I. Abschnitt
In einem im vergangenen Jahr erschienenen Beitrag über "Deutschlands Befindlichkeiten aus französischer Sicht" machte Stephan Martens darauf aufmerksam, dass sich, von Frankreich aus betrachtet, mit dem Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin die Machtbalance in Europa verschiebe: "Regelmäßig wird bei den französischen Kommentatoren daran erinnert, dass für Deutschland Mittel- und Osteuropa Einflusszone sei und dass mit dem kommenden Eintritt neuer Staaten in die EU die deutsche Dominanz noch wachsen wird. Frankreich dagegen habe keine Einflusszone - höchstens Afrika - oder nur eine geringe mit der Frankophonie."
Im gleichen Heft der "Internationalen Politik" schreibt auch W|ladys|law Bartoszewski. Sein Beitrag über "Deutschland und Polen nach dem Umbruch" trägt die Überschrift: "Angst vor der Großmacht?" Er liest sich wie eine Antwort auf die von Martens erwähnten französischen Vorbehalte. Bartoszewski spricht von der gemeinsamen Geschichte Polens und Deutschlands als der Grundlage der gegenwärtigen und der künftigen Beziehungen zwischen den beiden Ländern in Europa. Aus der Vergangenheit ragen Elemente in die Gegenwart hinein, mit denen sich die beiden Nachbarn neu befassen müssen. Nichts kann ungeschehen gemacht werden, auch wenn Dinge zu einem Abschluss gebracht werden können. Bartoszewski erinnert an die Fragen der Entschädigungen für die Zwangsarbeiter - und bleibt doch dabei nicht stehen: "Das Kriegskapitel der gemeinsamen Geschichte dürfte mit dem Abkommen über die Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter endgültig abgeschlossen sein", schreibt er und schließt an: "Die beiden Länder verfügen heute über ein umfangreiches Netz von bilateralen Institutionen, Stiftungen, Verbänden und Städtepartnerschaften; die wirtschaftlichen Beziehungen florieren." Von beiden Seiten sind die Voraussetzungen für dieses Aufblühen geschaffen worden. Er fährt fort: "... obwohl eine solide Basis für unsere Partnerschaft geschaffen werden konnte, wird es sicher noch eine Weile dauern, bis Deutsche und Polen überkommene Berührungsängste abgebaut und wirklich zueinander gefunden haben. Die Verständigung der Völker hinkt leider immer noch hinter der Aussöhnung der Eliten unserer beiden Länder hinterher."
Bartoszewskis Vertrauen gründet darauf, dass Deutschland in die Europäische Integration einbezogen ist: "Es ist allerdings unmöglich, die gegenwärtigen und die zukünftigen polnisch-deutschen Beziehungen losgelöst vom gesamteuropäischen Zusammenhang zu betrachten." Eine grundsätzlich neue Situation sei dadurch entstanden, dass Deutschland freiwillig auf immer größere Teilbereiche seiner Souveränität verzichtet und seine Friedfertigkeit unter Beweis gestellt habe. "Das solchermaßen eingehegte Deutschland hat - zum Glück - nichts mehr gemein mit dem von Expansionsdrang und Großmachtstreben besessenen Staat, der in der polnischen Bedrohungsperzeption eine prominente Rolle spielte."
