I. Einleitung
Die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft bestehen wir nur mit und durch die Bürger - niemals für sie oder gegen sie. Das ist die Quintessenz des Nachdenkens über Bürgergesellschaft, oder besser: über regionale europäische Bürgergesellschaften. Das Lincoln'sche Ideal des "government of the people, by the people, for the people" hat eine neue Bedeutung für die Zukunft gewonnen.
Die Herausforderungen der Gegenwart sind unter den drei Überschriften Globalisierung/Transnationalisierung, Ende der industriellen Arbeitsgesellschaft/Neue Arbeitsgesellschaft und Wissensgesellschaft/vernetzte Gesellschaft bekannt. Aus der Perspektive des Individuums gedacht, fließen diese Themen in der "Multi-Optionsgesellschaft" zusammen
Die Bürgergesellschaft als Zielperspektive politischer Veränderung zu denken hat die gegenwärtigen Diskussionen über Zivilgesellschaft oder kommunitaristisches Wunschdenken nur zum Ausgang. Das Zukunftsmodell Bürgergesellschaft soll in drei Perspektiven vorgestellt werden: in seiner lebensweltlichen und seiner politischen Dimension sowie als Antwort auf die große Herausforderung der Zukunft, um eine dem Prinzip der Nachhaltigkeit verpflichtete Gesellschaft zu bauen. Damit erweist sich die umfassende Bürgergesellschaft nicht nur als politische Antwort auf den gegenwärtigen Wandel, sondern auch auf die Herausforderungen der Zukunft.
II. Herausforderungen unserer Zeit
Die unter den Überschriften Globalisierung, Neue Arbeitsgesellschaft und Wissensgesellschaft angesprochenen Veränderungen sind drei Aspekte einer umfassenden Demokratisierung, die Alexis de Tocqueville vor über 160 Jahren als die historische Tendenz zur Gleichheit analysierte
1. Globalisierung und Transnationalisierung
Eine Gesellschaft lässt sich in Zukunft nicht mehr allein national definieren. Im neuen Globalen Zeitalter
2. Neue Arbeitsgesellschaft
Das Wirtschaftswunderland Westdeutschland konnte durch sozialstaatlich organisierte Umverteilung in der Vergangenheit als politisch integriert gelten. Die den Rheinischen Kapitalismus prägenden Muster der Lebensorganisation und sozialen Absicherung gehören der Vergangenheit an. Sozialversicherung und Tarifverträge stehen auf dem Prüfstand, "Vollbeschäftigung" und "Betriebstreue" sind als Vokabeln auf dem Weg ins Museum, der einmal gewählte Beruf hat nicht mehr die alte soziale und persönliche Prägekraft. Diskontinuitäten der Arbeitsbiographie und schrumpfender Anteil der Arbeitszeit an der Lebenszeit sind Herausforderungen an die Organisation und Verteilung von Arbeit
Jenseits von Macht und Staat wird die Neue Arbeitsgesellschaft diskutiert, die auf dem Leitbild des aktiven Bürgers aufbaut, "der zum Unternehmer in eigener Sache wird"
3. Die Wissensgesellschaft
Helmut Willke hat den Begriff der "Wissensgesellschaft" geprägt
War kollektive Ordnungsherstellung bisher eine nationalstaatliche Domäne, so werden in Zukunft kollektive Ordnungsvorstellungen nicht mehr nur in repräsentativen nationalen Parlamenten verhandelt und per Ressourcenallokation administrativ exekutiert
Alle drei Entwicklungen machen deutlich, dass jenseits von Staat und Markt - den traditionellen Steuerungs- oder Selbstregulierungsinstrumenten - Bewegung und Bedarf entsteht. Neben Macht und Money (Kohls "Standort Deutschland") werden Menschen wieder zum Fokus der Politik:
- Das vielbeschworene Ende großer Institutionen korrespondiert mit ihrem Bedeutungsverlust. Es wird den Nationalstaat, die soziale Marktwirtschaft, die staatlichen Netze, den Patriotismus und die sozialen Milieus auch weiterhin geben, aber ihre Legitimations- und Integrationsmuster werden sich ändern. Wie werden sie in Zukunft aussehen?
- Das Ende der Alten Starre bedeutet den Beginn der Neuen Zivilgesellschaftlichen Beweglichkeit. Der Bürger wird als Einzelner und in seinen selbstbestimmten Assoziationen zum Maßstab von legitimer und integrativer Politik. Gemeinde, Stadt und Regionen werden wichtige Orte der Politik. Welche Chancen und Risiken eröffnet dieser Umschwung?
