Einleitung
Ende 1997 bildeten sich an deutschen Universitäten studentische Arbeitsgemeinschaften, Seminare und Protestkundgebungen, die auf die katastrophale Situation in den Bildungseinrichtungen aufmerksam machten. Niemand hatte mehr damit gerechnet, dass sich brave StudentInnen überhaupt öffentlich Gehör verschaffen könnten. Wirtschaftsfunktionäre beklagen immer lauter den miserablen Ausbildungsstand der SchulabgängerInnen: Die Spaßschule gefährde die Exportnation. Alle stimmen in den Chor ein: Bildung ist die wichtigste Investition für ein zukunftsfähiges Deutschland in einer wirtschaftlich globalisierten Welt. Diese Forderung ist nicht neu: In Zeiten ökonomischer Umbrüche wird Bildung als Investition für wirtschaftliche Prosperität hervorgehoben
Die Notwendigkeit qualifizierter Menschen als Humankapital lässt sich bis zur Wirtschaftspolitik des merkantilen Staates zurückverfolgen: Um die Fürstenschatullen füllen zu können, stand das ökonomisch Nützliche im Vordergrund der Erziehung. Bildung ist aber mehr als nur Produktionsfaktor. Wie kann man der Forderung des Theologen und Lehrers Jan Amos Komenskys (1592-1670): allen alles zu lehren, gerecht werden? Dies scheint doch gerade in der Informationsgesellschaft utopisch
Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass nur Spezialisten die atemberaubende Informationsflut bewältigen könnten. Folglich müsste man insbesondere hochbegabte SchülerInnen zur Bewältigung hochkomplexer Aufgaben fördern. Werden wenige hochspezialisierte Wissende dem neuen "virtuellen Proletariat" (Umberto Eco) gegenüberstehen, das von gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen sein wird? Komenskys Zeit kennzeichneten radikale gesellschaftliche Umbrüche: Beginn der merkantilen Produktion und Herauslösung des Denkens aus der Autorität der alten Tradition religiös-dogmatischer Bevormundung. Gerade in dieser schweren Zeit erkannte Komensky die Notwendigkeit einer pädagogischen Vision, die allen Menschen alles Wissbare und Wissenswerte von Grund auf zu vermitteln hilft. Er glaubte, dass Menschen durch raschen gesellschaftlichen Wandel genötigt seien, Werte und Normen zu prüfen, um neue Lebensentwürfe erarbeiten zu können. Wer den strukturellen Wandel zur Informationsgesellschaft erlebt, muss seine Werte und Orientierungen überdenken. Darum sollten KulturvermittlerInnen die Erschließung kritischer Urteilskraft unterstützen, und zwar bei allen Menschen: sozial Schwachen, Behinderten, MigrantInnen und Hochbegabten.
Die wichtigste Institution für die Schaffung von kognitiven und sozialen Zugängen zum Wissen und dessen Demokratisierung war bisher das Bildungssystem. Doch sind die alten Institutionen auf die neuen Herausforderungen vorbereitet? Neben den Schulen befinden sich Hochschulen in einer Legitimationskrise. Geht es an Universitäten um Menschenbildung oder um Qualifikation für die Wirtschaft? Wie werden die Universitäten mit den Massen der Studierenden fertig? Welche Steuerungsinstrumente braucht eine moderne Massenuniversität? Können ArbeiterInnenkinder heute ein Studium finanzieren? Wie können wir ein neues Bildungswesen jenseits von leeren Staatshaushalten und ungleich verteiltem Privatvermögen gestalten?