Dies ist die Basis eines neuen Vertrauens, das ausstrahlen kann auf alle Bereiche. Es macht den Blick auf die gesamte Vergangenheit der Beziehungen zwischen Polen und Deutschen frei. Was Bartoszewski über diese neue oder wiedergewonnene Perspektive in Bezug auf das Verhältnis seines Landes zu Deutschland feststellt, gilt der Sache nach auch für alle anderen östlichen Nachbarn Deutschlands, zumal die an der Ostsee, die EU-Beitrittskandidaten. Auch für diese trifft zu, dass sie das Deutschland von heute als einen ganz und gar auf Europa eingeschworenen Staat betrachten. Die deutschen Bindungen an Europa ermöglichen Vertrauen hinsichtlich der Zukunft,
sie eröffnen aber auch der Beschäftigung mit der Vergangenheit ganz neue Möglichkeiten
II. Abschnitt
Die seit 1989 viel beschworene und damit abgenutzte Formel von der "Rückkehr" Mittel- und Osteuropas nach Europa bekommt in diesem Zusammenhang eine ganz spezifische Bedeutung. Es ist nicht die Rückkehr im Sinne eines bloßen Anschlusses an die seit dem Krieg vollzogene Entwicklung im Westen, an den immer weitergehenden Integrationsprozess, an die Übernahme der entwickelten Konzepte des Westens und seiner Institutionen und Verfahren. Vielmehr werden angesichts der Sicherheiten, die seitdem auch die Staaten in der Mitte und im Osten genießen, auch die eigene Geschichte der benachbarten Völker und ihre Gemeinsamkeiten wieder sichtbar; sie können neu bewertet werden und als Beitrag zu Europa und zu den Beziehungen zwischen Ländern in West und Ost genutzt werden. Dabei können selbst die Elemente, die in der Zeit der Spaltung Europas von den kommunistischen Führungen verworfen oder zur Polarisierung, zum Aufbau von Feindbildern genutzt wurden, neu gesehen werden. In vielen Fällen lassen sich daraus sogar Wege zu den Nachbarn, lassen sich Brücken bauen.
Was für ein Durchbruch damit erreicht ist, wird greifbar, wenn man sich daran erinnert, wie es in der Zeit des Kalten Krieges und auch in der Phase der Entspannungspolitik um Geschichte und kulturelle Traditionen bestellt war. Zwischen Westeuropa und Osteuropa, in einer breiten geographischen Übergangszone, gab es bis ins 20. Jahrhundert nicht nur Kontakte zwischen Staaten und abgegrenzten sprachlichen, religiösen, kulturellen, regionalen und sozialen Gruppen. Weithin bestimmend war ein dichtes Gemenge der verschiedenen Zuordnungen. Durch die Verschiebungen und durch die Vernichtungen von Völkern und sozialen Gruppen in der Zeit des Krieges waren zwar die alte Ordnung, das ganz und gar nicht immer und überall spannungsfreie Nebeneinander wie die Vielfalt zerstört und nicht wiederherstellbar. Geblieben waren bei Kriegsende aber nur scheinbar leere Räume. Regionen und Gemeinden - ob sie dauerhaft frei blieben oder neu besiedelt wurden - warteten darauf, unter den neuen Verhältnissen angenommen, ernst genommen zu werden.
Hingegen lag den sowjetisch bestimmten Regimen im Osten in den fünfundvierzig Jahren ihrer Existenz alles daran, zu verhindern, dass räumliche und kulturelle Zusammenhänge, wie sie vor 1939 - 1945 bestanden hatten, wieder aufgegriffen werden konnten. Hier wurden Grenzen gezogen, gegenüber den Nachbarn und erst recht gegenüber der Vergangenheit. Pauschal wurde alles mit dem Vorwurf des Revanchismus oder der Kriegshetze belegt, was in irgendeiner Weise auf Intensivierung der Beziehungen über die politischen Trennlinien zwischen West und Ost hinweg und vor allem nach Deutschland hätte hinauslaufen können. Der politischen Gleichschaltung in den sozialistischen Staaten entsprach die Trennung zwischen den Staaten und die damit bewirkte jeweilige Selbstisolierung.
Am extremsten wurde dies im sowjetisch gewordenen Nord-Ostpreußen durchgesetzt: Zur räumlichen Abtrennung des Gebiets von seiner natürlichen Umgebung kam die radikale Abtrennung von seiner Geschichte. Mit der Fiktion eines völligen Neubeginns wurde nach der Vertreibung der deutschen Bewohner die Auslöschung auch aller früheren Namen und der Kultur begründet. Im polnisch gewordenen Ostdeutschland wurde mit dem Argument der Rückkehr zu den angeblich ursprünglichen Verhältnissen ein selektives Aufgreifen der in den "wiedergewonnenen Gebieten" angetroffenen kulturellen Substanz verbunden. Die Relikte des Früheren hatten dann eine Chance, bewahrt zu bleiben, wenn sie entweder progressiv oder national umsigniert, umgedeutet werden konnten - Friedhöfe etwa waren in der Regel nicht schutzwürdig.
