I. Einleitung
Neben Hunger, Armut, Krieg und Menschenrechtsverletzungen ist die Zerstörung der Umwelt zur Ursache von Flucht und Abwanderung geworden, auch wenn "Umweltflüchtlinge" konzeptionell schwer zu fassen bleiben
Deshalb kommt es nicht überraschend, dass der "Umweltflüchtling" in der Literatur ein vielfältiges Leben führt. Geprägt wurde der Begriff in einem Bericht des UN-Umweltprogramms von 1985, in dem Umweltflüchtlinge definiert wurden als "those people who have been forced to leave their traditional habitat, temporarily or permanently, because of a marked environmental disruption . . . that jeopardised their existence and/or seriously affected the quality of their life"
Im Völkerrecht sind Umweltflüchtlinge ebenfalls eine unbekannte Größe. Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 erkennt Umweltzerstörung nicht als Fluchtgrund an und bietet "Umweltflüchtlingen" keinen Schutz, soweit sie nicht die anderen Kriterien der Konvention erfüllen, also zu den Menschen zählen, die aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität oder Mitgliedschaft zu einer sozialen Gruppe oder ihrer politischen Meinung verfolgt werden. Damit erfasst die Genfer Konvention auch nur grenzüberschreitende Fluchtbewegungen, nicht jedoch das häufigere innerstaatliche Abwandern. Regionale Abmachungen zum Schutz von Flüchtlingen in Afrika und Lateinamerika sind breiter gefasst als die Genfer Konvention und umfassen weitere Kategorien von Flüchtlingen, erkennen aber ebenfalls Umweltdegradation nicht als Fluchtgrund an.
Ebenso behandelt das 1949 eingerichtete Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) "Umweltflüchtlinge" nur am Rande, da diese Menschen in der Regel weiterhin den Schutz ihres Staates genießen und deshalb nicht "Flüchtlinge" im engen Sinne des Flüchtlingsrechts sind
II. Ursachen
Während das Konzept des "Umweltflüchtlings" somit verwaschen und die Datenlage unsicher bleibt, ist wenig zweifelhaft, wie Umweltzerstörung zum Motiv für das Abwandern Einzelner oder ganzer Siedlungsgruppen werden kann. Vier Hauptgründe sind zu nennen:
1. Deposition
Eine Fluchtursache ist übermäßige regionale Umweltverschmutzung. Übersteigt der Schadstoffeintrag in einem Gebiet kritische Grenzwerte, werden diese unbewirtschaftbar oder gar unbewohnbar. Die heute weitgehend verlassene Umgebung des Kernreaktors im ukrainischen Tschernobyl ist das bekannteste Beispiel; es wird geschätzt, dass 130 000 Menschen ihre Heimat aufgrund des Reaktorunfalls aufgeben mussten
Weitere Abwanderungsgründe sind beispielsweise Pestizidrückstände aus industrieller Landwirtschaft, welche ein Land unbewohnbar machen können. Rund um den Aralsee führte dies, neben Bodenerosion und Versalzung, zur Abwanderung von 100 000 Menschen
2. Degradation
Weitaus mehr Umweltflüchtlinge schafft die schleichende Degradation der Umwelt, das heißt ihre Veränderung in eine Form, welche die Nutzung der Naturschätze für den Menschen vermindert oder verhindert. Ist die Umwelt in einem Gebiet so weit zerstört, dass die bestehende Wirtschafts- und Lebensweise nicht mehr aufrechterhalten werden kann, verbleibt Abwandern oft die einzige Lösung. Historisch verursachte die Degradation der natürlichen Umwelt durch den Menschen mehrfach die Aufgabe von Siedlungsgebieten, sie wird für den Untergang vieler geschichtlicher Zivilisationen - etwa der Induskultur in Lateinamerika - mit verantwortlich gemacht. Auch heute bleiben der Verlust des Bodens und seiner Fruchtbarkeit und der Mangel an Frischwasser wesentliche Fluchtgründe
