Einleitung
Die Französische Revolution fand diesmal in Belgrad statt. Ihren unmittelbaren Auslöser lieferte ein schlichtes legalistisches Ziel: die amtliche Anerkennung des tatsächlichen Resultats der Präsidentschaftswahlen vom 24. September 2000 in Jugoslawien. Allen Beteiligten und Beobachtern war aber von vornherein klar, dass viel mehr auf dem Spiel stand: der Sturz des Ancien Régime. So mündete der Protest gegen den Versuch der neuerlichen Wahlfälschung in den geplanten und organisierten revolutionären Coup vom 5. Oktober 2000, der binnen weniger dramatischer Stunden die Voraussetzungen dafür schuf, die Verhältnisse im Land wieder auf die Füße zu stellen
Schuf er aber auch die Voraussetzungen dafür, die Verhältnisse in der Region wieder auf die Füße zu stellen? Eine wichtige politische Hürde ist zwar gefallen, hinter der sich jedoch keineswegs eine freie, geradlinige und problemlose Wegstrecke auftut. So viel Gewalt, Leid und Lüge das Regime unter Miloevic' erzeugte, so wenig war die einfache Gleichung angebracht, die einen Automatismus im Verhältnis zwischen seiner Existenz und den strukturellen Problemen in der Region suggerierte. Viele davon waren vor Miloevic' vorhanden, zahlreiche wurden während seiner Ägide verschärft, und gar manche werden nach ihr bleiben. Der Sturz des monströsen Regimes war überfällig und kann nicht ausgiebig genug gewürdigt werden; aber er ist für sich allein noch keine Gewähr für die Klärung aller Sachfragen.
Der Beitrag behandelt jenes Problemfeld, das nach meiner Auffassung nicht eines unter vielen gleichrangigen ist, sondern im Hinblick auf Stabilität und Sicherheit das ausschlaggebende und vordringlich anzupackende: die staatliche Struktur in der Region. Im Hauptteil werden unter diesem Gesichtspunkt die gegenwärtigen Konstellationen entlang der "großen Fragen" skizziert und Folgerungen für eine stabilitätssichernde Gesamtregelung erörtert. Dem ist ein Rückblick vorangestellt, in dem die bislang dominierenden Ansätze auf ihre strategischen Ziele und konzeptionellen Überlegungen hin untersucht werden.
Nach der Auflösung Jugoslawiens: Strukturelles Jedermanns- und Niemandsgebiet
Es ist bemerkenswert, wie viele Lesarten von der Auflösung Jugoslawiens und den damit verbundenen Konflikten inzwischen vorliegen. Mindestens ebenso bemerkenswert ist, wie viele davon sich durch einen gemeinsamen Grundzug auszeichnen - den Drang nach der monokausalen Erklärung. Für einige Autoren handelte es sich um religiös bzw. konfessionell bedingte Auseinandersetzungen
Im deutschen Sprachraum war und blieb ein ebenfalls monokausales Argumentationsmuster dominant, das in einer Mischung aus Ethnizismus und Ideologie eine säuberliche Trennung in Böse (Serbien und die Serben, Inkarnator: Miloevic') und Gute (alle Gegner = Opfer) vornahm und die Rollen in jedem Fall eindeutig zuteilte. Bei einem solchen Ansatz war es nicht verwunderlich, dass zahlreiche Publikationen die Informationen, Positionen und Argumente einer oder mehrerer der zu unterstützenden Konfliktparteien übernahmen
Die Tendenz zu einseitigen Interpretationen ist verschiedentlich kritisch beleuchtet worden
Angesichts der Fülle an Interpretationen und Debatten über die inneren Aspekte der jugoslawischen Frage fällt das bescheidene Ausmaß an publizierten Überlegungen über den bedeutendsten der äußeren Aspekte umso deutlicher ins Auge. Nicht, dass es generell an Arbeiten über die äußeren Aspekte mangelte, wohl aber an Arbeiten über deren generelle und dabei insbesondere über deren strukturelle Seite. Abhandlungen über die jugoslawische Frage als strukturelles Problem Europas und der EU gehören nach wie vor zum defizitären Bereich.