I. Tobt der Generationenkonflikt in unseren Klassenzimmern?
Schnell spricht man von der 68er-, der No-Future- und der Spaß-Generation. Letztere kursiert auch unter dem Namen Generation X: konsumgeil, ziellos und egoistisch. Hinter diesen Etiketten verbergen sich junge Menschen, die versuchen, die "Last der drängenden Probleme unserer Zeit zu schultern", was "die Bereitschaft" erfordert, "Verantwortung für eine Gesellschaft und Republik zu übernehmen, die ihnen in vielen Dingen fremd geworden sind". Eigenschaften wie Hilfsbereitschaft und Solidarität haben dabei keineswegs an Wichtigkeit eingebüßt, doch im "immer härter werdenden Wettbewerb um den eigenen Platz in der Gesellschaft verändern sich die Identifikationsmuster mit dieser selbst"
Dass die Gesellschaft sich wirtschaftlich-technisch nicht mehr so weiter entwickeln kann, wie in den letzten dreißig Jahren, dass also die traditionelle Erwerbsarbeit nicht mehr selbstverständlich unsere Lebensqualität sichert, ist großen Teilen der Jugend - nicht nur Gymnasiasten und der akademischen Jugend - bewusst. Gerade die junge Generation zweifelt an dem Modell der traditionellen Industriegesellschaft, die Probleme der Ökologie und des Sozialen mit den alten Methoden und Institutionen zu lösen versucht. Kommende Generationen werden zur Artikulation der politischen Krise verstärkt Medien und Orte fernab der Parteien nutzen, um ihre Interessen zu vertreten. Hier lohnt ein Blick in die 12. Shell Jugendstudie: Sie beschreibt das Verhältnis der Jugend zu den politischen Parteien als "skeptische Distanz".
Wer allerdings glaubt, Jugendliche seien politikverdrossen, übersieht, dass Jugendliche neue Wege des politischen Engagements gehen, indem sie fernab des Parteienklüngels direkt darüber mitbestimmen wollen, was sie tun: Sprich - sie wollen mehr Demokratie wagen! Selbsthilfegruppen und Bürgerinitiativen werden die Lücken schließen, die Parteien hinterlassen, wenn es beispielsweise um die Folgen des rasanten technologischen Wandels geht. Dabei können Plebiszite und Personenwahlen durchaus eine adäquate Alternative zur politischen Arbeit in Parlamenten werden
Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?, fragte der Philisoph Schleiermacher. Seine Antwort war eindeutig: Die ältere Generation will dafür sorgen, dass die Jungen erwachsen und damit selbst einmal zur älteren Generation werden kann. Nach dieser Vorstellung geht es in der Erziehung um die Weitergabe der Tradition, um die Sicherung des kulturellen Zusammenhangs und gleichzeitig um das Fortschreiten der Menschheit zur Vollkommenheit. Zwei Punkte sind meines Erachtens nicht mehr zeitgemäß: Zum einen beinhaltet diese Pädagogik der Aufklärung immer auch den Keim der Zerstörung. Dass Geschichte und Erziehung nicht unbedingt zum Besseren fortschreiten, zeigt der Holocaust. Zum anderen ist in diesem Verständnis die ältere Generation immer die vermittelnde und die jüngere die zuhörende. Schleiermacher vom Kopf auf die Füße stellen heißt: Was will denn die jüngere Generation mit der älteren? Damit werden wir der Idee gerecht, dass sich das pädagogische Verhältnis umkehren kann. Die jüngere Generation kann in Gebieten der Technikbeherrschung, Mediennutzung und Lebensstilfragen zur pädagogisch älteren Generation werden. Lehrende sind Lernende, Lernende sind zugleich Lehrende: "Es könnte eine neue Form von Selbstverwirklichung sein, wenn die Lebensalter nicht mehr einander untergeordnet sind, sondern . . . durch den Dialog mit den jeweils anderen werden."
II. Unsere Schule: Ein Museumsstück der untergehenden Industriegesellschaft?
In modernen Industriegesellschaften besteht die Reaktion auf die Entwicklung des Menschen in staatlichen Institutionen, in denen Kinder und Jugendliche mit psychologischer Sachkenntnis betreut werden. Die Wirklichkeit, in der Kinder heranwachsen, ist zunehmend pädagogisiert und in voneinander isolierte Räume gegliedert. Verinselt reisen sie vom Musikunterricht zur Sportaktivität, vom Musikunterricht zum Jugendclub. Erst in jüngerer Zeit ist man darauf aufmerksam geworden, welche Isolierung der Generationen damit vorgenommen wird.