So sind von 1945 bis 1990 aufgrund menschlicher Einwirkungen über 1,2 Milliarden Hektar Land stark bis sehr stark degradiert worden, was in etwa der Gesamtfläche Indiens und Chinas entspricht. Drei Viertel dieser Bodenzerstörung fanden in den Entwicklungsländern statt, in denen viele Menschen essentiell auf ihr Land als Erwerbsquelle angewiesen sind. Die großen Dürren von 1968 bis 1973 zwangen allein in Burkina Faso eine Million Menschen zur Abwanderung
Ein zweites Problem ist die weltweite Wasserkrise: vierzig Prozent der Weltbevölkerung sind heute von Wassermangel betroffen
Mit geeigneter Technologie, Ressourcen und internationaler Kooperation ließen sich heute, anders als im steinzeitlichen Industal, Wasserkrisen und Bodenverarmung in ihren Folgen besser eindämmen. Zuallererst handelt es sich in den meisten Fällen also um ein Armuts- und damit inner- wie zwischenstaatliches Verteilungsproblem. Mittelbar wirken je nach Region unterschiedliche Faktoren: fehlgeleitete Bewässerungsprojekte wie am Tschadsee oder der Wechsel zum Anbau weltmarktfähiger Früchte, wie der Baumwolle, welche oft weniger Menschen beschäftigt und die übrigen zum Bewirtschaften randständiger Böden zwingt, soweit nicht andere Erwerbsmöglichkeiten entstehen. Die Mechanisierung der Landwirtschaft führte in einigen Gebieten zur Verdichtung, gesteigerten Erosion und über den Pestizideinsatz zur Bodenvergiftung; auch Versalzung des Ackerbodens und die Bohrung von Tiefbrunnen, die lokale Grundwasservorräte überbeanspruchen, schaffen ökologische Probleme. Hinzu kommen oft ein hohes Bevölkerungswachstum bei stagnierender wirtschaftlicher Leistung, Überweidung (wiederum durch andere Faktoren bedingt) und im schlimmsten Fall gewalttätige soziale Konflikte. Am bekanntesten für einen solchen Teufelskreis ist das Sahelgebiet, das viele seiner Bewohner aufgrund der Degradation der Böden und der Wasserprobleme verlassen haben.
3. Desaster
Eine weitere Fluchtursache sind vom Menschen verursachte "Naturkatastrophen". Teils folgen diese direkt der Umweltdegradation, wenn Überschwemmungen und Erdrutsche durch menschliche Eingriffe in den Naturhaushalt begünstigt und mitverursacht werden. Gerade in Entwicklungsländern sind Flucht und Abwanderung oft die Folge. Die Tendenz ist dabei steigend. So zeigte Graeme Hugo in einer statistischen Auswertung aller Naturkatastrophen von 1976 bis 1994
Globale Veränderungen der Umwelt, insbesondere der sich ankündigende Klimawandel, drohen diesen lokalen Desastern globale Naturkatastrophen hinzuzufügen: Ein ansteigender Meeresspiegel, Änderungen des Regionalklimas, Verschiebungen von Vegetationszonen, all dies kann neue Fluchtbewegungen auslösen, deren Ausmaß alles Bekannte überträfe. Knapp zwei Drittel der Menschheit leben nur höchstens einhundert Kilometer von einer Küste entfernt, und dreißig der fünfzig größten Städte der Welt liegen am Meer. Allein in Indien würde ein Meeresspiegelanstieg von einem Meter sieben Millionen Menschen gefährden
Wenig optimistisch präsentierte sich auch der von knapp 2000 Klimaforschern im Auftrag der Vereinten Nationen erstellte Bericht Climate Change 1995 in seiner Folgerung, dass "in some cases, sea level rise alone results in dramatic impacts on the economies and may threaten the existence of whole communities and nation states"
Wie mit diesen Menschen politisch und völkerrechtlich umzugehen ist, ist bislang kaum in Ansätzen diskutiert worden. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) betonte 1996 zu Recht, dass bei den Klimafolgeschäden Vorsorge Not tut. Denn "da die drohenden Klimaänderungen . . . von der ganzen Staatengemeinschaft - vor allem den Industrieländern - verursacht werden, müssen Umweltflüchtlinge auch unter den Schutz der gesamten Staatengemeinschaft gestellt werden. Es gilt also, rechtzeitig geeignete institutionelle Verankerungen für den Rechtsstatus von Umweltflüchtlingen zu erarbeiten."