- Das bisherige Verständnis von Politik als repräsentative Entscheidung und bürokratische Exekution - Politik als staatliche Steuerung - muss abgelöst werden von einem neuen, entstaatlichten und gesellschaftsorientierten Politikbegriff: von der Alten Politik als dem Treffen von kollektiv verbindlichen Entscheidungen zur Neuen Politik als Prozess der Lösung gemeinsamer Aufgaben. Der steigende Abstimmungsbedarf komplexer werdender Gesellschaften bedarf neuer politischer Techniken
III. Die Zielperspektive einer "umfassenden Bürgergesellschaft"
1. Kritik an der gegenwärtigen Diskussion
Gegenwärtig wird "Bürgergesellschaft" oft synonym mit der dem Staat gegenüberstehenden "Zivilgesellschaft" verstanden, als Summe aller Assoziationen, Vereine und Verbände zwischen Familie und Staat
Die Idee der Bürgergesellschaft als sozial tätige Zivilgesellschaft ist beschränkt. Erstens reduziert sie Bürger-Sein auf die soziale Dimension des Bürgerengagements (oder noch paternalistischer: auf "Zivilcourage" und "Ehrenamt"!), weil die politische Dimension des Bürgerbegriffs vergessen wird: mehr Bürgerbeteiligung im politischen Willensbildungsprozess, Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch Elemente direkter Demokratie. Zweitens wird die Dynamik der Entwicklung der Bürgergesellschaft zu selten thematisiert. Der Begriff der Zivilgesellschaft (und der so missverstandene Bürgergesellschaftsbegriff) taugt zur wissenschaftlichen Analyse und für ein politisches Programm der Freundlichkeit. Aber die oben genannten Veränderungen spielen sich nicht nur im Horizont der sozial verstandenen Zivilgesellschaft ab, sondern beleben diese eben auch als politische Bürgergesellschaft.
2. Das Modell einer umfassenden Bürgergesellschaft
Das Modell einer umfassenden Bürgergesellschaft, oder genauer: das umfassende Modell von regionalen, transnationalen und europäischen Bürgergesellschaften hat die Kraft, das politische Paradigma des "Nationalstaates" analytisch wie normativ abzulösen. Nach dem Nationalstaat kommen die regionalen Bürgergesellschaften. Das heißt nicht, dass es Nationalstaaten nicht mehr geben wird. Aber die Veränderungen der Gegenwart und die zukünftige Herausforderung einer zur Nachhaltigkeit fähigen Gesellschaft lassen sich am besten mit dem Vokabular eines umfassenden Modells von Bürgergesellschaften beschreiben. Nachdenken über die Bürgergesellschaft heißt, ihren historischen Fundus seit Montesquieu und Tocqueville erneut zu studieren sowie Bürgergesellschaft als den Fokus der gegenwärtigen Veränderungen und zukünftigen Herausforderungen neu zu projektieren
Bürgergesellschaft wird dann vorgestellt als eine den Staat und die Wirtschaft miteinschließende, umfassende Polity
3. Der Erfolg der Bürgergesellschaft
Das Modell der Bürgergesellschaft beantwortet die Frage nach politischer Steuerung neu. Wer die europäische Vielfalt zwischen Bergen und Bari, Bordeaux und Bialistok durch zentral vereinheitlichte Politik nivellieren will, denkt an den Bedürfnissen der Bürger vorbei und steht vor einem Integrations- und Legitimationsdefizit. Ein bürgernahes Europa gelingt nur, wenn es von Strukturen der Selbstbestimmung der Bürger geprägt wird, sich also in regional und lokal ausgeprägte Bürgergesellschaften gliedert. Faktisch bilden sich starke Regionen für Europa längst heraus - Regionen wie Berlin-Brandenburg, die Regionen um Hannover oder Stuttgart, das Ruhrgebiet oder die länderübergreifende Bodenseeregion sind Beispiele.
Für den Erfolg (stadt)regionaler Bürgergesellschaften - zusammengefasst in der Vorstellung einer großen, vielfältigen, europäischen Bürgergesellschaft - spricht ihre Nähe zur Wirklichkeit. Die Überschaubarkeit der politischen Arena ermöglicht einfachere politische Mobilisierung, knüpft an lokale oder regionale Identitäten, Traditionen und Ressourcen an und behandelt als dringliche Aufgaben, was sie regional kennt. Die Politik in (Stadt-)Regionen ist nicht nur in höherem Maße gegenwarts- und problemorientiert als die Politik höherer Ebenen, sondern auch wesentlich reformfähiger als die Bundespolitik, wie deutsche Kommunen tagtäglich beweisen
IV. Bürgergesellschaft als Horizont der Lebenswelten
Unter den Bedingungen der reflexiven Moderne ist die Herrschaft über das eigene Leben die Lebensaufgabe des Einzelnen schlechthin. Das Recht der Menschen, ihr Leben in Selbstbestimmung zu ordnen und die Ligaturen ihrer Wahl einzugehen, steht im Zentrum des bürgergesellschaftlichen Modells.
