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Politische Kultur und Parteien in Deutschland Sind die Parteien reformierbar? | Parteien | bpb.de

Parteien Editorial Die deutschen Parteien: Entkernt, ermattet, ziellos Keine Lust mehr auf Parteien. Zur Abwendung Jugendlicher von den Parteien Sind die Grünen regierungsfähig? Politische Kultur und Parteien in Deutschland Sind die Parteien reformierbar? Parteien und Internet - Auf dem Weg zu internet-basierten Mitgliederparteien?

Politische Kultur und Parteien in Deutschland Sind die Parteien reformierbar?

Andreas Kießling

/ 24 Minuten zu lesen

In Deutschland waren die neunziger Jahre das Jahrzehnt der "Parteienverdrossenheit". Genauso steht dieser Zeitabschnitt aber für den Versuch einer Modernisierung der Parteistrukturen.

I. Einleitung

Die neunziger Jahre waren das Jahrzehnt der "Parteienverdrossenheit". Die Debatte um die Probleme der deutschen Parteiendemokratie brachte die Organisationsschwächen offen ans Tageslicht. Die letzten zehn Jahre waren ebenso ein Jahrzehnt der Parteireform. Im Jahr 2000 bewirkte maßgeblich die CDU-Spendenaffäre eine erneute Intensivierung der Diskussion nicht nur über die Finanzierung der Parteien, sondern auch über die weitere Reform ihrer Binnenorganisation . Hier normiert Art. 21 Abs. 1 Grundgesetz (GG), dass die innere Ordnung der Parteien demokratischen Grundsätzen entsprechen muss. Bisher entsprachen die Parteien diesem Demokratiegebot des Grundgesetzes durch das Delegiertenprinzip. Danach wählen die Mitglieder in den Ortsverbänden die Delegierten zur Kreisversammlung. Die Kreisdelegierten wählen die Delegierten zum Bezirks- oder Landesparteitag, wo wiederum die Delegierten zum Bundesparteitag gewählt werden. Mit einigen Ausnahmen war dies die Regel der inneren Struktur der deutschen Parteien . Es wurde nun angestrebt, diese Art der innerparteilichen Entscheidungsprozesse zu erneuern.

Dabei sind bei fast allen Parteien - nur Bündnis90/Die Grünen führen die Reformdiskussion mit umgekehrten Vorzeichen - zwei generelle Trends zu beobachten: Zum einen bemühen sie sich um die Integration direkt-demokratischer Elemente, zum anderen ist ein Bestreben zur Öffnung und Flexibilisierung der Parteistrukturen zu erkennen. Darüber hinaus wird das Internet als modernes Mittel der innerparteilichen Kommunikation genutzt. Damit versuchen die Parteien, auf Entwicklungen in der politischen Kultur zu reagieren und den Einstellungswandel in der Bevölkerung aufzunehmen. Intention ist es, durch eine Erhöhung der Attraktivität die Organisation der Parteien als Mitgliederparteien trotz des stetigen Mitgliederrückgangs zu erhalten, dem gewandelten Partizipationsverhalten der Bürger zu entsprechen und die parteiinterne Partizipation zu stärken. Der Beitrag beschäftigt sich mit diesen Aspekten zur Parteireform der letzten zehn Jahre.

II. Partizipation und Parteien

1. Mitgliederprobleme der Parteien

Die Mitgliederprobleme der Parteien lassen sich in drei wesentlichen Punkten zusammenfassen: Erstens haben fast alle Parteien mit einem stetigen Mitgliederrückgang zu kämpfen, zweitens ist eine deutliche Überalterung der Mitgliedschaften festzustellen , und drittens weist die innerparteiliche Partizipation in den klassischen Bahnen erhebliche Defizite auf.

Während bis Anfang der achtziger Jahre die Gesamtzahl der Parteimitglieder beständig anwuchs, ist seitdem eine rückläufige Tendenz eingetreten, die weiterhin anhält. Zwar bremste zunächst die Vereinigung des Parteiensystems der alten Bundesrepublik mit dem der ehemaligen DDR diese Entwicklung - zum einen, weil die PDS noch relativ viele Mitglieder aufweisen konnte, zum anderen aber vor allem, weil diejenigen Parteien profitierten, die sich mit ehemaligen Blockparteien zusammenschlossen (CDU und FDP). In den Folgejahren nahmen von diesem höheren Ausgangsniveau die Mitgliederzahlen weiter ab. Die SPD verlor im Jahrzehnt nach der Einheit 20,1 Prozent der Mitglieder, die CDU im selben Zeitraum 18 Prozent. Noch dramatischer ist das Minus bei der FDP. Seit der Vereinigung mit dem Bund Freier Demokraten (BFD, vormalige Blockpartei LDPD) im August 1990 mussten die Liberalen einen Rückgang um fast 64 Prozent hinnehmen, was insbesondere an der Marginalisierung der FDP im Osten liegt. Betrachtet man aufgrund der Sonderbedingungen in den neuen Ländern nur die Entwicklung im Westen, so ist der Verlust von 27,1 Prozent dennoch erheblich. In den ostdeutschen Landesverbänden (ohne Berlin) hatten die Liberalen Ende 1999 nur noch 12 409 Mitglieder gegenüber 106 966 im Dezember 1990. Dies weist schon darauf hin, dass die Mitgliederprobleme der Parteien in den neuen Ländern noch viel ausgeprägter sind als in den alten. Die CDU verlor hier seit der Einheit 54,5 Prozent der Mitglieder. Ähnliches gilt auch für die PDS, die jedoch immer noch die mitgliederstärkste Partei im Osten Deutschlands ist. Den westlichen Parteien, die keinen Partner mit einer ausgeprägten Organisationsstruktur in der damaligen DDR vorfanden, gelang es demgegenüber nicht, mitgliederstarke Verbände aufzubauen. So stagnieren die Sozialdemokraten seit Jahren im Osten bei unter 30 000 Mitglieder, was etwa der Mitgliederzahl des SPD-Bezirks Rheinland/Hessen-Nassau entspricht. Bündnis90/Die Grünen kommen nur schwer über die Marke von 3 000 Mitgliedern.

