robert Vishny, The Quality of Government, in: Journal of Law, Economics, and Organization, 15 (1999), S. 230.

  30. Vgl. M. Manzoor Alam, Public Personnel Policy in Europa. A Comparative Analysis of Seven European Countries, Helsinki 1998, S. 136.

  31. Eine darüber hinausgehende Darstellung empirischer Ergebnisse findet sich in: K.-U. Schnapp (Anm. 8).

  32. Vgl. ebd., S. 46-47.

  33. Die Berücksichtigung der unterschiedlichen Bevölkerungsgröße der Länder ist nicht erforderlich, weil das Größenverhältnis von Parlaments- und Ministerialbürokratie von der Bevölkerungsgröße unabhängig aussagekräftig ist. Eine explizite Berücksichtigung der Bevölkerungsgröße bewirkt darüber hinaus auch keine Änderung der Ergebnisse.

  34. Zur Verlässlichkeit parlamentarischer Unterstützung in Abhängigkeit vom Regierungstyp siehe Michael Laver/Norman Schofield, Multiparty Government. The Politics of Coalition in Europe, Oxford 1990, S. 150-155.

  35. Diese Informationen gehen zurück auf Astrid Auer/Christoph Demmke/Robert Polet, Civil Services in the Europe of the Fifteen: Current Situation and Prospects, Maastricht 1996, sowie auf eigene Erhebungen.

  36. Vgl. George Tsebelis, Decision-making in Political Systems: Veto Players in Presidentialism, Parliamentarism, Multicameralism, and Multipartyism, in: British Journal of Political Science, 25 (1995), S. 289-325.

  37. Die USA fallen aus dieser Betrachtung heraus, weil nicht im gleichen Sinne wie bei parlamentarischen Systemen von einer Anzahl der Regierungsparteien gesprochen werden kann. Es ist in der Literatur gezeigt worden, dass der bürokratische Ermessensspielraum in der Implementationsphase aufgrund der spezifischen Institutionenstruktur der USA sehr hoch ist; vgl. T. Hammond/J. Knott (Anm. 12).

  38. Diese Klassifikation beruht auf einer detaillierteren empirischen Beschreibung als der hier präsentierten. Siehe dazu K.-U. Schnapp (Anm. 8), besonders S. 60-65.

  39. Vgl. R. La Porta u. a. (Anm. 28).

  40. Basierend auf K.-U. Schnapp (Anm. 8), Tabelle 14, S. 62. Italien, Spanien, Griechenland und Kanada konnten in dieser zusammenfassenden Darstellung wegen fehlender Daten nicht berücksichtigt werden.

Dipl.-Pol, geb. 1966; wiss. Mitarbeiter im DFG-Projekt "Deutsche Elite 1995"; seit 1997 wiss. Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

Anschrift: Wissenschaftszentrum Berlin, Reichpietschufer 50, 10785 Berlin.
E-Mail: kuschnap@medea.wz-berlin.de

Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Christian Welzel) Wohin steuert das politische System des vereinten Deutschland? Zur Effektivität und Legitimität institutioneller Machtverschiebungen, in: Roland Czada/Hellmut Wollmann (Hrsg.), Von der Bonner zur Berliner Republik, Opladen 2000.