In dieser Diskrepanz spiegelt sich ein allgemeines Manko wider, das die Entwicklungen während der neunziger Jahre überschattete. Wenn es auch in starkem Maße durch die spezifischen Konstellationen zu Beginn der neuen Ära nach 1989/1991 gefördert wurde, blieb es angesichts der Erfahrungen aus den vorangegangenen Übergängen vergleichbarer Größenordnung doch ein schwer erklärliches Phänomen. Als am Ende des Ersten Weltkriegs und unmittelbar danach die Neuordnung Europas in Angriff genommen wurde, war zwar vor allem in Zusammenhang mit dem östlichen und dem südostlichen Teil des Kontinents häufig von Selbstbestimmung die Rede. Aber die Kernpunkte aller Überlegungen und Regelungen hatten - wie üblich - mit der Staatenstruktur zu tun. Jedenfalls nahmen sich im Hinblick auf Südosteuropa alle beteiligten Mächte wie selbstverständlich der Fragen an: Was passiert in der Region nach der Auflösung von Österreich-Ungarn und des Osmanischen Reichs? Welche Strukturen sind am ehesten dazu geeignet, Stabilität zu gewährleisten? Welche inneren, welche äußeren Klammern sind vonnöten? Was den Balkan anbelangt, so war Jugoslawien das Kernstück der Regelung, eine Art funktionaler Mini-Ersatz für das untergegangene Habsburgerreich. 25 Jahre später, als wieder eine europäische Neuordnung zu gestalten war, standen die selben Grundfragen im Mittelpunkt, natürlich den veränderten Bedingungen angepasst: Was kommt nach Hitler? Welche Strukturen sind am besten geeignet, Stabilität zu gewährleisten? Trotz wichtiger Differenzen in einigen Fragen herrschte doch breite Übereinstimmung darüber, dass wieder nach inneren und äußeren Klammern Ausschau zu halten war, wobei diesmal die äußeren erheblich fester angezogen werden sollten - sei es in der Kooperation oder in der Konfrontation der Mächte.
Als Jugoslawien begann, seinem Untergang entgegenzugehen, konnte, ja musste man angesichts dieser Erfahrungen von den Staatslenkern in Westeuropa die Beschäftigung mit den Fragen erwarten: Was kommt nach Jugoslawien? Welche Strukturen sind am ehesten dazu geeignet, Sicherheit und Stabilität in der Region zu gewährleisten? Welche inneren, welche äußeren Klammern sind wiederum vonnöten? Es kann nicht definitiv ausgeschlossen werden, dass derlei besprochen worden ist. Aber aus dem, was bisher veröffentlicht wurde, und mehr noch aus dem, was bisher geschah, lässt sich das nicht ersehen. Diese Fragen scheinen während der gesamten neunziger Jahre nicht einmal dezidiert aufgeworfen worden zu sein, geschweige denn eine besondere Rolle gespielt zu haben.
Selbst Mitterrand sprach in den entscheidenden Situationen des Jahres 1991 zwar immer wieder von dem Problem der Grenzen, mahnte eine internationale Regelung und das gemeinsame Vorgehen Westeuropas an - aber in der strategisch ausschlaggebenden Frage blieb er merkwürdig stumm. War er nach seinen groben Fehlkalkulationen im Vereinigungsprozess Deutschlands europapolitisch zu schwer angeschlagen, als dass er eine Debatte oder gar seine Linie durchsetzen konnte? Wohl nicht nur, und nicht einmal hauptsächlich. Mehrfach sagte er im Herbst 1991 in Richtung Jugoslawien: "Wir können nichts tun." Maastricht und die Europäische Union hatten für ihn absoluten Vorrang; die Differenzen mit Kohl und Genscher über die Jugoslawien-Politik durften nicht das Hauptwerk gefährden. Mitterrands Hauptmotiv artikulierte Außenminister Roland Dumas: "Der Zusammenbruch Jugoslawiens ist ein Drama, der der Gemeinschaft wäre eine Katastrophe." Mitterrand übte sich nur noch im Versuch der Schadensbegrenzung. Am Ende stand er machtlos seinen einstigen Lieblingen aus der Gilde der Intellektuellen gegenüber, die das Ende politischer Strategie, deren bedingungslose Kapitulation vor dem "humanitären Interventionismus" verlangten. Aber das Unbehagen blieb: "Sie hüten sich sorgsam davor, den anderen Begriff für die Alternative zu internationalen Verhandlungen wachzurufen. Was aber ist der andere Begriff - wenn nicht der Krieg?"