Ausnahmen von diesem generellen Rückgang der Parteimitgliedschaften sind nur Bündnis90/Die Grünen in den alten Bundesländern und die CSU in Bayern. Bündnis90/Die Grünen verloren zwar in den ersten beiden Jahren nach der deutschen Einheit ca. 5 000 Mitglieder, konnten sich aber von diesem Ausgangsniveau 1992 von 36 320 Mitgliedern auf 51 812 Mitglieder zum Jahresende 1998 steigern. Seit der Beteiligung an der Regierung ist allerdings auch bei den Grünen eine rückläufige Tendenz zu beobachten. Bei der CSU ist bis 1994 ein Mitgliederrückgang zu verzeichnen, der allerdings nicht so dramatisch war wie bei den anderen Parteien. Seitdem ist sogar eine leicht steigende Tendenz bei der CSU auszumachen. In den ersten vier Jahren nach der Vereinigung verlor die Partei etwa 10 000 Mitglieder, konnte seitdem aber wieder um 5 500 zulegen .

2. Verändertes Partizipationsverhalten

Die Gründe für den Mitgliederschwund der Parteien liegen neben den zum Teil spezifischen Rahmenbedingungen in den neuen Bundesländern zum einen an veränderten politischen Partizipationswünschen der Bevölkerung, zum anderen an einer tendenziellen Verschlechterung der Rahmenbedingungen für politische Beteiligung. In den fünfziger Jahren wurde den Deutschen noch eine passive Politikorientierung nachgewiesen, die sich durch ein nur geringes politisches Interesse und eine lediglich schwach ausgeprägte Identifikation mit dem politischen System auszeichnete. Über das Wählen-Gehen hinaus gab es kaum aktive politische Partizipation . In den siebziger und achtziger Jahren war von diesen Relikten obrigkeitsstaatlicher Einstellungen kaum mehr etwas zu spüren. Die passive Politikorientierung wurde abgelöst von einem aktiven Engagement, das sich in einer weiteren Steigerung der Wahlbeteiligung, in der rapiden Zunahme der Parteimitgliedschaften, im Anstieg des politischen Interesses sowie in einer höheren subjektiven Kompetenzzuweisung der Bürger zeigte. Neben der verstärkten Inanspruchnahme konventioneller politischer Beteiligungsformen wurde auch eine steigende Bedeutung unkonventionellen Verhaltens konstatiert. Die "partizipatorische Revolution" (Max Kaase) brachte den Durchbruch für Bürgerinitiativen, Unterschriftensammlungen und Demonstrationen.

Spätestens seit Mitte der achtziger Jahre ging diese gesteigerte Partizipationsbereitschaft jedoch zu Lasten der traditionellen Beteiligungsformen: Parteimitgliedschaften nahmen genauso ab wie die Wahlbeteiligungen und die Identifikation mit Parteien. Dagegen wuchs die Attraktivität unkonventioneller Partizipationsformen. Forderungen nach mehr direkt-demokratischen Elementen auf allen politischen Organisationsstufen haben Hochkonjunktur. Mit der Einheit hat diese Entwicklung einen nochmaligen Schub erhalten . Empirische Untersuchungen können nämlich nachweisen, dass die neuen Bundesbürger noch stärker als ihre westlichen Mitbürger zu direktem Beteiligungsverhalten neigen. Lediglich die Ursachen für diese Einstellungen unterscheiden sich zwischen Ost und West. Während sie dort auf die Erfahrungen der friedlichen Revolution 1989, welche das Ende der DDR besiegelte, zurückzuführen sind , liegen hier ihre Wurzeln im Wertewandel der "stillen Revolution" in den siebziger Jahren . Auch in der Gegenwart gilt dieser Zusammenhang zwischen den Veränderungen auf der Werteebene und der Bevorzugung direkt-demokratischer Instrumente.

Mit dem Wertewandel, der als eine Gewichtsverlagerung von Pflicht- und Akzeptanzwerten hin zu Selbstentfaltungswerten zu beschreiben ist, wurde zwar das politische Partizipationspotential vergrößert. Das politische Interesse und die so genannte kognitive politische Mobilisierung , die als wichtigste Prädiktoren für die Bereitschaft zur politischen Beteiligung gelten, stiegen in der Geschichte der Bundesrepublik an, wenn auch in den neunziger Jahren eine leicht sinkende Entwicklung auszumachen ist. Doch geht mit diesen Orientierungsmustern - im Osten wirken die Erfahrungen der Zwangsorganisationen des SED-Regimes in die gleiche Richtung - eine allgemeine Abkehr von Großorganisationen einher. Die eigenen Lebensinteressen werden zur einzigen Leitinstanz des Denkens und Fühlens. Die Individualisierung und Pluralisierung der Lebensstile widerspiegeln das zunehmende Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und Mitbestimmung. Die Orientierung an der Politik erscheint punktuell, situativ, kontextabhängig, erlebnis- und betroffenheitsorientiert. Die politische Partizipationsbereitschaft ist von der Suche nach direkt erfolgversprechenden Beteiligungsformen gekennzeichnet, die mit zeitlich begrenztem Engagement die Möglichkeit bieten, eigene Interessen individuell einzubringen . Direkt-demokratische Instrumente entsprechen dieser Orientierung, das Engagement in einer Partei nicht. Gerade die Ortsverbände, mit denen interessierte Bürger zunächst konfrontiert werden, wirken durch ihre Binnenorientierung, die "- zugespitzt formuliert - zuweilen sogar regelrecht autistische Züge" trägt, nicht sehr anziehend. Parteien als Institutionen zur Bearbeitung komplexer politischer Probleme sind daher eher eine spaßfreie Veranstaltung, die dem "Wunsch nach Spannung, Sinnlichkeit, Spaß, Lust, Reizwechsel, Spontaneität, Risiko und ,action'" widerspricht. Hinzu kommt eine gewachsene kritische Haltung der Bevölkerung zu den Parteien, die in den neunziger Jahren häufig mit dem Schlagwort der "Parteienverdrossenheit" belegt wurde.

Mit Blick auf die Überalterung der Mitgliedschaften in den Parteien ist darauf hinzuweisen, dass die hier dargestellte politisch-kulturelle Situation für die jüngere Generation in dramatisierter Form gilt. Das politische Interesse der Jugendlichen und jungen Erwachsenen gilt allgemein als geringer als das der älteren Jahrgänge. Noch stärker als die Gesamtbevölkerung neigen sie zu direkten politischen Aktionsformen, die Mitarbeit in einer Partei ist nur für eine Minderheit eine denkbare Partizipationsform. Die große Distanz der jungen Menschen zu den Parteien kommt darüber hinaus in den geringen Institutionen-Vertrauenswerten zum Ausdruck.