1. Der Mensch als Bürger
Bürgergesellschaft als antitotalitäres Projekt zu konzipieren ist ein wichtiges Erbe der mittelosteuropäischen Revolution von 1989
Alain Touraine definiert als Aufgabe der liberalen Demokratie, sich "nach unten zu wenden" und "das Recht des Einzelnen institutionell zu garantieren, sich als Subjekt, mit einer eigenen Lebenserzählung zu begründen und anerkannt zu werden"
2. Verantwortung und Selbstsorge
Bürgergesellschaften verfassen und schützen zwar in erster Linie Lebenswelten, stellen aber auch eigene politische Anforderungen. Sie sind kein von traditionell verstandenen Bürgertätigkeiten oder vom Verantwortungsdiskurs freier Raum. Aber statt national begründete Forderungen an den Bürger zu erheben, wird davon ausgegangen, dass die Ausübung von Verantwortung ein menschliches Grundbedürfnis sei. Helmut Klages etwa erkennt als Motor des bürgerschaftlichen Engagements das "Grundbedürfnis" von Menschen, "Subjekt ihres eigenen Handelns zu sein"
Das Arrangement solcher Bedingungen ist ein politisches Projekt: "Eine Polis, in der sich jeder auf die richtige Art um sich selbst kümmern würde, wäre eine Polis, die gut funktionierte; sie fände darin das ethische Prinzip ihrer Beständigkeit," so Michel Focault
V. Die politische Gliederung der Bürgergesellschaft
Das der Selbstbestimmung der Bürger verpflichtete politische Gemeinwesen Bürgergesellschaft soll anhand mehrerer Charakteristika beschrieben werden:
1. Der Bürgerstatus
Von den "Schichten des Zuhauses" bildet nicht eine einzige das Identifikationsobjekt des Bürgers. Vielmehr ist Bürgeridentität eine politische Mehrfachidentität: lokal, regional, national, europäisch. Rechtlich fundiert ist sie als Staatsbürgerschaft, wobei diese transnational und vielschichtig ist, "insofern sie Identitätswerte, Rechte und Pflichten, die Bestandteile jeder Staatsbürgerschaft sind, im komplexen Ensemble als Gemeinschaftsinstitutionen, Staaten, nationale und transnationale Vereinigungen sowie Regionen verortet"
2. Die komplexe Mehrebenendemokratie
Bürgergesellschaft im Ausgang von Selbstbestimmung ist nur demokratisch denkbar. Demokratie erfordert, sich mit anderen als Gleichen über komplexe Interessen und Machtvergabe auf Zeit zu verständigen. Demokratie ist also "institutionalisierte Selbstreflexivität": Beschäftigung mit den eigenen Wirklichkeiten und Wünschen. Regionale Bürgergesellschaften in Europa verständigen sich dabei auf eine subsidiär und föderal strukturierte Mehrebenendemokratie, wie sie den erwähnten Mehrfachidentitäten des Bürgers entspricht. Dabei gilt nicht One size fits all, sondern es kommt zu einem Miteinander und zur Verschränkung von repräsentativer Demokratie, direkter Demokratie und Bürgerbeteiligungsverfahren. Der jeweils passende Mix kann für jede Ebene (regional oder funktional ausdifferenziert) gefunden werden. Je überschaubarer die Ebene oder das Thema, desto flexibler können von Puristen des repräsentativen Parteienstaats gemeinhin verabscheute politische Techniken der Responsivität eingesetzt werden: Volksinitiativen, direkte Abstimmungen über Sach- oder Personalfragen, Referenden, Planungszellen, offene Bürgerbeteiligung, Zukunftswerkstätten, Ratschlagsverfahren etc. Es gilt, den Wert deliberativer oder diskursiver Demokratie zu erlernen, die Angst vor den Bürgern zu verlieren und vielmehr ihre Perspektiven und Ressourcen zu nutzen. Damit würde der Überforderung der Berufspolitik wie der Unterforderung der Bürgerschaft (Kleger) entgegengewirkt. Bürger sind dabei nicht Allheilmittel der Politik, müssen aber jederzeit interventionsfähig sein.