Anderswo löste das Problem redseliges Schweigen oder optimistischere Reaktionen aus. In Genschers Erinnerungen, in denen immerhin 41 Seiten den Konflikten um Jugoslawien gewidmet sind
Zielbewusst ließ er sich gegenüber französischen Gesprächspartnern darüber aus, wie er Tudjman regelrecht abgekanzelt habe, als der eine Landkarte ausbreitete, um die Umrisse seines Traums von Groß-Kroatien anschaulich darzulegen
Die wenigen Rufer in der Wüste blieben ziemlich einsam, wenn sie - wie etwa Henry Kissinger - hartnäckig nach strategischen Konzepten zur Gestaltung der internationalen Politik fragten. Im Grunde genommen standen hierfür seit Beginn der neunziger Jahre drei Möglichkeiten zur Auswahl: a) Vorrang des Prinzips der staatlichen Souveränität und der territorialen Integrität; b) Vorrang des Prinzips der Selbstbestimmung; c) pragmatische Mischung aus Diplomatie, Druck durch koordinierte Aktion der internationalen Organisationen sowie Geduld und hartnäckigem Bestehen auf Verhandlungen
Die beiden erstgenannten Optionen hätten den Vorteil gehabt, ein jeweils eindeutiges und im Prinzip legitimes Leitmotiv festzulegen, aber beide wären auch mit schwerwiegenden Problemen verbunden gewesen. Wenn die Souveränität obenan steht, kann im Falle von erheblichen Menschenrechtsverletzungen eine unter ethischen Gesichtspunkten schwer erträgliche Lage eintreten, in der eine Verurteilung des Nicht-Eingreifens als Appeasement-Politik großen Anklang findet. Wenn die Selbstbestimmung richtungweisend ist, kann dies von sezessionistischen Bewegungen als Freibrief gedeutet werden und in der Folge ein unerwünschter Domino-Effekt eintreten. Denn wenn unter Hinweis auf die Selbstbestimmung die staatliche Souveränität (Ex-)Jugoslawiens zur Disposition gestellt wird, wie soll dann diejenige von Bosnien und Herzegowina (oder von Kroatien, vom heutigen Jugoslawien, von Mazedonien usw.) gegen Argumente derselben Herkunft verteidigt werden? So berechtigte Anliegen für beide Optionen auch ins Feld geführt werden können, so wenig sind diese als pauschales und durchgängig verwendbares Allheilmittel geeignet. Zudem sind sie nicht kompatibel; jede grundsätzliche Entscheidung zugunsten einer der beiden Optionen schließt den sicher nicht gewollten, aber eben unvermeidlichen Nebeneffekt ein, der das jeweils andere Prinzip verletzungsanfällig macht.
Schon aus diesem Grunde wäre die Wahl der dritten Option ratsam gewesen. Dies aber unterblieb. Statt dessen wurde in der Realität und vor allem an den wichtigsten Wendepunkten (Anerkennung Sloweniens und Kroatiens, Anerkennung von Bosnien und Herzegowina, Luftkrieg gegen Jugoslawien wegen Kosovo) die Selbstbestimmungs-Option bevorzugt, auch wenn dies offiziell nie so erklärt, manchmal sogar geleugnet wurde. In der Tat war eine konsequente und durchdachte Entscheidung nie gefallen. Weder waren die möglichen Folgen ins Kalkül gezogen und entsprechende Rückversicherungen eingebaut worden, noch wurde das Selbstbestimmungsprinzip konsequent zugestanden. Man fügte also dem Grundfehler durch Versäumnisse und Selektivität weitere Fehler hinzu. Die Ergebnisse waren in mehrfacher Hinsicht beklagenswert: Der Grundansatz förderte nicht Beruhigung und Kompromissneigung, sondern trug zur Verschärfung der Sachlage bei, und aus der Inkonsistenz sprach eine bedenkliche Neigung zu Doppelstandards.