3. Innerparteiliche Partizipation und Partizipationsbereitschaft

Selbst bei den Bürgern mit Parteibuch sind große Differenzen in der Intensität der tatsächlichen Partizipation an den herkömmlichen Formen der innerparteilichen Entscheidungsprozesse auszumachen. Grob werden drei Arten von Parteimitgliedern unterschieden : Die Aktiven sind dabei diejenigen, die auf Ortsvereins- und Kreisverbandsebene mit ihrem ehrenamtlichen Engagement die lokale Organisation der Parteien fortbestehen lassen. Wenn auch methodische Probleme die Quantifizierung aktiver Mitglieder erschweren, lässt sich sagen, dass dieser Anteil nicht besonders hoch ist (10 bis 25 Prozent). Der zweite Typ sind die Gelegenheitsaktivisten, die rund ein Viertel der Mitglieder ausmachen und nur partiell für die aktive Mitarbeit zu gewinnen sind. Die größte Gruppe sind die Inaktiven.

Es zeigt sich aber, dass bei den Parteimitgliedern auf der Einstellungsebene ein starkes Bedürfnis nach konkreter politischer Mitentscheidung vorhanden ist. Einer Mitgliederbefragung in der CDU aus den Jahren 1992 und 1993 zufolge ist "ein neuer Typ von Parteimitgliedern . . . auf dem Vormarsch, dem es weniger um die soziale Einbindung als zunehmend darum geht, die gemeinsamen Überzeugungen politisch mitzugestalten, der die Mitgliederrechte stärken und sich politisch aktiv beteiligen möchte" . Entsprechend den Erkenntnissen über den Wertewandel kommt die Studie ebenfalls zu dem Ergebnis, dass das Ziel, die Politik mitzubestimmen, für die jüngeren Mitglieder besonders wichtig ist. Jedoch gaben etwa drei Viertel der Mitglieder von CDU und SPD in den achtziger Jahren an, nur sehr geringen bis geringen Einfluss zu haben .

In dieselbe Richtung weist die aktuelle SPD-Mitgliederbefragung vom Sommer 2000 . Danach wollen 46 Prozent der Mitglieder aktiv in der Partei mitarbeiten. Insbesondere bestätigt diese Studie, dass auch die Parteimitglieder die Öffnung sowie die Integration direkt-demokratischer Instrumente in die Parteistrukturen positiv beurteilen. So finden 78 Prozent der SPD-Mitglieder die Öffnung der Partei für Seiteneinsteiger gut, wollen 81 Prozent über die Auswahl des politischen Personals mitbestimmen, und Urwahlen zur Nominierung von Kandidaten würden 74 Prozent begrüßen. Dasselbe gilt im Übrigen für die Gesamtbevölkerung, die nach - etwas älteren - Allensbach-Daten ebenfalls die Basisdemokratie in den Parteien positiv einschätzt . Allerdings illustriert die Polis-Studie zu den SPD-Mitgliedern auch, dass die Parteiarbeit stark reformbedürftig ist: Der Anteil derjeniger, die angeben, regelmäßig oder gelegentlich aktiv zu sein, nimmt mit der Dauer der Mitgliedschaft deutlich ab.

III. Reformmaßnahmen und -pläne der Parteien

Die Notwendigkeit einer möglichst großen Zahl von Parteimitgliedern und der Stellenwert der innerparteilichen Beteiligung ist in der Forschung heftig umstritten . Vor dem Hintergrund der zurückgehenden Mitgliederzahlen wird versucht, mit verschiedenen Begriffen neue Parteiorganisationstypen zu charakterisieren. Die klassische Mitgliederpartei, die ihr Selbstverständnis wesentlich über eine möglichst breite Mitgliederbasis und Mitgliederpartizipation definiert, wird danach abgelöst von der Fraktions-, Medien- und Rahmenpartei oder der professionalisierten Partei. Aufgrund der Erfahrungen in den neuen Bundesländern wurde die These formuliert, dass die Organisationsschwäche der Parteien dort zur Herausbildung eines Prototyps geführt hat, der auch Modell für die westdeutschen Parteien sein kann . Die geringen Mitgliederzahlen werden bei den ostdeutschen Parteien durch eine Öffnung der Parteistrukturen, durch eine Professionalisierung der Parteiarbeit und durch die Personalisierung der Politikvermittlung auch auf lokaler Ebene kompensiert.

Der Abschied vom traditionellen Konzept der Mitgliederpartei mag zwar unter Effizienzgesichtspunkten durchaus Vorteile haben, doch scheint er derzeit noch immer den politisch-kulturellen Einstellungen in Deutschland zu widersprechen. Es ist weiterhin ein tief verwurzeltes Element in den Orientierungsmustern der Bundesbürger, dass eine Partei ohne genügend Mitglieder kaum demokratische Legitimität für die Ausübung ihres politischen Gestaltungsauftrages beanspruchen könnte. Eine Abkehr von der Mitgliederpartei würde daher eine Differenz zwischen politischer Kultur und politischer Struktur bedeuten, die für die Akzeptanz des Systems von Nachteil wäre. Deshalb streben alle Parteien danach, weiterhin Mitgliederpartei zu bleiben. Sie versuchen durch die Reform ihrer inneren Ordnungen, auf Veränderungen und Strömungen in der politischen Kultur zu reagieren, um wieder attraktiver für eine Mitarbeit der Bürger zu werden.

1. Integration direkt-demokratischer Elemente

Bei der Einführung direkt-demokratischer Instrumente in die innerparteiliche Willensbildung sind die Parteien durch institutionelle Rahmenbedingungen eingeschränkt. So ist nach dem Parteien- und dem Bundeswahlgesetz die Wahl des Vorstandes bzw. der Bundestagskandidaten außerhalb von Vertreter- bzw. Mitgliederversammlungen unzulässig. Eine beschlussfassende Entscheidung der Mitglieder außerhalb dieser Versammlungen ist in diesen Fällen nicht erlaubt . Innerhalb dieses Korridors haben die Parteien die Möglichkeiten zur Integration unmittelbarer Entscheidungsprozeduren unterschiedlich weit ausgenutzt. Die aktuellen, vor allem in den großen Parteien SPD und CDU diskutierten Reformvorschläge würden demgegenüber zunächst entsprechende Gesetzesänderungen voraussetzen.