Zur Rettung der Schule ist gegenwärtig die Rede von Rezepten wie Prozessmanagement oder Benchmarking, bei denen sich gesellschaftskritische LehrerInnen die Augen reiben. Es ist auch verwunderlich, dass Wirtschaftsfunktionäre jetzt die wichtigen Fähigkeiten einfordern, die einst als linksideologische Unterwanderung des curricularen, abendländischen Wertehorizontes verdächtigt wurden: selbstständiges Arbeiten oder die Bereitschaft zur Arbeit in Gruppen. Wie können diese Schlüsselqualifikationen in einer guten Schule von LehrerInnen und SchülerInnen erworben werden?
Schule findet nicht im luftleeren Raum statt: Sie ist weder allein verantwortlich für bestimmte gesellschaftliche Erscheinungen, noch kann sie der Erwartung entsprechen, Haupttriebkraft gesellschaftlicher Veränderungen zu sein. Die Allmachtsphantasie der Reformjahre, die gesellschaftliche Praxis durch Erziehung verändern zu können, ist der Ernüchterung gewichen. Gewaltbereitschaft und Rechtsextremismus rufen Resignation und Ohnmacht hervor, die in dem Appell gipfeln, PädagogInnen müssten die Belastbarkeit und das Maß an Rationalität bei der Bewältigung von Konflikten bei ihren SchülerInnen erhöhen. Schule kann aber nur funktionieren, wenn keine unüberbrückbare Kluft zwischen Schulwelt und Realität besteht. Die gesellschaftliche Krise hat aber bereits die Jugend erreicht!
Erstmals wird seit Aufkommen der technisch-industriellen Arbeitsgesinnung der Wert der Arbeit als Mittel der Existenzsicherung sowie als Möglichkeit der politischen Partizipation fragwürdig. Für das Bewusstsein der jüngeren Generation insgesamt hat die Gefahr der drohenden Arbeitslosigkeit eine weitaus größere Bedeutung, als dies in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird
SchülerInnen und LehrerInnen erleben bewusst den Widerspruch, in dem Schule einerseits auf ein Arbeitsleben von der Ausbildung bis zur Rente vorbereiten soll, und dies aber andererseits durch Entschwinden der traditionellen Erwerbsarbeit gefährdet ist. Von Symptomen der Gegensätzlichkeit wird gesprochen: Es ist die Rede von stärkerer Gewaltbereitschaft bei SchülerInnen und von ausgebrannten LehrerInnen. Somit wird die Steuerung der eigenen Lebens- und Lernprozesse zur entscheidenden Fähigkeit der Zukunft. Lernen heißt dann Reflexion von Lebensmöglichkeiten sowie Veränderung des Lebenskontexts. Nur SchülerInnen, die eine starke Persönlichkeit entwickeln, sind den Anforderungen der Zukunft gewachsen. Sinnhaftigkeit und Anwendungszusammenhänge von Wissen müssen erfahrbar werden. Alltagsfragen, Alltagserfahrungen und Lebensprobleme, die SchülerInnen mitbringen, müssen die Lernsituationen mitbestimmen. Kann dies in einer Schule erreicht werden, die durch die methodische Monostruktur des 45-Minuten-Takts geprägt ist, in der LehrerInnen 50 Prozent der Unterrichtszeit durch Monologe verbrauchen und SchülerInnen sitzen, sitzen und sitzen? Bereits Pestalozzi brachte es auf die Formel: Lernen mit Kopf, Herz und Verstand. Seine Grundthese gilt gerade heute: Man lernt das Handeln nicht, indem man über das Handeln anderer Leute redet. Man lernt das Fühlen nicht dadurch, dass man über die Gefühle anderer redet. Das Gleiche gilt fürs Denken. Denken, Fühlen und Handeln bilden eine Einheit. Leider werden diese Ideen bis auf wenige Ausnahmen nicht genutzt. Zu diesen Ausnahmen gehört die Laborschule Hartmut von Hentigs: eine Schule ohne Klassenverbände, festen Stundentakt und Zensuren. Diese Schule ist als Polis konzipiert, in der SchülerInnen lernen, Verantwortung zu übernehmen, und in der das Schulleben jungen Menschen Anstöße und Gelegenheiten bietet, sich in demokratische Praktiken einzuüben. Nur in einer solchen Umgebung erlangt Wissen subjektiven Sinn und wird persönlich bedeutsam.