Das Problem war keine Spezialität der Balkan-Politik, sondern letztlich Ausfluss eines allgemeinen Defizits in der Welt- und namentlich in der europäischen Politik nach 1989/1991. Die Veränderungen auf der internationalen Bühne wurden nicht ins Werk gesetzt, sie vollzogen sich. Nachdem sich die bipolare Grundstruktur aufgelöst hatte, war unmittelbar darauf kein neues übergreifendes System an ihre Stelle getreten. Der Kontrast zwischen diesem Übergang in eine neue Ära und seinen Vorgängern war augenfällig
Für Südosteuropa zog dies äußerst negative strukturelle Konsequenzen nach sich. Die Staatenlandschaft in der Region war in ihrer neuzeitlichen Geschichte noch nie so atomisiert wie am Ende des 20. Jahrhunderts (siehe Tabelle). Dabei schlug das Verhältnis von Anspruch und Wirklichkeit die merkwürdigsten Kapriolen. Auf der einen Seite große Ziele und Begriffe, vom universellen Denken und globalen Handeln bis hin zum multiethnischen Zusammenleben; auf der anderen Seite eine Realität, in der just die Gegenstücke bestärkt, geduldet oder hingenommen wurden. Die Ergebnisse der ersten Dekade nach 1989/1991 waren ernüchternd bis erschreckend: Die ethnopolitischen Trennlinien hatten sich vertieft, die ethnizistischen Kräfte hatten ihre Positionen noch ausgebaut, die Nationalismen päppelten sich fortwährend auf Kosten der Gesellschaften auf. Gebiete, die seit Jahrhunderten multiethnisch besiedelt waren, sind inzwischen - und offenbar auf Dauer - ethnisch homogenisiert: die Krajina, große Teile von Bosnien und Herzegowina, das Kosovo.
Und die jetzige Staatenstruktur im ex-jugoslawischen Raum ähnelt einem chaotisch sortierten Gemischtwarenladen: zwei NATO-Protektorate, das eine davon ein Staat auf dem Papier (Bosnien und Herzegowina), der zwei staatsähnliche Gebilde (die Bosniakisch-kroatische Föderation und die Republika Srpska) beherbergt, das andere (Kosovo) eine de jure zu Jugoslawien und Serbien gehörende Entität, deren überwältigende Bevölkerungsmehrheit die Unabhängigkeit wünscht; ein Torso von Föderation (Jugoslawien), aus dem nicht nur das Kosovo, sondern auch die politische Führung und ein Teil der Bevölkerung Montenegros hinausstreben; zwei Staaten (Albanien vor allem, aber auch Kroatien), die den außerhalb ihrer Grenzen lebenden Ko-Nationalen besondere Aufmerksamkeit widmen; ein Staat (Mazedonien), der infolge der fast vollständigen Trennung zwischen slawischen und albanischen Mazedoniern immer noch ein Staat ohne Gewähr ist. Kurzum: Binnen zehn Jahren hat sich das Antlitz der südosteuropäischen Staatenlandschaft geradezu ins Gegenteil verkehrt. Aus der vorher eher überstrukturierten Region ist ein ungeordnetes Jedermanns- und Niemandsgebiet geworden.
Die "großen Fragen" in Südosteuropa
Was kommt nach der Kriegsdekade im Gefolge der Auflösung Jugoslawiens? Welche Konstellationen zeichnen sich ab, welche Strukturen sind am besten geeignet, Stabilität und Sicherheit in Südosteuropa zu gewährleisten? Welche inneren, welche äußeren Strukturen sind vonnöten?
Nach wie vor bildet die Neuordnung des Kerngebiets von Ex-Jugoslawien den Dreh- und Angelpunkt des Problems. Die Art, in der die Föderation aufgelöst wurde, die innerjugoslawischen Teilungs- und Nachfolgekriege sowie die politischen und militärischen Eingriffe der westlichen Staaten haben neue Tatsachen und damit neue Ausgangspunkte geschaffen. Gegenwärtig spielen im Hinblick auf die staatlichen Strukturen sechs Fragen eine besondere Rolle, da ihre Beantwortung - unabhängig davon, wie sie ausfällt - zumindest für größere Teile der Region direkte, bedeutende Auswirkungen nach sich ziehen wird. Von Nord nach Süd aufgezählt:
1. Die Kroatische Frage: In ihrem Mittelpunkt steht das Verhältnis Kroatiens zu den in Bosnien und Herzegowina, hier vor allem in der Herzegowina lebenden Kroaten sowie, damit verbunden, dasjenige zu dem Gesamtstaat Bosnien und Herzegowina und namentlich zu einer seiner beiden Entitäten, der Bosniakisch-kroatischen Föderation. Während der Herrschaft Franjo Tudjmans (1990-1999) gehörte die politische, militärische und finanzielle Unterstützung der Ko-Nationalen in Bosnien und Herzegowina zu den prioritären Anliegen Zagrebs. Tudjman selbst war bereit, sich mit Milosevic über eine Aufteilung des Nachbarlandes zwischen Kroatien und Serbien (bzw. Jugoslawien) zu einigen. Auch torpedierte er nach Dayton die Handlungsfähigkeit der Bosniakisch-kroatischen Föderation. De facto lief seine Nationalpolitik auf den Versuch hinaus, durch eine Anbindung der von kroatischer Seite dominierten Teile von Bosnien und Herzegowina an das "Mutterland" irreversible Tatsachen in Richtung einer Vereinigung zu schaffen. Nach dem Tod Tudjmans im Dezember 1999 erklärte die Anfang 2000 neu gewählte Führung unter Präsident Stjepan Mesicv und Ministerpräsident Ivica Racvan die Absicht, die Unterstützung für die Ko-Nationalen in der Herzegowina einzuschränken und mehr für die Stabilisierung des Nachbarlandes zu tun. Es bleibt aber abzuwarten, welche Taten den Ankündigungen folgen.