Eine Vorreiterfunktion bei den Ansätzen, das eingangs geschilderte Delegiertensystem durch Elemente direkter Demokratie aufzulockern, haben die Grünen eingenommen. Bereits bei ihrer Gründung als Bundespartei im Jahr 1980 führten sie einen Sachentscheid ein. Bis heute ermöglicht § 21 der Bundessatzung, dass "über alle Fragen der Politik von Bündnis90/Die Grünen, insbesondere auch der Programme, des Grundkonsenses und der Satzung, . . . urabgestimmt werden" kann. Damit ist ein beschlussfassender Mitgliederentscheid in Sachfragen normiert, der sowohl "von unten" als auch "von oben" fakultativ initiiert werden kann. Das Delegiertenprinzip ist bei den Grünen ferner durch die direkte Wahl der Vertreter in der Bundesversammlung durch die Kreisverbände durchbrochen (§ 11 der Satzung). Die Verankerung der Basisdemokratie war notwendige Voraussetzung für die Zustimmung der Bürgerinitiativen, aus denen die Grünen hervorgegangen waren, zum Parteiprojekt. Damit reagierten die Grünen direkt auf die politisch-kulturellen Orientierungen ihrer Anhänger, die noch stärker als der Bevölkerungsdurchschnitt direkt-demokratische Instrumente bevorzugen. Die basisdemokratischen Züge entsprachen aber auch der grünen Selbstdefinition als "Parteiorganisation neuen Typs" .

Die SPD, bei der eine wachsende Spannung zwischen den direkt-demokratischen Tendenzen in ihrem politisch-kulturellen Umfeld und dem Fortbestand des Delegiertensystems festgestellt werden konnte , hat in den neunziger Jahren verschiedene Instrumente der unmittelbaren Beteiligung ihrer Mitglieder auf allen Organisationsebenen eingeführt. Bereits 1991 hatte sie eine Kommission "SPD 2000" eingesetzt, die sich mit der Frage der Parteireform beschäftigen sollte. Durch den Rücktritt des damaligen SPD-Bundesvorsitzenden Björn Engholm im Mai 1993 gerieten die Sozialdemokraten in eine Notsituation, in der man keinen anderen Ausweg als die Durchführung einer Mitgliederbefragung zur Person des neuen Vorsitzenden sah. Die Beteiligung an der Befragung im Juni 1993 war angesichts der bei traditionellen Formen der innerparteilichen Willensbildung eher bescheidenen Partizipation erstaunlich hoch. Es gelang der SPD, 56,7 Prozent der Mitglieder zur Wahl von Rudolf Scharping zu mobilisieren . Unter dem Eindruck dieses Erfolges fügte die SPD auf ihrem Parteitag 1993 zwei wichtige Ergänzungen in ihre Statuten ein: einen dezisiven Mitgliederentscheid über Sachfragen, der fakultativ "von oben" oder "von unten" durch ein Mitgliederbegehren initiiert werden kann, sowie die Urwahl des Kanzlerkandidaten. Hierbei handelt es sich um eine dezisive Wahl, wobei die SPD die einzige Partei ist, die das "Amt" des Kanzlerkandidaten in der Satzung normiert hat. Außerdem wurden die regionalen und lokalen Gliederungen der SPD ermächtigt, ebenfalls Mitgliederentscheide und Urwahlen von Spitzenkandidaten einzuführen. Während es auf der Bundesebene bei der einmaligen Mitgliederbefragung 1993 blieb, wurden diese Instrumente auf lokaler und Länderebene öfters eingesetzt. Zuletzt wählten die Sozialdemokraten in Baden-Württemberg im Juli 2000 ihre Spitzenkandidatin für die Landtagswahl 2001, Ute Vogt, in einer direkten Wahl.

Eine zweite Phase der Parteireformdiskussion begann in der SPD mit den Vorschlägen von Generalsekretär Franz Müntefering am 2. April 2000. In einem "Werkstattgespräch" im Willy-Brandt-Haus stellte er seine Pläne für einen radikalen Umbau der Partei vor . Im Zentrum der Überlegungen stand dabei, die SPD zwar einerseits als Mitgliederpartei zu erhalten, andererseits aber den Erfordernissen der Mediengesellschaft anzupassen und für Menschen ohne parteipolitische Bindungen zu öffnen. In Bezug auf die Integration direkt-demokratischer Instrumente schlug Müntefering vor, nach Änderung des Wahlgesetzes zur Bundestagswahl 2006 offene Vorwahlen nach US-amerikanischem Vorbild einzuführen. Dies bedeutet, dass bei der Aufstellung von Kandidaten nicht nur die Mitglieder direkt abstimmen, sondern auch Nichtmitgliedern ein Wahlrecht zugestanden würde. Eine solche Maßnahme hätte weitreichende Konsequenzen für die Organisationsstruktur der Parteien und würde nicht nur die Rechte der Funktionäre, sondern auch die der Mitglieder schwächen. Entsprechende Schwierigkeiten hatte Müntefering daher, sich mit diesem Vorschlag durchzusetzen. Der Bundesvorstand der Sozialdemokraten vertagte eine Entscheidung darüber im Mai 2000 und setzte eine Arbeitsgruppe ein, die sich mit diesen Fragen beschäftigen soll .

Auch die CDU reagierte in den neunziger Jahren auf die starken direkt-demokratischen Wünsche ihrer Mitglieder und in der Öffentlichkeit. Allerdings ist bisher eine im Vergleich zur SPD zurückhaltendere Einstellung zu beobachten. Auf ihrem Karlsruher Parteitag 1995 führte die CDU eine konsultative Mitgliederbefragung in Personalangelegenheiten ein, die allerdings lediglich auf Beschluss des Bundesvorstandes durchgeführt werden kann (§ 6a Statut der CDU). Auf Länderebene ergibt sich bei der CDU ein differenzierteres Bild. Reformanstöße kamen vor allem aus den Landesverbänden . Im Zusammenhang mit der Spendenaffäre der CDU entflammte im Jahr 2000 wiederum eine Diskussion über die Reform der Parteiarbeit, die sich nicht nur auf die Finanzen beschränkte. Der 13. Parteitag der CDU verabschiedete im April 2000 Leitideen für ein modernes Parteimanagement. Der Generalsekretär wurde aufgefordert, bis zum Parteitag im Jahr 2001 einen Beschlussvorschlag zur Reform der Parteiarbeit zu erarbeiten. Der im Herbst 2000 neu eingesetzte Generalsekretär Laurenz Meyer hat sogleich den Vorsitz in der zuständigen Kommission übernommen, die bereits eine Reformliste veröffentlicht hat, die jedoch noch weiter zu konkretisieren ist. Kernstück ist dabei die Ausweitung der direkten Mitgliederbeteiligung. Urwahlen sollen sowohl in Sach- als auch in Personalfragen stattfinden. Das bisherige alleinige Initiativrecht des Bundesvorstandes soll danach ebenfalls aufgegeben werden. Auf Verlangen eines Drittels der Landesverbände soll ein Sachentscheid durchgeführt werden können. Den Kreisverbänden soll jedoch nicht ein System aufoktroyiert werden. Sie sollen per Mitgliederentscheid festlegen können, ob sie ihre Spitzenkandidaten unmittelbar wählen oder am Delegiertensystem festhalten wollen. Eine direkte Wahl des Kanzlerkandidaten der Union ist noch nicht vorgesehen.