Welcher tief greifende Wandel mithin inzwischen eingetreten ist, liegt auf der Hand. Er hat eine lange Vorgeschichte, die bis weit in die sechziger Jahre zurückreicht zu den ersten Versöhnungsgesten von polnischer und deutscher Seite. In der Zeit der Entspannungspolitik wurden die Verbindungen enger, aber sie waren geprägt durch staatliche oder parteiliche Gängelungen. Im Osten blieben die Gegner oder Kritiker der sozialistischen Regime und diejenigen, die in die Bevölkerungsverschiebungen hineingekommen waren, davon ebenso ausgeschlossen wie in Deutschland die Masse derjenigen, die ihre Heimat im Osten verloren hatten. In der DDR wurde die Politik der Unterdrückung und des Verschweigens der früheren kulturellen Bindungen von Deutschen in die Nachbarländer mit ihren neuen Grenzen konsequent mitgetragen, während es in der freien Gesellschaft im Westen Deutschlands verschiedene, z. T. konträre Positionen gab.
Mit dem wachsenden Abstand zum Krieg wuchs der Einfluss derjenigen Gruppen, die einen grundsätzlichen Neuanfang gegenüber dem Osten suchten und es daher für notwendig hielten, alles Frühere zu vergessen, da es so oder so belastet sei. Dagegen standen die eher Konservativen, die aus vielen Gründen diesen Schritt nicht gehen wollten oder konnten. Bis heute wirkt die starke Polarisierung in Deutschland nach. Dies wird etwa deutlich in dem in Deutschland verbreiteten Unverständnis gegenüber den neueren Tendenzen in den östlichen Nachbarländern Deutschlands. Dazu gehört unter anderem die inzwischen in Polen verbreitete, wenngleich nicht unumstrittene Bereitschaft zu einer offenen Auseinandersetzung mit der eigenen "deutschen Vergangenheit" - und gerade auch mit denjenigen Aspekten, die gemeinsame, sich überschneidende und oft konkurrierende Interessen betreffen.
Die damit verbundenen Fragen gehören in den großen Zusammenhang der kulturellen Kontakte und Beziehungen, wie sie im vergangenen Jahrzehnt möglich geworden und von vielen Institutionen und Personen, von staatlichen und nichtstaatlichen Einrichtungen eröffnet worden sind. Darauf auch nur annähernd umfassend einzugehen ist hier nicht beabsichtigt. Hier soll auf den oft über!sehenen oder bewusst ignorierten Bereich hingewiesen werden, in dem es um diese Überschneidungen, die Schnittstellen geht: um gemeinsame Geschichte oder um gemeinsame Orte, die in der Vergangenheit mit schweren Auseinandersetzungen, mit tiefen Verletzungen, aber auch mit früher erlebten oder heute erfahrenen positiven, Verbindung stiftenden Erinnerungen im Zusammenhang stehen. Der Raum für ein neues Umgehen und Aufeinanderzugehen ist durch das Zusammenwachsen im westlichen Europa geschaffen, buchstäblich gesichert worden, wie Bartoszewski in seinem zitierten Aufsatz dargelegt hat. Ohne Europa wäre diese Offenheit nicht erreichbar geworden.
III. Abschnitt
Die Partnerschaft zu Polen, die Partnerschaften zu den baltischen Republiken sind inzwischen "Selbstläufer". Sie sparen keinen Bereich aus. Im Sinne einer Rückkehr kommen die beteiligten Seiten auf alle Zeiten, auf alle Themen, auf Orte ebenso wie auf Personen zurück, die lange vornehmlich Streitpunkte waren, die zum Zeichen der Abgrenzung vom anderen genommen worden waren. Im Vertrauen darauf, dass inzwischen eine Basis für ein gegenseitiges Verständnis und gemeinsames Handeln gelegt ist, dass Offenheit nicht ausgenutzt wird, sieht man hier Anknüpfungspunkte, Verbindungsstücke.