Auch bei Autoren aus Kroatien sind skeptische Töne nicht zu überhören, zumal sich die Führung der "Kroatischen Gemeinschaft Herceg Bosna" nach wie vor in den Händen des herzegowinischen Ablegers der von Tudjman gegründeten "Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft" (HDZ) befindet, selbst nachdem die Mutterorganisation in Kroatien erheblich an Einfluss verloren hatte
2. Die Bosnische Frage: Ihrem Kern nach läuft sie auf die Frage nach der (reellen und nicht nur auf dem Papier existierenden) Eigenstaatlichkeit von Bosnien und Herzegowina hinaus. Ausgeprägtes Interesse daran ist allein auf bosniakischer Seite vorhanden, während die Organisationen der bosnischen Kroaten und der bosnischen Serben unabhängig von den konkreten Konstellationen Sonderbeziehungen zu ihrem jeweiligen Titularstaat reklamieren und pflegen. Ungeachtet der Festlegungen im Daytoner Abkommen bestehen bis heute die (verfassungswidrigen) Parallelstrukturen innerhalb der Bosniakisch-kroatischen Föderation fort, so dass das Land nach vielen Kriterien (von der Armee bis zum Währungssystem) dreigeteilt ist
3. Die Serbische Frage: Historisch betrachtet bestand diese ihrem Wesen nach darin, wie die verstreuten Siedlungsgebiete der Serben (von denen größere Gruppen außer im Kerngebiet Serbiens auch im Banat, in der Batschka, in Syrmien, Slawonien, in der Krajina, in Bosnien, Montenegro, im Kosovo lebten) staatlich verbunden bzw. zusammengeführt werden. Von serbischer Seite wurde sie zumeist auf eine Art beantwortet, die wenig Verständnis für die Belange der anderen betroffenen Völker und Staaten an den Tag legte und dementsprechend deren Misstrauen und Widerstand hervorrief. Schon Titos Konstruktion des zweiten Jugoslawien wirkte dem allerdings bewusst entgegen, indem Montenegro den Status einer vollwertigen, eigenständigen Republik erhielt und auf dem Territorium der Republik Serbien zwei autonome Gebiete, später Provinzen - nämlich die Vojvodina und das Kosovo - eingerichtet wurden, während den Serben außerhalb Serbiens (in Kroatien und in Bosnien und Herzegowina) analoge Autonomieinstitute verwehrt blieben. Während der neunziger Jahre erfuhren auch die ethnostrukturellen Bedingungen eine grundlegende Änderung. Die Zahl der Serben und der mehrheitlich serbisch besiedelten Gebiete außerhalb Serbiens schrumpfte in erheblichem Maße, während Serbien selbst den Zustrom einer großen Zahl (nach offiziellen Angaben der jetzigen jugoslawischen Regierung etwa 570 000) von Flüchtlingen und Vertriebenen aus Kroatien, Bosnien und Herzegowina sowie dem Kosovo zu registrieren hatte. Zumindest auf absehbare Zeit ist damit aus einer ethnopolitisch verstandenen Frage eine vornehmlich soziale geworden. Gleichwohl steckt darin in Verbindung mit der Rückkehr-Problematik weiterhin eine strukturelle Komponente. Welche Strukturveränderung auch immer in der serbischen Frage die Oberhand gewinnt, sie wird in jedem Fall eine Reihe von Völkern, Staaten (Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Albanien, Mazedonien) und Entitäten von unterschiedlichem Status im heutigen Jugoslawien (Montenegro, Kosovo, Sandzvak von Novi Pazar, Vojvodina) direkt tangieren.