Im Jahr 2000 hat auch die CSU intensiv über die Erweiterung der Mitgliederrechte diskutiert. In den neunziger Jahren war sie noch die einzige Partei, die sich dem Trend zur Integration direkt-demokratischer Instrumente entzogen hat. Im Oktober schlug Parteichef Edmund Stoiber jedoch die Urwahl der Kandidaten für den Bundestag und den Bayerischen Landtag durch die Mitglieder vor und stieß damit auf heftigen Widerstand der Bundestagsabgeordneten der CSU-Landesgruppe in Berlin. Deshalb hält die bayerische Union weiter am Delegiertenprinzip fest, führt jedoch - wie auf dem Parteitag im November 2000 beschlossen - die Diskussion weiter. Insbesondere sollen in Kreisverbänden, wo es praktikabel erscheint, vermehrt Mitgliederversammlungen stattfinden. Sowohl Meyer als auch CSU-Generalsekretär Thomas Goppel lehnen aber offene Vorwahlen ab.

Wie die beiden Großparteien hat auch die FDP in den neunziger Jahren auf die direkt-demokratischen Tendenzen in der politischen Kultur reagiert. Aufgrund eines Beschlusses des Bundesvorstandes wurde am 14. Dezember 1995 ein in der Satzung damals noch nicht vorgesehener Mitgliederentscheid zum Thema "großer Lauschangriff" durchgeführt. Die Beteiligungsrate lag auch hier mit 43,1 Prozent deutlich über dem Durchschnitt der sonst aktiven Parteimitglieder. Auf dem Bundesparteitag der Liberalen im Mai 1997 folgten die Delegierten dem Antrag des Vorstandes, einen Mitgliederentscheid in die Satzung aufzunehmen. § 21 der FDP-Bundessatzung konstituiert einen dezisiven Entscheid über Sachfragen, der sowohl "von unten" als auch "von oben" initiiert werden kann. Ein zweites Mal kam dieses Instrument 1997 bei der Entscheidung über die Wehrpflicht zum Einsatz.

2. Öffnung und Flexibilisierung der Partei- organisation

Einen zweiten Ansatzpunkt für die Parteireform stellt die Öffnung der Organisationen gegenüber Nichtmitgliedern dar, die einhergeht mit einer Flexibilisierung der Strukturen. Damit soll der generellen Abkehr von Großorganisationen entgegengewirkt und der verminderten Bereitschaft, sich langfristig zu engagieren, entsprochen werden. Die Betroffenheitsorientierung des Partizipationsverhaltens verlangt nach neuen Formen der politischen Mitwirkung. Das Internet spielt dafür, aber auch für die Stärkung der Mitgliedschaft im Sinne privilegierter Informationsmöglichkeiten durch ein MitgliederNet, eine zunehmend wichtige Rolle.

Historisch betrachtet nahmen auch bei dieser Frage die Grünen mit der Verwirklichung weiterer Prinzipien der Basisdemokratie eine Vorreiterrolle ein. Dem Wunsch nach kleinen, überschaubaren Gruppen im politisch-kulturellen Umfeld der Grünen entsprach die Partei schon von Beginn an mit einem möglichst dezentralen Aufbau der Parteistruktur. Dieser sollte durch einen möglichst hohen Autonomiegrad und möglichst umfangreiche Entscheidungskompetenzen der unteren Organisationseinheiten gewährleistet werden . Die Grünen eröffnen auch weite Bereiche der freien Mitarbeit von Nichtmitgliedern. Sie haben nach § 7 der Satzung das Recht auf umfassende Information sowie auf die Beteiligung an der politischen Arbeit und Diskussion. Zwar ist es den freien Mitarbeitern versagt, Parteifunktionen zu übernehmen, doch steht es ihnen offen, Mandate auf Wahllisten zu besetzen. Außerdem können sie, ohne Stimmberechtigung, in die Entscheidungsgremien von Bündnis90/Die Grünen delegiert werden. Seit der Vereinigung führen die Grünen die Parteireformdiskussion jedoch im Vergleich zu den anderen Parteien mit umgekehrten Vorzeichen. Der Prozess vollzieht sich dabei parallel zum radikalen Wandel, den die Grünen von einer Anti-Parteien-Partei zur Regierungspartei zu verkraften hatten. In den neunziger Jahren wurde mit der Einführung des Länderrats die mittlere Funktionärsebene gestärkt und die Trennung von Amt und Mandat durchbrochen. 1998 wurde der Parteirat aus der Taufe gehoben, der in seiner Funktion den Bundesvorständen der anderen Parteien gleicht; der verkleinerte Bundesvorstand der Grünen entspricht nun einem Parteipräsidium .