Dabei stellt sich heraus, dass die Geschichte einen fast unerschöpflichen Fundus bietet, aus dem man sich bedienen kann. Nicht alle hier aufgegriffenen Fäden sind haltbar, ebensowenig sind alle Initiativen solide begründet oder können vor einem ernsthafteren Anspruch bestehen. Oft ist es reine Not, die Anlass dazu gibt, verborgene, abgesunkene Zeugnisse früherer nachbarschaftlicher Verbindungen oder einer an Ort und Stelle nicht mehr vorhandenen Kultur wieder zu entdecken und anzubieten: Wenn deutschen Touristen im Kaliningrader Gebiet Souvenirs angeboten werden, die man aus Gräbern und aus Häusern zusammengesucht hat, oder Erkennungsmarken aus Kriegsgräbern, dann geht es um kleine Geschäftemacherei, für manchen aber auch ums Überleben. Der Verkauf von Ansteckern mit den alten ostpreußischen Städtewappen und auch das Zitieren der früheren deutschen Ortsnamen zielt mehr auf die zahlungskräftigen deutschen Touristen als auf die heutigen Bewohner des russischen Gebiets um Königsberg, Gumbinnen und Tilsit. Doch auch in dieser Region der Russischen Föderation werden die Bezüge zur deutschen Vergangenheit gerade bei Intellektuellen ernsthaft gesucht, ohne dass erkennbar wäre, dass die russische Zentrale für die regionale Rückbesinnung auf die historische Zugehörigkeit zur Mitte Europas irgendein Verständnis hätte.
Die gemeinsamen deutsch-russischen Initiativen zur Sicherung und Wiederherstellung von Kirchen und Gebäuden in Nord-Ostpreußen, das Bemühen um Rückführung in diesem Teil Ostpreußens einmal vorhandener Sammlungen, die Verbindungen der heute im Kaliningrader Gebiet existierenden Gemeinden zu den Traditionsvereinigungen ostpreußischer Heimatkreise in der Bundesrepublik sind meist bestimmt von beidem: der sozialen Not und der Hoffnung auf Unterstützung, aber bei einer westlich geprägten oder aufgeschlossenen Intelligenz auch von der Erwartung, Anerkennung zu erfahren und kulturell als Partner akzeptiert zu werden. Hier, in gewisser Hinsicht in einem Niemandsland zwischen der Europäischen Union und den EU-Beitrittskandidaten, steht man erst ganz am Anfang einer Entwicklung, wie sie in den benachbarten Ländern schon in der Endzeit der Sowjetunion begonnen hat.
Erkennbar ist am Umgang von Bewohnern des Kaliningrader Gebiets mit ihrer Region und mit dem, was an deutschen kulturellen Bezügen darin noch aufzufinden ist, dass kulturelles Erbe vielgestaltig und vieldeutig ist. Es lässt sich entsprechend auf mannigfache Weise aufgreifen. Ein Name, ein Ortswappen kann eben nur das meinen, kann aber auch mit weiter gehenden Vorstellungen verknüpft werden, kann geradezu bekenntnishaft gemeint oder verstanden werden.
Was in Nord-Ostpreußen ein Kokettieren mit meist unverstandenen Symbolen ist, ist in Estland weit mehr. Wenn der estnische Staatspräsident einen "Marienlandorden" stiftet, dann verbindet er damit das Bekenntnis des heutigen Estland zu einem Teil seiner Geschichte: Marienland - das war der Name, den die deutschen Missionare und Eroberer im 13. Jahrhundert dem Land der Liven gegeben hatten. In der Sowjetzeit wurde dieser Teil der Geschichte Estlands und Lettlands in schwärzesten Farben geschildert, da das feudale System der Deutschen die "brüderlichen" Verbindungen zwischen den Völkern des Baltikums und den Russen gewaltsam unterdrückt habe. "Marienland-Orden" verweist auf ein positives Verständnis dieser Zeit und ein Bekenntnis zu ihren Wirkungen in der Gegenwart: Estland ist als Marienland ein Teil des Westens geworden und bekennt sich dazu.
Eine Fülle von Verbindungen und eine breite Zusammenarbeit kennzeichnen inzwischen die Beziehungen zwischen den drei baltischen Ländern und Deutschland. Gemeinden, Kirchen, Schulen - überall ist auf dem Boden der alten Gemeinsamkeiten Neues entstanden. Deutsche aus Estland und Lettland sowie Angehörige des baltischen Exils im Westen haben sich als die ersten Brückenbauer und Partner dafür eingesetzt.