Im Unterricht müssen SchülerInnen nach der "Zone der nächsten Entwicklung" beurteilt werden - danach, wozu sie alleine noch nicht in der Lage sind, aber bereits in Kooperation. Gewöhnlich wird anhand von Aufgaben, die das Kind selbstständig lösen muss, nur das gegenwärtige Niveau getestet. Allerdings kann der Entwicklungsstand nicht allein davon bestimmt werden, was bereits herangereift ist, sondern vielmehr von dem, was sich noch herausbilden wird: "Nur der Unterricht ist gut, der der Entwicklung vorauseilt."
Selbstgesteuerte Lernprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft lassen LehrerInnen nicht überflüssig werden. Sie übernehmen zwar stärker beratende und moderierende Tätigkeiten, für SchülerInnen spielen sie jedoch als Verkörperung von Wissen und Intellektualität im Aneignungsprozess von Kultur eine Schlüsselrolle. Dabei sprengt die Arbeit an Projekten den Kontext des Klassenraums, indem SchülerInnen in die gesellschaftliche Praxis der Betriebe, Zeitungsredaktionen oder Behinderteneinrichtungen gehen. Die Wirtschaft ist nicht a priori eine "kontaminierte Zone", in der man "den Selbstverwirklichungssektor der Schule" verlässt
Vorbildlich für die Zusammenarbeit von Schulen und Unternehmen ist das Land Dänemark, dem der Carl Bertelsmann-Preis 1999 verliehen wurde. Dort sind auf allen Ebenen die für die berufliche Bildung zuständigen Gremien paritätisch besetzt und Jugendliche werden befähigt, ihre Ausbildung mitzugestalten. Zusammenspiel von Schulen und Unternehmen ist wichtig, "aber eben nur, wenn klar ist, dass die Firmen sie nicht als Werbefläche und als Quelle für Nachwuchskräfte missverstehen"
Immer noch denken LehrerInnen über ihre Zöglinge in moralischen Kategorien von Faulheit oder mangelnder Disziplin. Die Renaissance der Diskussion über die Einführung von Kopfnoten ist nur ein Beispiel hierfür. Anstelle einer aufgeregten Diskussion über ein ungenügendes Bild der Lernenden sollten sich PädagogInnen neugierig den neuen Kommunikationsformen öffnen und an den lauthals geforderten Werten Disziplin und Ordnung zweifeln. Sie sind eben nur Sekundärtugenden. Darum empfiehlt Günter Grass das Prinzip Zweifel als Grundwert für den LehrerInnenberuf
Projekte der arbeitsweltbezogenen Jugendsozialarbeit beginnen bisher erst gegen Ende oder sogar nach der Schulzeit. Sie beziehen sich dann auf SchulverweigerInnen und SchulabgängerInnen ohne Abschluss bzw. mit Zeugnissen, die so schlecht sind, dass Chancen auf Ausbildungsplätze von vornherein nicht bestehen. Entsprechende Maßnahmen wie das Sofortprogramm der Bundesregierung konzentrieren sich daher üblicherweise auf die Bereitstellung eines Ausbildungsplatzes. Haben die jungen Menschen ihre Ausbildung begonnen, stellt sich häufig heraus, dass sie von den zeitlichen Regelungen des Arbeitslebens und den zwischenmenschlichen Beziehungen am Arbeitsplatz vollkommen überfordert sind. Deswegen müssen wir berufliche Orientierung als Prozess verstehen - nicht als zwei oder drei Besuche beim Berufsberater -, in dem die Persönlichkeitsentfaltung mitgedacht wird und präventive Maßnahmen die Gesamtheit der Lebensbeziehungen schon mit Beginn der Schulzeit einbeziehen. Daneben bereiten LehrerInnen in der Regel ihre SchülerInnen auf ein Arbeitsleben vor, das sie selbst nur aus ,zweiter Hand' kennen gelernt haben: Gerade die Schule verlassen, begeben sich viele direkt wieder in ein Lehramtsstudium, ohne jemals andere praktische Erfahrungen gesammelt zu haben. Deswegen empfiehlt die Zukunftskommission der Landesregierung in Baden-Württemberg ein außerschulisches Praxissemester als festen Bestandteil in der LehrerInnenausbildung
III. Sind unsere SchülerInnen wirklich so schlecht wie ihr Ruf?
In seiner "Ruck"-Rede brachte Roman Herzog den Begriff Kuschelpädagogik in die Runde, der das beschreiben sollte, was längst als Thema in den Medien kursierte: "Wer die Noten aus den Schulen verbannt, schafft Kuschelecken, aber keine Bildungseinrichtungen, die auf das nächste Jahrtausend vorbereiten."