4. Destabilisierung
Verbunden mit den drei genannten Fluchtursachen ist oft eine umfassende Destabilisierung des sozialen Gefüges. Bei einer Reihe jüngster Kriege, so im Tuaregkonflikt im westafrikanischen Sahel
Will man manchen katastrophistischen Autoren folgen, wird dieser Typus des Flüchtlings häufiger auftreten: Christopher Stone beispielsweise warnt vor den Folgen des Klimawandels, dass "man kaum die künftigen Spannungen an den Grenzen und die Verwerfungen der sozialen Ordnung ahnen kann, die entstehen könnten, wenn die Umweltdegradation das Nahrungs- und Wasserangebot einschränkt, die bewirtschaftbaren Zonen sich verschieben und die traditionellen Bevölkerungszentren durch den steigenden Meeresspiegel bedroht werden. Im Altertum", so fährt Stone fort, "führte schwerer und dauerhafter Klimawandel zur massenhaften Abwanderung. Heute ist jedoch die Bevölkerungsdichte größer, und die Migranten müssten politische Grenzen überschreiten und kulturelle Spannungen verschärfen - mit all den negativen Brüchen, die solche Konflikte heraufbeschwören könnten."
Trotz dieser Szenarien ist nicht absehbar, ob und wann der ökologischen Degradation die soziale Destabilisierung mit der Folge von "Umweltkriegen" folgt. Es gibt zwar inzwischen eine umfangreiche sozialwissenschaftliche Literatur
In einem neueren Forschungsansatz wurde daher versucht, den syndromanalytischen Erklärungsansatz des WBGU und kooperierender Forschungsgruppen
Allerdings zeigt dieses Übereintreffen noch keinen kausalen Zusammenhang, da man nicht ausschließen kann, dass bestehende gewaltsame Konflikte den Ausbruch des Syndroms beeinflussten, wenn nicht gar verursachten. Im Ergebnis konnte jedoch die These über einen Zusammenhang zwischen Umweltzerstörung und Gewalt zumindest für armutsbedingte Bodendegradation bestätigt werden - mit entsprechenden Implikationen für Fluchtbewegungen von Menschen, die wegen des Konflikts, aber letztlich wegen der Umweltzerstörung ihre Heimat verlassen.
III. Lösungswege
Ob man die Zahl der "Umweltflüchtlinge" wie das Rote Kreuz auf eine halbe Milliarde Menschen schätzt oder ob man sie aus rechtlichen oder politischen Gründen nicht als solche wahrnimmt, es bleibt die Frage, wie verhindert werden kann, dass Menschen aufgrund einer unbewohnbaren oder unnutzbaren Umwelt ihre Heimat aufgeben müssen.
Wichtig sind zunächst unmittelbare Maßnahmen zur "Symptombekämpfung", also zur Linderung des direkten Elends der Menschen, die wegen Umweltzerstörung ihre Heimat verlassen müssen. Hierzu zählen Systeme der Früherkennung von größeren Migrationsbewegungen, um präventiv handeln zu können, und verbesserte Hilfsmaßnahmen vor Ort. Denn entgegen manchen Bedrohungsszenarien in Industrieländern bleiben die meisten Umweltflüchtlinge in der Nähe ihrer verlassenen Heimat, noch im selben Land oder in Nachbarstaaten. 90 bis 95 Prozent aller weltweit grenzüberschreitenden Flüchtlinge fanden Zuflucht in (benachbarten) Entwicklungsländern und leben dort oft unter katastrophalen Bedingungen
Zur Verhinderung von Umweltflucht durch Deposition wie in Tschernobyl oder Seveso gäbe es noch vergleichsweise einfach erscheinende Maßnahmen, etwa verbesserte Industriestandards, die entsprechende Stoffeinträge verhinderten und Unfällen und Katastrophen vorbeugten, oder der Verzicht auf besonders riskante Tätigkeiten, wie die Kernkraft. Komplexer ist die Situation bei den tieferen Ursachen der Umweltmigration, vor allem bei der Degradation der Umwelt, die armutsbedingt ist: dem Abholzen von Wäldern durch Wanderbauern, der Übernutzung von Böden, dem Raubbau an Grundwässern durch Tiefbrunnen oder der Bodenversalzung durch fehlgeleitete Bewässerung. Natürlich kann auch bei solchen Umweltproblemen umweltpolitisch gehandelt werden: etwa durch bessere und ökologisch verträglichere Anbaumethoden, durch Optimieren der Bewässerung oder durch Eingriffe in das ökologisch oft fragwürdige Weltmarktgeschehen bei Tropenholz und Exportlandwirtschaft.