Alle anderen Parteien gehen den Weg der weiteren Öffnung ihrer Strukturen. Selbst die CSU, die in den neunziger Jahren die Ausnahme auch von dieser Entwicklung war, hat nun die Möglichkeit einer Gastmitgliedschaft geschaffen, die allerdings noch nicht in der Satzung verankert ist. Die Sozialdemokraten setzten eine erste zaghafte Öffnung bei ihrem Parteitag von 1993 um. Insgesamt hielt man jedoch strikt am Konzept der Mitgliederpartei fest. Neben Änderungen bei der Mitgliedschaft der Juso AG wurden lediglich die Vorstände der Partei ermächtigt, themenspezifische Projektgruppen einzurichten, in denen auch Nichtmitglieder mitarbeiten können. Diesen Gruppen steht nach § 10a des sozialdemokratischen Organisationsstatuts das Antrags- und Rederecht für den Parteitag auf der jeweiligen Ebene zu. Schließlich sollten auf kommunaler Ebene zwei der zehn aussichtsreichsten Plätze Seiteneinsteigern vorbehalten bleiben. Die Reformvorschläge von Franz Müntefering vom April 2000 gehen hier nun einen Schritt weiter, ohne allerdings - wie sein Plan zu offenen Vorwahlen - grundsätzlich die Organisation als Mitgliederpartei in Frage zu stellen. Unter dem Schlagwort "zehn von außen" sollen in der nächsten Bundestagsfraktion zehn Personen sitzen, die bisher nicht aktive Parteimitglieder waren. Außerdem soll die Rekrutierungskompetenz der Partei verbessert werden. Danach sollen auch nach der Bundestagswahl 2002 wieder 30 Abgeordnete unter 40 Jahren in der Bundestagsfraktion sein.

Auch innerhalb der CDU wird die Notwendigkeit des Aufbaus offener Strukturen anerkannt. Gerade in der jetzigen Oppositionsrolle bietet sich hier die Chance zur Erneuerung in der Nach-Kohl-Ära . Wie bei der Einführung direkt-demokratischer Elemente haben auch bei der Frage der Öffnung der CDU die Landesverbände den Anstoß gegeben. So können Nichtmitglieder im Landesverband Nordrhein-Westfalen in Arbeitskreisen, Projektgruppen oder Kommissionen mitarbeiten und sind in diesen Gremien voll stimmberechtigt. In Baden-Württemberg wurden Gastmitgliedschaften ohne Stimmrecht ermöglicht. Die aktuelle Parteireformkommission der CDU denkt ebenfalls über eine Öffnung der Strukturen nach. So betont Generalsekretär Meyer die Notwendigkeit, neue Formen der Beteiligung von Sympathisanten zu finden, die sich zwar nicht dauerhaft an die Partei binden wollen, aber dennoch projektspezifisch mitarbeiten wollen.

Die FDP ist sehr flexible Wege zur Öffnung ihrer Strukturen in den neunziger Jahren gegangen und reagierte in ihrem Parteitagsbeschluss von 1996 explizit auf Veränderungen im Partizipationsverhalten der Bürger. Den Landesverbänden und ihren Untergliederungen ist es freigestellt, welche Formen der Mitwirkung von Nichtmitgliedern sie wählen. Mit Unterstützung durch die Bundespartei können dort "Liberale Initiativen" - zwanglose, informelle und weitgehend von den lokalen Parteistrukturen unabhängige Vereinigungen - angestoßen werden, denen das Rede- und Antragsrecht in den Orts- und Kreisverbänden zugestanden werden kann . Auch sollen liberale Netzwerke aufgebaut werden, in denen der Erfahrungsschatz von Bürgern mit liberalen Grundüberzeugungen, die im vorpolitischen Raum ehrenamtlich engagiert sind, für die Partei nutzbar gemacht werden soll . Der Bundesparteitag der FDP im Jahr 2000 in Nürnberg beschäftigte sich ebenfalls vor dem Hintergrund der verschiedenen Affären im Frühjahr mit einer Reform des Parteienstaates. Zur Frage der innerparteilichen Demokratie wurde beschlossen, Quereinsteigern bessere Chancen durch die Einführung einer zeitlich begrenzten Kampagnenmitgliedschaft einzuräumen. Um mehr Mitglieder in politische Verantwortung zu bringen, soll außerdem die Zahl der Vorstandsämter pro Mitglied auf drei begrenzt werden. Einen besonders interessanten Ansatzpunkt bietet die Einrichtung einer "virtuellen Mitgliedschaft" in einem "Internet-Landesverband" (net.lv). Die Liberalen wollen damit das bis heute geltende Wohnortprinzip bei der Mitgliedschaft aufweichen, da dieses Konzept immer stärker zum Hinderungsgrund für parteipolitisches Engagement in einer von hoher räumlicher Mobilität geprägten Informationsgesellschaft wird. Bereits auf dem nächsten Parteitag im Mai 2001 soll der net.lv eine satzungsmäßige Verankerung erhalten. Dass eine solche Einrichtung attraktiv ist und durchaus auch als Vorbild für andere Parteien dienen kann, zeigt sich darin, dass der Internet-Landesverband kaum ein drei viertel Jahr nach seiner Gründung immerhin 350 Mitglieder zählt.

IV. Probleme der Reformierbarkeit der Parteien

Einer umfassenden Implementation der Reformen stehen jedoch strukturelle Probleme entgegen. Zunächst ist grundsätzlich der Nutzen der Integration direkt-demokratischer Elemente für die Effektivität der Parteien sowie hinsichtlich ihrer Auswirkungen für das repräsentative Demokratiemodell umstritten. Die partizipationsorientierte Seite legt darauf mit großem Optimismus alle Hoffnung auf eine Erneuerung der Mitgliederpartei im Sinne einer Mitwirkungspartei. Die Modernisierung der britischen Parteien wird dabei als Vorbild angesehen, und es werden detaillierte mehrstufige - damit allerdings auch sehr komplizierte - Modelle vorgeschlagen, wie eine direkte Mitgliederbeteiligung ausgestaltet werden könnte .

Vor dem Hintergrund der skizzierten Einstellungsveränderungen zielen die Reformansätze der Parteien aber durchaus in die richtige Richtung. Trotzdem hat sich die Organisationswirklichkeit kaum verändert. Direkt-demokratische Elemente sind zwar etabliert, werden jedoch fast immer nur dann angewendet, wenn sich die betreffende Partei in einer schwierigen Situation befindet, in der sich die Führungseliten der Entscheidung entziehen möchten. Auch die Öffnung gegenüber Nichtmitgliedern wird vorangetrieben, doch liegen keinerlei Zahlen und Statistiken über die Anzahl von Gastmitgliedern vor. Der liberale Internet-Landesverband scheint dagegen ein erfolgversprechender, zukunftsweisender Ansatz zu sein.