Es ist interessant zu beobachten, dass gerade in wirtschaftlichen Krisenzeiten die Schule um ihr Leben rennen muss. Mitte der sechziger Jahre hatte Deutschland im Vergleich von zwölf Industriestaaten nur den 11. Platz belegt, kurz darauf in der ersten Vergleichsstudie zum naturwissenschaftlichen Unterricht unter 19 Ländern den 17. Platz
Wir sollten uns stattdessen darüber verständigen, was man bei der Diskussion über die Qualität der Schulen unter einer guten Schule versteht. Zu einer solchen guten Schule gehören nicht nur hervorragende Leistungen in Mathematik und Physik. "Ohne Zweifel gehört die Vermittlung dieser Fähigkeiten zum Auftrag der Schule. Schulische Erziehungsarbeit braucht einen umfassenden Bildungsbegriff."
IV. Die Universität von morgen: Ein staatlicher Wartesaal?
Die studentischen Forderungen Ende 1997 zielten auf bessere Ausstattung, verstärkte finanzielle Unterstützung, eine Verbesserung der sozialen Situation und mehr Binnendemokratie an den Hochschulen. In vielen Universitäten traf man zu Beginn des Wintersemesters 2000 allerdings nur noch vereinzelt auf KommilitonInnen, die auf ihre Misere aufmerksam machten. War der Protest eine Eintagsfliege? Politisches Engagement der Studierenden stößt dort an Grenzen, wo der geregelte Studienablauf gefährdet ist. Sozialpsychologisch gesehen, führt der verschärfte Konkurrenzdruck im Beschäftigungssystem zu angepasstem Verhalten. Man frisst sich "Happen für Happen durch den Grießbrei bürokratischer Ausbildungsanforderungen" (Ulrich Beck) hindurch. Statt das Studium von bürokratischen Barrieren zu entrümpeln, werden durch das novellierte Hochschulrahmengesetz neue Hürden errichtet. Zwischenprüfungen, verkürzte Regelstudienzeiten sowie Verschärfungen des Berufsausbildungsförderungsgesetzes
Aber es gibt auch Lichtblicke: In einem gemeinsamen Europa war die Einführung der internationalen Abschlüsse Bachelor und Master längst überfällig. Dennoch: Ein effektives Studium wird nicht durch mehr Studienberatungspflicht oder neue Studiengänge erreicht. Chronische Lehrmittelmangel in technischen Labors oder fehlende Prüfer werden so nicht ausgeglichen. Vielmehr sind Randbedingungen wichtig, die auch Initiativen eines neuen Stiftungswesens einbeziehen. Michael Daxner schwebt eine Stiftungsuniversität - gefördert durch Staat, BürgerInnen oder Sponsoren - mitten in der Gesellschaft vor, die StudentInnen aktiv in Entscheidungen einbezieht und sich so für sie verantwortlich fühlt.