3. Der Bürgerstaat
"Den Staat" gibt es in Zukunft nicht mehr, aber verschiedene staatliche Ebenen übernehmen verschiedene (territorial und funktional differenzierte) Aufgaben im Dienst der Bürger (Mehrebenendemokratie). Der Bürgerstaat ist als Werkzeug der Selbstorganisation der Bürger weder der Ort der sittlichen Sammlung noch das feindliche Gegenüber der Bürgergesellschaft. Er wird um seiner Funktion im gesellschaftlichen Dialog willen geschätzt: Staat ist, wo für alle Betroffenen offene Diskussionsprozesse mit verbindlichen Ergebnissen institutionalisiert sind (Deliberation und Dezision). Alle staatliche Politik muss dem Ziel dienen, die Bedingungen für Politik jenseits des Staates aufrechtzuerhalten. "Große", allgemeinverbindliche, staatliche Politik legitimiert sich als Grundlegung für die vielfältige "kleine" Lebens- und Verantwortungspolitik. Ein europäischer Verfassungsstaat könnte den grundrechtlichen Rahmen bilden. Untere Ebenen treten als neutraler Fokus bürgergesellschaftlicher Diskussion auf, wirken vernetzend und moderierend und gewährleisten die Erledigung getroffener Entscheidungen durch private, bürgerschaftliche oder staatliche Trägerschaft ("Gewährleistungsstaat"
4. Prinzipien der reflexiven Bürgergesellschaft
Die politischen Institutionen des Bürgergesellschaftsmodell werden durch eine gewandelte politische Kultur ergänzt. Die hier vorgeschlagenen Prinzipien der Bürgergesellschaft bilden erstens eine "Wertefamilie" um die Idee von Selbstbestimmung/self-reliance, zweitens fördern sie die Kopplung der Orientierung an eigenem Wunsch und an komplexer Wirklichkeit (Selbstreflexivität).
Die Prinzipien von Föderalismus und Subsidiarität gliedern das Verhältnis der Ebenen und Akteure untereinander. Über das Arrangement einer Länderstruktur hinaus ist der Föderalismus das politische Prinzip, in dem sich Vielfalt einen lässt. Mehr Subsidiarität bedeutet mehr Verantwortung und mehr Ressourcenallokation auf niedrigerer Ebene und eröffnet dort neue Chancen relevanter und bedeutungsvoller demokratischer Politik.
Partizipation wird erstens verstanden als Teilhabe am sozialen Gut der Zivilgesellschaft, betrifft also lebensweltliche Verantwortung, bürgerschaftliches Engagement und Freiwilligenarbeit. Partizipation bedeutet zweitens Teilnahme am politischen Entscheidungsprozess, die grundsätzlich immer - mindestens als Intervention - möglich sein muss. Sie schafft ein Verständnis für die Komplexität der Realität und dämpft überzogene Überwartungen.
Solidarität kommt aus vielen Quellen. Als Bindekraft der Gesellschaft entsteht sie dort, wo gemeinsame Herausforderungen oder Gefahren angegangen werden. Solidarität kommt aus der Erkenntnis, dass wir in einer vernetzten Gesellschaft im Guten und Schlechten voneinander abhängen (self-reliance). Um langfristig etwas zu verändern, müssen wir kooperativ und solidarisch arbeiten.
Ihre Vielfalt ist die Stärke der Bürgergesellschaft: Sie regt zu Wettbewerb und Kooperation an, respektiert Differenzen, ermöglicht Optionen. Vielfalt fördert, im (inklusiven) Plural statt im (exklusiven) Singular zu denken.
Ein demokratisches Regelsystem fördert gleichberechtigte Bürger zu einem ständigen Gespräch miteinander über den Einsatz gemeinsamer Ressourcen zur Lösung gemeinsamer Ziele. Dieses Gespräch führt zu einem ausgeprägten Selbst-Bewusstsein einer Gesellschaft, also zur einer politischen Kultur der "Selbstreflexivität". Bürgergesellschaft wird zum Gegenstand ihrer eigenen Bemühungen, kontrolliert und arbeitet an sich selbst: "(Sie) ist die einzige Gesellschaft, die besser sein kann als sie ist."