4. Die Montenegrinische Frage: Die Auseinandersetzungen um die staatliche Selbständigkeit Montenegros betreffen in erster Linie dessen Verhältnis zu den Serben und Serbien. Darüber hinaus sind zwei weitere ethnische Gruppen in Montenegro direkt involviert: die Albaner (Anteil an der Bevölkerung 1991: 6,6 Prozent) und die Muslime (Anteil 1991: 14,6 Prozent), die vornehmlich in dem zwischen Serbien und Montenegro aufgeteilten Sandzak von Novi Pazar
5. Die Mazedonische Frage: Hier ist im Laufe der neunziger Jahre ebenfalls eine gründliche Änderung eingetreten. Die traditionelle Lesart der Frage lautete: Was sind die Mazedonier, und zu wem gehören sie? Da sie von den meisten Nachbarvölkern und -staaten mit dem Versuch der Einvernahme Mazedoniens und der Mazedonier für die eigene Nation beantwortet wurde, blieb sie lange Zeit das Feld konkurrierender Ansprüche von Serbien, Bulgarien und Griechenland. Das zweite (Titos) Jugoslawien erkannte aber eine eigenständige mazedonische Nation an, und der zu Jugoslawien gehörende Teil Mazedoniens konnte in der Folgezeit den Prozess der nationalstaatlichen Formierung in Gang setzen, der letztlich zur Erlangung der vollen Eigenstaatlichkeit führte
6. Die Albanische Frage: Ähnlich wie (früher) im Falle der Serben leben viele Albaner außerhalb der Grenzen des Titularstaates, aber im Unterschied dazu sind ihre Siedlungsgebiete nicht verstreut, sondern konzentrieren sich in direkter Nachbarschaft des Nationalstaats Albanien. Größere Gruppen leben im Kosovo, in zwei an Kosovo (und auch an Mazedonien) angrenzenden südserbischen Bezirken, in denen gegenwärtig gewaltsame Auseinandersetzungen vor allem um das Tal von Presvevo in Gang sind, im Westen und Nordwesten Mazedoniens, im Süden Montenegros, nach albanischen Angaben auch im Nordwesten Griechenlands. Regierende Repräsentanten des Staates Albanien vermeiden es, die Albanische Frage als Anspruch auf die Zusammenführung aller Siedlungsgebiete in einen Staat aufzuwerfen. Eben dies tun aber in Opposition befindliche Politiker und zahlreiche einflussreiche Intellektuelle aus Albanien sowie Politiker und Intellektuelle albanischer Nationalität aus benachbarten Provinzen und Staaten (vor allem aus dem Kosovo und aus Mazedonien) in eindeutiger Weise. Konsens besteht darüber, dass die Festlegung der heute noch gültigen Grenzen Albaniens durch die Mächte im Jahre 1913 und ihre Bestätigung nach den beiden Weltkriegen höchst ungerecht gewesen seien. Dementsprechend unumstritten ist auch der grundsätzliche Wunsch nach "nationaler Vereinigung"; die Unterschiede beziehen sich auf Vorgehen, taktische Fragen und konkrete Ausprägungen
Ohne direkte Bezüge zum ex-jugoslawischen Raum existiert die Rumänische Frage fort, auch wenn sie derzeit eher ein Schattendasein fristet. Mögen die konjunkturellen Bedingungen gegenwärtig dagegen sprechen, die strukturellen sind nun einmal so beschaffen, dass sie Überlegungen in Richtung einer staatlichen Vereinigung von Rumänien und Moldova oder zumindest eines Großteils von Moldova (unter Ausschluss von Transnistrien) nicht hemmen, sondern im Gegenteil fördern. Im Falle einer solchen Bewegung sind mit Sicherheit Rückwirkungen auf direkte und mittelbare Nachbarn im Osten (Ukraine, Russland) und auf solche im Nordwesten (Ungarn wegen der in Rumänien lebenden Ungarn und vielleicht auch wegen Siebenbürgen) zu erwarten. Gewiss, das alles sind Möglichkeiten für weitere Konflikte in der Region, aber es braucht nicht einmal der vorstellbare worst case eines großen Konflikts einzutreten, um zumindest einiges davon (wieder) auf die europäische Tagesordnung gelangen zu lassen. Wenn die wirtschaftliche Erholung und die Aussicht auf eine Integration in die EU weiterhin auf sich warten lassen, wäre eine noch stärkere Hinwendung zu nationalistischer Ablenkung alles andere als erstaunlich. Die Ergebnisse der jüngst abgehaltenen Wahlen in Rumänien lieferten in dieser Hinsicht ein eindeutiges Signal