Die Hochschule muss sich für ein gemischtes Klientel öffnen: Einige sehen das Studium als direkte Berufsvorbereitung und fragen nach dem Tauschwert der zu vergebenden Zertifikate. Andere fühlen sich stärker dem Bildungsgedanken verpflichtet und versuchen gerade in kritischer Distanz zur beruflichen Praxis zu studieren. Wieder andere orientieren sich künftig nur an beruflicher Weiterbildung. Denn berufliche Erstausbildung ist längst nicht mehr Endstation einer Lernbiografie. Neben der beruflichen Qualifikation müssen Universitäten ihre AbsolventInnen auch auf ein Erwerbsleben mit unsicheren Phasen ohne Arbeit vorbereiten. Richard Sennett konstatiert, dass die meisten westlichen Gesellschaften zwar die Türen der höheren Bildungseinrichtungen geöffnet haben. So rechne man z. B. in den USA im Jahr 2010 damit, dass 41 Prozent aller Fünfundzwanzigjährigen ein vierjähriges Studium abgeschlossen haben werden; der Anteil in Großbritannien und Westeuropa werde um jeweils etwa zehn Prozent niedriger geschätzt. Aber nur ein Fünftel aller Stellen auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt setze einen akademischen Abschluss voraus, und der Prozentsatz dieser hoch qualifizierten Stellen wachse nur langsam an. Scheitern sei nicht mehr länger nur eine Aussicht der Armen und Unterprivilegierten; es sei auch zu einem häufigen Phänomen im Leben der Mittelschicht geworden. Wer scheitere, gelte immer noch als Verlierer: In der neuen kapitalistischen Kultur sei dies das große moderne Tabu
Deutsche Universitäten sind besser als ihr Ruf in der öffentlichen Debatte, in der allzu oft der Modus Operandi Effizienz im Vordergrund steht. Dies äußert sich in der Vorstellung, die Hochschule habe ausschließlich auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Andererseits hegen VertreterInnen einer humanistischen Bildungsidee Misstrauen gegenüber ökonomischen Reformen: Der allgemeinbildende Anspruch der Menschenbildung werde aus der Universität vertrieben. Jedoch führt die Verabsolutierung einer der beiden Positionen zu keinem Ergebnis. Ein Bündnis für Bildung -parteien- und generationsübergreifend - müsste es sich zur Aufgabe machen, den Diskurs interdisziplinär unter Beteiligung von Wirtschaft und Bildungssystem zu führen. Dies gilt für Schulen, Hochschulen wie für das duale System.
V. Bildungspolitik jenseits von Staat und Markt
Ist das deutsche Bildungssystem im Kern verrottet?, fragt Peter Glotz. Entgegen der Verdummungshypothese ist die deutsche Bevölkerung so hoch qualifiziert wie nie zuvor. Das Gymnasium entwickelt sich immer stärker zur Hauptschule, da Eltern sowie SchülerInnen nur mit der vom Gymnasium verliehenen Zugangsberechtigung zur Universität eine gesicherte berufliche Zukunft sehen. Diese Befürchtung ist Resultat der Bildungsexpansion. Spätestens seit den achtziger Jahren kann man behaupten, dass die Bildungsexpansion eine Eigendynamik relativ unabhängig von politischen und ökonomischen Einflüssen entwickelt hat. Es entstand ein Paradox: Die Aufwertung der mittleren und höheren Abschlüsse ist gleichzeitig verbunden mit ihrer Entwertung. Der Aufwertungseffekt ist darin zu sehen, dass höhere Bildungsabschlüsse immer wichtiger für den Einstieg in viele Berufe werden. Wo früher niedrige Abschlüsse genügten, werden heute höhere gefordert. Da es viele BewerberInnen mit höheren Abschlusszertifikaten gibt, verlieren diese wiederum an Wert. Somit sind viele BewerberInnen mit gleichem Abschlussniveau gezwungen, Berufspositionen mit wesentlich geringerem Status als üblich einzunehmen. Sie bilden dann das so genannte akademische Proletariat.
An die Entwertung ist ein weiterer Vorgang gekoppelt: Die Abschlusszertifikate als Zuweisungskriterium zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem verlieren an Bedeutung. Die Auswahlentscheidung für berufliche Positionen verlagert sich aus dem Bildungssystem in die Arbeitswelt. Bildungsabschlüsse verlieren an Wert, aber ohne sie hat man keine Chance auf berufliche Karriere: ein Geisterbahnhof, in dem Schulen zu Wartesälen werden und Jugendliche ihre Ausbildung als Zukunftssicherung nicht mehr anerkennen. "Die Letzten beißen die Hunde", d. h., Jugendliche werden in die Chancenlosigkeit der strukturellen Arbeitslosigkeit weggebissen.