VI. Die Verantwortungsgesellschaft als Generationenperspektive
Den kulturellen, politischen und sozialen Umbrüchen wird nur eine veränderte Sprache und verändertes Denken gerecht. Umzudenken wird die Zeit einer ganzen Generation brauchen - jener jungen Generation, die seit 1989 in manchem Sinn "postmodern", zumindest "reflexiv modern" sozialisiert wurde. Das Modell der Bürgergesellschaft kann dabei als Bezugspunkt, Maßstab und Zielperspektive dienen, weil sie aus den Umbrüchen unserer Zeit heraus auf die Herausforderungen der Zukunft hin orientiert werden kann. Die dringlichste Aufgabe der jungen Generation ist, eine Gesellschaft zu bauen, die Gerechtigkeit und Freiheit nicht wie heute auf Kosten kommender Generationen verwirklicht, sondern mit Langfristigkeit vereinbart. Die umfassende Bürgergesellschaft ist in vielerlei Hinsicht jene nachhaltig lebende und wirtschaftende Verantwortungsgesellschaft, die die junge Generation zum Leitbild der Berliner Republik erheben sollte.
1. Erfordernisse nachhaltiger Politik
Um zu nachhaltiger Politik fähig zu sein, braucht ein politisches System drei Ressourcen: a) die Absicht, b) das kulturelle Vermögen und Wissen und c) die Instrumente zur Umsetzung nachhaltiger Politik.
a) Die Absicht: Wo Menschen und ihre Zukunftschancen der Maßstab allen Handelns sind, daher kamen schon in der Vergangenheit die entscheidenden Impulse für eine Politik der Zivilisationsverantwortung: aus der Gesellschaft der Bürger. Frauen-, Friedens- oder Ökologiebewegung bieten Beispiele.
b) Das kulturelle Vermögen und Wissen: Die selbstreflexive demokratische Kultur der Bürgergesellschaft ist der Nährboden von Verantwortungskapital und Zivilisationsverantwortung. Sie verfügt mindestens über folgende Trümpfe:
- Der fortwährende, problemnahe Dialog über Bedürfnisse und Handlungsoptionen, Wünsche und Wirklichkeit bedeutet eine hohe Bedürfnissensibilität (Etzioni: responsiveness
- Demokratie als Praxis gleichberechtigten, letztlich kooperativen Streits fördert den kreativen Wettbewerb zwischen vielen (dezentral ausprobierten, informationstechnisch vernetzten) Lösungsmodellen, also eine kontinuierlich von sich selbst lernende Gesellschaft.
- Gemeinsames Handeln und gemeinsame Probleme fördern die Einsicht, dass wir voneinander abhängen (Solidarität als self-reliance).
c) Die Instrumente zur Umsetzung: Politische Steuerung und vor allem auch breiter Bewusstseinswandel sind als dezentral-partizipative Selbststeuerung von Betroffenen/Beteiligten effektiver als zentrale Steuerung. Viele bedürfnissensible und problemscharfe kleine Lösungen sind besser als der Versuch, Bedürfnisse und Probleme mit einer großen unscharfen Lösung zu beantworten.
2. Verantwortungskapital und Zivilisationsverantwortung
So wie der Markt Wohlstand und der Staat Sicherheit und Ordnung hervorbringen sollen, bildet eine politische Kultur der Selbstreflexivität etwas aus, was man als Verantwortungskapital bezeichnen kann. Das Verantwortungskapital einer Gesellschaft ist ihre Fähigkeit zu verantworteter Politik. Es bedeutet das Vermögen, sowohl Verantwortungen zu formulieren als auch sie umzusetzen. Es entsteht also, wo Menschen das Vermögen haben, auf Herausforderungen zu antworten. Mehr Verantwortungskapital entsteht, wo mehr Menschen wissen, wie man sich kümmert und sorgt. Wie das soziale Kapital einer Gesellschaft bleibt es lokal gebunden, kann also nicht an der Börse von New York gehandelt werden. "Bürger sein" erfordert ein Maß an Verantwortungsfähigkeit, das das traditionelle Parteiensystem eines repräsentativen Systems wie in Deutschland strukturell nicht produzieren kann (wie nicht zuletzt die Kohl-Affäre bewies). Produktionsort von Verantwortungskapital ist also die selbst-verantwortliche Bürgergesellschaft: "Ihr Selbstverständnis ist . . . als ein Subjekt der Zivilisationsverantwortung für eine zunehmend mit sich selbst konfrontierte Weltrisikogesellschaft weiterzuentwickeln."
Impulse, Vermögen und Instrumente für Zivilisationsverantwortung sind Ressourcen der Bürgergesellschaft. Eine umfassend verstandene Bürgergesellschaft bedeutet ein Primat des Menschen vor Macht und Money und der Ideen vor der Ideologie sowie ein Primat der vielen kleinen, im Wettbewerb stehenden direkten Lösungen vor der einen großen, repräsentativen Endlösung. Der Bau starker Bürgergesellschaften sollte die erste Generationenaufgabe des 21. Jahrhunderts werden.