Folgerungen für Stabilität und Staatenstruktur
Was sagt die Übersicht über die "großen Fragen" in Südosteuropa in der Hauptsache aus? Zunächst: Keine von ihnen kann zur gänzlichen Zufriedenheit aller Beteiligten beantwortet werden. Jede vollständige Lösung zugunsten einer Seite würde unweigerlich mehreren Völkern und Staaten erhebliche Verluste oder Nachteile zufügen. Mit anderen Worten: Es darf gar nicht darum gehen, die Fragen zu lösen, sondern darum, sie zu bändigen und wenn möglich in einen korporativen Ansatz regionaler Zusammenarbeit einzubinden. Wenn man aber weiter dem im vergangenen Jahrzehnt bevorzugten Weg folgt - nämlich die Selbstbestimmung grundsätzlich als Priorität auszuerwählen und sie in der Praxis selektiv zu gewäh-ren -, dann ist man ganz gewiss zum Scheitern verurteilt.
Darüber hinaus weist die Übersicht auf die ungleichmäßige Tragweite der einzelnen Fragen hin, woraus sich deren gleichgewichtige Behandlung verbietet. Es gibt zwei Schlüsselprobleme, die von herausragender Bedeutung für die Statik im ex-jugoslawischen Raum und damit auch in der gesamten Region sind: im Norden und im Zentrum das Verhältnis zwischen Serbien und Kroatien, im Süden dasjenige zwischen Serbien und Albanien.
Die vergangene Dekade ist zur Regelung der komplexen Konstellationen auf dem Balkan schlecht bis gar nicht genutzt worden. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass heute im Grunde genommen immer noch dieselben Entscheidungen anstehen wie vor zehn Jahren. Was sich verändert hat, sind die Ausgangsbedingungen und die Erfahrungen. Was sich nicht verändert hat, sind die oben angeführten drei Optionen, die für die Auswahl der entscheidenden Perspektive zur Verfügung stehen: Souveränität, Selbstbestimmung oder pragmatische, auf stabile Strukturen zielende Diplomatie. Die beiden erstgenannten Möglichkeiten ziehen unvermeidlicherweise eine lange Kette von unberechenbaren und letztlich unkontrollierbaren Konfliktherden nach sich. Daher drängt sich die dritte Option förmlich auf.
Wenn die Wahl auf diese Option fiele, stünden im Hinblick auf den Balkan grundsätzlich drei Ausrichtungen zur Verfügung:
a) eine vor allem auf die Binnenkräfte orientierte Lösung; ihr hauptsächlicher Stützpfeiler bzw. ihre innere Klammer wäre ein starker Verbund der Balkan-Staaten mit einem umfassenden integrativen Instrumentarium (gemeinsamer Markt, koordinierte Binnen- und Außenwirtschaftspolitik, kooperative Außenpolitik, konsultierte Minderheitenpolitik), kurzum: eine Art Balkan-Union;
b) eine vor allem auf die äußere Klammer zielende Option; ihr Fundament lieferte die EU, ihre Festigkeit die vollwertige Integration der gesamten Region in die Union;
c) eine Verbindung äußerer und innerer Klammern.
Die beiden erstgenannten Ansätze fallen bei nüchterner Betrachtung fürs Erste aus. Auf absehbare Zeit hat keine davon ernsthafte Aussichten auf Verwirklichung. Folglich bietet sich in kurzfristiger, realpolitisch annehmbarer Perspektive allein die dritte Möglichkeit an. Das bedeutet keineswegs, dass alle Bestandteile der zunächst unrealisierbaren ersten beiden Optionen beiseite zu schieben sind. Vielmehr sind wesentliche davon einzubeziehen, wenn die mögliche dritte Variante erfolgreich wirken soll. Dies gilt für Elemente einer Binnenverbindung der Balkan-Staaten ebenso wie für ein ganzheitliches Angebot der EU an deren Adresse. Und hierzwischen ist von beiden Seiten ein unverrückbares Junktim herzustellen und einzuhalten.