Praktische Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Reformmaßnahmen liegen zum einen in innerparteilichen Machtverhältnissen, zum anderen in den Erfordernissen der Außendarstellung begründet. Bisher sind alle Reformansätze von den Parteiführungen ausgegangen. Hauptverlierer der Integration direkt-demokratischer Elemente und der Öffnung der Parteistrukturen ist die mittlere und untere Funktionärselite. Eine Modernisierung der Organisationswirklichkeit der Parteien gegen diese Gruppen ist jedoch kaum möglich. Denn sie sind es, welche die Parteien in ihren Untergliederungen ausmachen. Die Reformen können also nicht einfach oktroyiert werden, sondern verlangen nach einer Diskussion in der gesamten Partei. Deshalb erscheint der Ansatz der Parteireformkommission der CDU, die genau diesen Weg gehen will, als erfolgversprechend. Die Einführung von offenen Vorwahlen greift sogar die Position der Mitglieder an. Dementsprechend zurückhaltend wurden die Vorschläge von Müntefering in der SPD aufgenommen. Die Mehrheit der Mitglieder (58 Prozent) und erst recht der Funktionäre (69 Prozent) sowie der Mandatsträger (67 Prozent) ist gegen eine Öffnung des Nominierungsprozesses für Nichtmitglieder. Außerdem stoßen offene Vorwahlen auch auf systemische Bedenken. Mit Blick auf die Außendarstellung geraten die Parteien zumindest auf der politischen Spitzenebene in ein Mediatisierungs-Partizipations-Dilemma. Die Geschlossenheit ist seit Jahrzehnten einer der wichtigsten Kriterien für die Bewertung einer Partei. Öffentliche innerparteiliche Diskussionen schmälern die Wahlchancen . Diese wären aber mit Personal- und Sachentscheidungen notwendigerweise verbunden. Das Bild der Zerrissenheit würde durch die Medienberichterstattung zusätzlich dramatisiert.

Die Bedingungen der Mediendemokratie wirken aber auch in einer anderen Hinsicht auf die parteiinterne Willensbildung ein. Die Nominierung von Gerhard Schröder als Kanzlerkandidat illustriert das: Obwohl nach der Satzung auch eine Urwahl möglich gewesen wäre, war die Entscheidung für Schröder durch seinen Landtagswahlerfolg und sein Image als Medienstar schon vor der eigentlichen Nominierung gefallen. Ähnliches ist bei der Wahl von Angela Merkel als CDU-Vorsitzende zu beobachten gewesen. Durch eine enorme mediale Dynamik, ausgelöst von einer positiven Beurteilung ihres Krisenmanagements in der Spendenaffäre, lief es fast zwangsläufig auf die ehemalige Generalsekretärin zu, obwohl ihre Verankerung in der Partei noch keineswegs ausgeprägt war.

In der Zusammenschau von politisch-kultureller Entwicklung und den skizzierten strukturellen Problemen muss die Fragestellung, ob die Parteien in Richtung mehr Mitgliederpartizipation reformierbar sind, differenziert beantwortet werden. Einer vollständigen Amerikanisierung durch offene Vorwahlen stehen wesentliche innerparteiliche Interessen entgegen. Nur bei einem kompletten Machtverlust der Funktionäre und der Mitglieder ist deshalb eine so weitgehende Reform denkbar. Die tatsächliche umfassende Anwendung von direkten Mitgliederentscheiden in Sach- und Personalfragen auf der medienbeobachteten Spitzenebene in Bund und Ländern wird durch das Geschlossenheitserfordernis für den Wahlerfolg konterkariert. Hinzu kommt, dass vielmehr verstärkt Gesetzmäßigkeiten der Mediendemokratie gelten, die auch den innerparteilichen Willensbildungsprozess beeinflussen. Das bedeutet, dass sich hier die Organisationswirklichkeit auch nicht grundlegend in Richtung mehr Mitgliederpartizipation verändern wird.

Bei der Frage der Öffnung der Parteistrukturen wird der Dialog mit gesellschaftlich relevanten Gruppen und mit Selbstorganisationen der Bürgergesellschaft auf lokaler Ebene zum notwendigen Erfordernis für den Wahlerfolg. Auch die Integration von Seiteneinsteigern wird bis zu einem gewissen Grad ausgedehnt werden können. Besonders jedoch der Internet-Landesverband der FDP scheint ein Konzept zu sein, das sowohl mit politischkulturellen Entwicklungen als auch mit parteistrukturellen Bedingungen kompatibel ist. Dies könnte zum zukunftsadäquaten Modell auch für die anderen Parteien werden und eine echte Modernisierung der Organisationsformen bewirken.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Elmar Wiesendahl, Noch Zukunft für die Mitgliederparteien? Erstarrung und Revitalisierung innerparteilicher Partizipation, in: Ansgar Klein/Rainer Schmalz-Bruns (Hrsg.), Politische Beteiligung und Bürgerengagement in Deutschland. Möglichkeiten und Grenzen, Bonn 1997, S. 349-381. Vgl. auch Andreas Kießling, Politische Kultur und Parteien im vereinten Deutschland. Determinanten der Entwicklung des Parteiensystems, Schriftenreihe der Forschungsgruppe Deutschland, Bd. 11, München 1999.

  2. Vgl. Karlheinz Niclauß, Vier Wege zur unmittelbaren Bürgerbeteiligung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 14/97, S. 7 f. Vgl. zur Organisationsstruktur der Parteien Jürgen Gros/Manuela Glaab, Faktenlexikon Deutschland. Geschichte - Gesellschaft - Politik - Wirtschaft - Kultur, München 1999, S. 302-304.

  3. Vgl. für die SPD Peter Lösche, Verkalkt - verbürgerlicht - professionalisiert. Der bittere Abschied der SPD von der Mitglieder- und Funktionärspartei, in: Universitas, H. 650 (2000), S. 779-793.

  4. Angaben der Parteien an den Verfasser. Vgl. zur politisch-kulturellen Bedeutung des Regierungswechsels von 1998 Werner Weidenfeld, Zeitenwechsel. Von Kohl zu Schröder. Die Lage, Stuttgart 1999.

  5. Vgl. Gabriel A. Almond/Sidney Verba, The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations, New Jersey 1953.

  6. Vgl. Manuela Glaab/Andreas Kießling, Legitimation und Partizipation, in: Werner Weidenfeld/Karl-Rudolf Korte (Hrsg.), Deutschland-Trendbuch, Bonn 2001 (i. E.).

  7. Vgl. Kai Arzheimer/Markus Klein, Die friedliche und die stille Revolution. Die Entwicklung gesellschaftspolitischer Werteorientierungen in Deutschland seit dem Beitritt der fünf neuen Länder, in: Oscar W. Gabriel u. a. (Hrsg.), Politische Orientierungen und Verhaltensweisen im vereinten Deutschland, Opladen 1997, S. 37-59.