In dieser Not sehen viele im Königsweg Studium die einzige Chance, im Berufsleben Fuß zu fassen. Nach der Einschätzung der Kultusministerkonferenz wird die StudentInnenzahl in Deutschland im Jahr 2008 die zwei Millionengrenze überschritten haben
Eine neue Debatte über Chancenungleichheit ist notwendig! Die HauptverliererInnen der Bildungsexpansion sind die Kinder von un- und angelernten ArbeiterInnen, da sie vom Bildungsboom der sechziger und siebziger Jahre kaum erfasst worden sind. Seit den achtziger Jahren macht sich allmählich eine erneute soziale Schließung der Gymnasien und wissenschaftlichen Hochschulen bemerkbar. Folglich hat die Bildungsexpansion zwar insgesamt mehr Bildungschancen, aber nicht mehr Bildungsgerechtigkeit gebracht. Im Gegenteil: Die Chancenunterschiede haben sich auf einem höheren Niveau vergrößert. Bildungsforscher Jürgen Baumert, verantwortlich für die jüngsten Ergebnisse der TIMSS-Studie, zeigt sich selbst überrascht von dem langen Arm der sozialer Herkunft, durch den Kinder von Eltern unterer sozialer Schichten am Bildungsaufstieg gehindert werden
Die Schullandschaft wird längerfristig auf die Vielfalt der Begabungen, Interessen und Lebensperspektiven mit sehr viel differenzierteren Angeboten reagieren müssen, stärker als das gegeneinander abgeschottete dreigliedrige Schulsystem. Nicht der Schultyp, sondern das pädagogische Profil der Einzelschule, die mit ihrer lokalen Umwelt vernetzt ist, wird entscheidend sein. Zukünftige Lernkultur wandelt sich immer stärker vom institutionellen Belehren hin zu selbstgesteuerten Lernprozessen. Letztere werden leider kaum honoriert. Dem könnte man Abhilfe schaffen durch:
- Nachweisdienste für außerschulische Lernprozesse in Fabriken, Museen, Krankenhäusern, Vereinen oder Bürgerinitiativen,
- Börsen für Fertigkeiten, die Menschen, die über bestimmte Fertigkeiten verfügen und bereit sind, sie dort an Lernwillige weiterzugeben.
Wir müssen in Zukunft alltägliche Lernprozesse in Familie, Nachbarschaft oder Ehrenamt belohnen
Das Schulsystem der Bundesrepublik hat bisher auf die Einwanderungsgesellschaft keine Antwort gefunden. Was wird schon an türkischer Geschichte in der Schule gelehrt? Sprachen und Kulturen der nichtdeutschen SchülerInnen gehören selbstverständlich ins Curriculum. Die Schule ist ein richtiger und entscheidender Ort, mit dem Handeln in einer multikulturellen Gesellschaft zu beginnen
Öffentliche Verantwortung für das Bildungswesen bedeutet aber nicht Gängelung, sondern Rahmenbedingungen zu setzen, die für die Sicherung der Qualität der Bildungseinrichtungen, für die Regelung der Abschlüsse und Berufseintrittsbedingungen sowie für den offenen Zugang zu den Bildungsmöglichkeiten wichtig sind. Dabei gilt, dass die Regelungsdichte des Staates oder einer öffentlichen Instanz mit dem Niveau der erreichten Qualifikation und dem Alter der Lernenden abnimmt, um die Selbststeuerung der Lernenden zu fördern. Die euphorische Postulierung von Selbststeuerung und Eigenverantwortung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele durch den Rost fallen werden und Hilfe zur Selbsthilfe brauchen. Eine neue Schul- und Jugendpolitik braucht einen Sozial- und Bildungsstaat, der Übergänge und Statuspassagen erleichtert und jedem immer wieder neue Chancen eröffnet. Zukünftiger Bildungspolitik kommt bei der Aufgabe, Sicherheit in unsicheren Zeiten zu schaffen, eine zentrale Bedeutung zu. Die institutionellen und sozialen Rahmenbedingungen werden darüber entscheiden, ob sich der Einzelne lernend sowie verantwortlich der rasanten Gesellschaftsentwicklung stellen kann. Nur dann wird er mit Unsicherheiten und Risiken leben können und jene Freiheit und Chancen ergreifen, die sich ihm bieten.