Die Politik der EU müsste sich auf die beiden für die Sicherheit und Stabilität in der Region wichtigsten Bereiche beziehen: die Staatenstruktur und die Wirtschaft. Namentlich erwähnt seien die konzeptionellen Überlegungen zugunsten eines europäischen "New Deals" für den Balkan, die eine zunächst rein ökonomische Integration ins Auge fassen
Was die Staatenstruktur anbelangt, so besteht die zweitwichtigste Voraussetzung in einem zusammengehörigen Bündel umfassender, alle Beteiligten einbeziehender langfristiger vertraglicher Regelungen. Nach den beiden Weltkriegen war mit den Friedensverträgen zumindest ein Gerüst vorhanden, das die allgemeinen Rahmenbedingungen vorgab. Nichts dergleichen nach 1989/1991. Natürlich lässt sich Geschichte nicht zurückspulen, um sie durch nachträglich eingebaute Korrekturen rückwirkend wieder auf eine vernünftige Bahn zu lenken. Aber nirgendwo steht geschrieben, dass man vergangenen Versäumnissen auf Dauer hilflos ausgeliefert ist.
Was durchaus möglich und notwendig ist, ist ein neuer Anlauf unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich geschaffenen Tatsachen. Dieser müsste für ein ineinandergreifendes System von bi- und multilateralen Grundlagenverträgen zwischen den Balkan-Staaten auf der einen und zwischen ihnen und der EU auf der anderen Seite sorgen. Bei aller Vorsicht vor historischen Analogien könnte man ein solches Unterfangen als eine Art Balkan-Locarno apostrophieren. Denn mit Locarno waren seinerzeit ähnliche Grundziele verbunden, und es ließe sich an zahlreiche positive Elemente des Vertragswerks von 1925 anknüpfen - Entspannung, Gewaltverzicht, Grenzsicherung, Entmilitarisierung, Verpflichtung auf die Ziele der internationalen Gemeinschaft, Garantiemächte. Selbstverständlich müssten die negativen Aspekte von Locarno vermieden werden - etwa die regionale Selektivität der Grenzsicherungsvereinbarungen, die Relativierung des Prinzips der gemeinsamen Sicherheit, die mit höchst zweifelhaften Hintergedanken verbundene Selektivität bei der Wahl der Garantiemächte
Wenn einer derartigen Initiative Erfolg beschieden sein soll, müsste sie von der EU - und hier wiederum von deren obersten Instanz, also dem Europäischen Rat - ausgehen. Die EU hätte auch die Rolle der Garantiemacht zu übernehmen, dies aber nicht allein im klassischen Sinne, sondern auch in dem Sinne, dass sie die Garantie für die Integration der Balkan-Staaten, in welcher Form auch immer. übernimmt.
Die wichtigste Voraussetzung ist der politische Wille, denn er ist ausschlaggebend für die Beantwortung der Frage, ob ein derartiger Ansatz auch nur die geringste Chance auf Erprobung hat. Die bisherigen Erfahrungen ermutigen leider nicht zu besonders optimistischen Prognosen. Auf den ersten Blick wird sich der Eindruck aufdrängen, der Vorschlag mute der EU allzu viel zu. Mag sein, besonders dann, wenn "Europa" in eng begrenzten Interessenkategorien und kurzfristiger Perspektive gedacht und gelebt wird. Aber irgendwann wird sich auch die EU entscheiden müssen: Will sie ein Verein der reicheren und mächtigeren Teile Europas zum Zwecke der Besitzstandswahrung werden - und damit in der Balkan-Politik weiter von Krise zu Krise, von einem Krisenmanagement zum nächsten eilen? Oder strebt sie in der Tat ein "europäisches Projekt" an und nutzt jetzt die Chance, sich selbst - und mit ihr zusammen alle Europäer - zu mobilisieren? Kurzfristig mag die erste Variante mit ihrem scheinbaren Pragmatismus verlockender sein, langfristig wird die zweite belohnt.