  8. Vgl. Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles Among Western Publics, Princeton 1977; ders., Kultureller Umbruch. Wertewandel in der westlichen Welt, Frankfurt/M.-New York 1989.

  9. Vgl. hierzu Helmut Klages, Wertorientierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalysen und Prognosen, Frankfurt/M.-New York 1985; ders., Der "schwierige Bürger". Bedrohung oder Zukunftspotential, in: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Demokratie am Wendepunkt. Die demokratische Frage als Projekt des 21. Jahrhunderts, Berlin 1996, S. 233-253.

  10. Vgl. Oscar W. Gabriel, Politische Kultur. Postmaterialismus und Materialismus in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1986, S. 179.

  11. Vgl. Manuela Glaab/Karl-Rudolf Korte, Politische Kultur, in: Werner Weidenfeld/Karl-Rudolf Korte (Hrsg.), Handbuch zur deutschen Einheit. 1949 - 1989 - 1999, akt. und erw. Neuausgabe, Bonn 1999, S. 642-650.

  12. Peter Lösche/Franz Walter, Die SPD: Klassenpartei - Volkspartei - Quotenpartei. Zur Entwicklung der Sozialdemokratie von Weimar bis zur deutschen Vereinigung, Darmstadt 1992, S. 201.

  13. Elmar Wiesendahl, Der Marsch aus den Institutionen. Zur Organisationsschwäche politischer Parteien in den achtziger Jahren, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 21/90, S. 13.

  14. Vgl. hierzu Oskar Niedermayer, Innerparteiliche Partizipation. Zur Analyse der Beteiligung von Parteimitgliedern am parteiinternen Willensbildungsprozess, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 11/89, S. 15-25; ders., Innerparteiliche Demokratie, in: ders./Richard Stöss (Hrsg.), Stand und Perspektiven der Parteienforschung in Deutschland, Opladen 1993, S. 230-250.

  15. Hans Joachim Veen/Viola Neu, Politische Beteiligung in der Volkspartei - Erste Ergebnisse einer repräsentativen Untersuchung unter CDU-Mitgliedern, hrsg. von der Konrad-Adenauer-Stiftung, St. Augustin 1995, S. 9.

  16. Vgl. Michael Th. Greven, Parteimitglieder. Ein empirischer Essay über das politische Alltagsbewusstsein in Parteien, Opladen 1987, S. 57.

  17. Vgl. Polis, SPD-Mitgliederbefragung 2000. Zusammenfassung der Ergebnisse und Datendokumentation, München 2000.

  18. Vgl. Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie, Bd. 9, hrsg. von Elisabeth Noelle-Neumann/Renate Köcher, München u. a. 1993, S. 719.

  19. Vgl. zu dieser Kontroverse v.a. Peter Haungs, Plädoyer für eine erneuerte Mitgliederpartei. Anmerkungen zur aktuellen Diskussion über die Zukunft der Volksparteien, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl.), (1994)1, S. 108-115.

  20. Vgl. Ursula Birsl/Peter Lösche, Parteien in West- und Ostdeutschland. Der gar nicht so feine Unterschied, in: ZParl., (1998) 1, S. 7-24.

  21. Vgl. K. Niclauß (Anm. 2), S. 9 f.

  22. Vgl. Joachim Raschke, Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind, Köln 1993; Hans-Joachim Veen/Jürgen Hoffmann, Die Grünen zu Beginn der neunziger Jahre. Profil und Defizite einer fast etablierten Partei, Bonn-Berlin 1992.

  23. Vgl. Gerd Mielke, Mehr Demokratie wagen! SPD-Führung im partizipatorischen Zeitalter, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (1997) 1, S. 38-47.

  24. Vgl. Philip Zeschmann, Mitgliederbefragungen, Mitgliederbegehren und Mitgliederentscheide: Mittel gegen Politiker- und Parteienverdrossenheit?, in: ZParl., (1997) 4, S. 698-712.

  25. Vgl. Franz Müntefering, Demokratie braucht Partei: Die Chance der SPD, in: ZParl., (2000) 1, S. 337-342. Im Internet abrufbar unter: http://www.spd.de/events/demokratie/fm.htm.

  26. Vgl. SPD-Bundesvorstand, Beschluss vom 22. Mai 2000. Im Internet abrufbar unter: http://www.spd.de/service/intern/0006/p1264.htm.

  27. Vgl. K. Niclauß (Anm. 2).

  28. Vgl. Hubert Kleinert, Aufstieg und Fall der Grünen. Analyse einer alternativen Partei, Bonn 1992.

  29. Vgl. dazu Thomas Poguntke, Die Bündnisgrünen in der babylonischen Gefangenschaft der SPD?, in: Oskar Niedermayer (Hrsg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 1998, Opladen 1999, S. 85 f.

  30. Vgl. Karl-Rudolf Korte, Welche Themen sind die Zukunftsthemen für die CDU?, in: Konrad-Adenauer-Stiftung (Hrsg.), Welcher Weg für die CDU? Zukunftsforum Politik, Nr. 4, St. Augustin 2000, S. 32-48.

  31. Vgl. Beschluss, Verfahren zur Behandlung der Anträge Nr. 2 "Für eine radikale Reform der Parteiarbeit", 47. Ordentlicher Bundesparteitag der FDP, Karlsruhe, 7./9. Juni 1996.

  32. Vgl. Beschluss, Parteireform - Offen für Mitwirkung, 48. Ordentlicher Bundesparteitag der FDP, Wiesbaden, 23./25. Mai 1997.

  33. Vgl. Bernd Becker, Mitgliederbeteiligung und innerparteiliche Demokratie in britischen Parteien - Modelle für die deutschen Parteien, Baden-Baden 1998.

  34. Vgl. Renate Köcher, Einigkeit macht anziehend, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.2.2000, S. 5.

M.A., geb. 1971; seit 1998 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft und in der Forschungsgruppe Deutschland des Centrums für angewandte Politikforschung (C.A.P.) der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Anschrift: Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München, Oettingenstr. 67, 80538 München.
E-Mail: andreas.kiessling@lrz.uni-muenchen.de

Veröffentlichungen u. a.: Politische Kultur und Parteien im vereinten Deutschland. Determinanten der Entwicklung des Parteiensystems, Schriftenreihe der Forschungsgruppe Deutschland, Bd. 11, München 1999.