Doch ebenso eindeutig ist, dass hier mit Umweltpolitik allein der Umweltflucht nicht begegnet werden kann. Gefordert ist mehr internationale Entwicklungszusammenarbeit
Ein Beispiel für internationale Kooperation in diesem Bereich ist die 1996 in Kraft getretene Desertifikationskonvention, das "Internationale Übereinkommen zur Bekämpfung der Wüstenbildung in von Dürre und/oder Wüstenbildung betroffenen Ländern, insbesondere in Afrika."
Dem weltweiten Bodenschutz ist der Schutz des Wassers vergleichbar. Verunreinigtes Trinkwasser ist eine der häufigsten Todesursachen, und oft sind es Dürren und Wasserknappheit, die Menschen zwingen, ihr Land aufzugeben und Umweltflüchtlinge zu werden. Auch hier sind internationale Anstrengungen erforderlich, beispielsweise im Sinne der vom WBGU vorgeschlagenen "Weltwassercharta"
Möglicherweise erfordert diese Gemengelage von Umwelt- und Entwicklungskrisen auch gänzlich neue Ansätze im internationalen Institutionensystem zum Schutze der Umwelt - wie etwa die Gründung einer "Weltumweltorganisation" im Rahmen der Vereinten Nationen
Gefordert sind die Industrieländer vor allem bei dem Umweltproblem, das künftig die meisten "Umweltflüchtlinge" zu produzieren droht: der globalen Änderung des Klimas, mit allen denkbaren Konsequenzen vom Anstieg des Meeresspiegels, Verlagerungen des Monsunzyklus bis hin zu veränderten Anbaubedingungen in der Landwirtschaft. 1994 trat das Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen in Kraft, das 1997 im japanischen Kioto durch ein (noch nicht rechtskräftiges) Protokoll weiter ausgestaltet wurde. Demnach müssen Industrieländer ihren Ausstoß an Treibhausgasen bis 2012 im Schnitt um knapp über fünf Prozent gegenüber 1990 senken - zu wenig zwar aus ökologischer Sicht, aber ein sinnvoller erster Schritt mit einem richtigen Signal an Haushalte und Unternehmen
Allerdings ist es noch ungewiss, ob alle Industrieländer das Protokoll ratifizieren und das Kioto-Ziel erreichen werden. Selbst dann wäre wegen der Trägheit des Klimasystems ein Klimawandel wohl nicht mehr aufzuhalten. "Wenn die Wüste pro Jahr um zehn Kilometer wächst, sind Umweltflüchtlinge eine konfliktträchtige Folge. Dabei werden die Klimaänderungen, die die Wüste wachsen lassen, nicht vor Ort gemacht, sondern woanders verursacht, besonders in den entwickelten, wohlhabenden Ländern."
Schon vor 2300 Jahren drängte der indische Staatsphilosoph Kautalya in seiner Arthasastra auf wirksame staatliche Maßnahmen zum Schutz der Naturschätze wie Strafen für das widerrechtliche Roden von Wäldern oder eine staatliche Regulation der Urbarmachung von Land. Dass Millionen von Menschen zu "Umweltflüchtlingen" geworden sind, zeigt, dass den alten Lehren selten gefolgt wird. Umweltpolitik ist kein peripheres Gebiet, kein Randthema der internationalen Politik, keine soft politics: Die globalen Umweltveränderungen sind Kernaufgaben der Weltpolitik des einundzwanzigsten, des "Globalen" Jahrhunderts - auch und gerade mit Blick auf das Flüchtlingsproblem.