IV. Abschnitt
Am weitesten gediehen sind inzwischen die kulturellen Verbindungen zwischen Deutschland und Polen. Hier sind inzwischen alle nur denkbaren Bereiche einbezogen. Dass die wirtschaftlichen Kontakte immer enger werden und Deutschland der wichtigste Handelspartner geworden ist, sei hier nur am Rande vermerkt. Soziales Engagement von deutscher Seite ist in vielen Facetten persönlichen oder gemeinschaftlichen Einsatzes anzutreffen. Enge Beziehungen gibt es von Deutschland zu den Vertretern der deutschen Minderheit. Soweit es um offizielle Kontakte geht, laufen sie nicht an den polnischen staatlichen Stellen vorbei, sondern beziehen diese ein. Jeder Gedanke an eine "fünfte Kolonne", die aus der deutschen Minderheit rekrutiert und wie in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zum Instrument einer antipolnischen Politik Deutschlands gemacht werden könnte, sollte von vornherein als absurd erkennbar sein.
Seit dem Beginn der Verwaltungsreform in Polen mit der Schaffung neuer großer Wojewodschaften - durchweg auf der Grundlage früherer historischer Einheiten -, seit der Dezentralisierung und der Übertragung wichtiger regionaler und lokaler Verwaltungsaufgaben an Organe der Selbstverwaltung auf der Ebene von Gemeinden, Kreisen und eben Wojewodschaften sind die Vertreter der deutschen Minderheit zusätzlich in die örtlichen Organe eingebunden und können bei der Ausgestaltung des örtlichen Lebens das ihnen jeweils zukommende gesellschaftliche Gewicht zur Geltung bringen.
Interessanterweise ist mit der breiten Demokratisierung in Polen und mit der gestärkten Verantwortung der Selbstverwaltung im ganzen Land das Interesse an deutschen kulturellen Traditionen sowie an der Aufnahme von kulturellen Verbindungen zu Deutschland gewachsen. Zwar sind die sechzehn neuen Wojewodschaften mit den sechzehn deutschen Ländern nur eingeschränkt zu vergleichen. Sie sind nicht wie diese in Teilen souverän. Den Spitzen der Selbstverwaltung, den Marschällen, stehen starke Wojewoden als Repräsentanten und Aufsichtsorgane Warschaus gegenüber. Gleichwohl haben die neuen Selbstverwaltungsorgane die ihnen eingeräumten neuen Kompetenzen von Beginn an intensiv genutzt und dabei der engen Zusammenarbeit mit Ländern, Kreisen und Gemeinden in Deutschland hohe Priorität eingeräumt. Oft ist es die polnische Seite, welche die Initiative ergreift. In vielen Fällen erfolgte die Anknüpfung nicht zufällig, sondern folgte dem Weg, den die früheren deutschen Bewohner in Ostdeutschland bei der Flucht oder Vertreibung 1945 gegangen waren: Vertreter der Heimatkreisvereine in der Bundesrepublik erschienen polnischen Kommunen in vielen Fällen als die geeignetsten, weil am ehesten zu interessierenden Ansprechpartner.
Schon lange besuchten diese - in Polen (aber auch in Deutschland) als "Heimwehtouristen" zunächst belächelt oder misstrauisch betrachtet - ihre früheren Wohnorte und suchten diese bald auch regelmäßig auf. Manche engagierten sich in sozialen Fragen, sie unterstützten Renovierungen und das Anbringen von Gedenktafeln in ihren früheren Heimatorten, sie vermittelten in vielen Fällen aber Kontakte nach Deutschland auch über ihren engeren Mitgliederkreis hinaus. Die Patenschaftsgemeinden oder -kreise wurden einbezogen, und schließlich kam es in zahlreichen Fällen zu festen Vereinbarungen mit deutschen Kommunen. Dies gelang nicht immer. Dort, wo in der Endphase des Sozialismus in Polen staatlich abgesegnete Partnerschaften mit deutschen Orten entstanden waren, entwickelte sich durchaus eine Zweigleisigkeit: Kontakte zu einer deutschen Kommune auf der einen Seite und Verbindungen zu den früheren deutschen Bewohnern auf der anderen Seite.
Wer sich die Mühe macht, die Lokalteile der deutschen Regional- und Kreiszeitungen durchzusehen, und wer die regelmäßig erscheinenden Mitteilungsblätter der verschiedenen ostdeutschen Heimatkreisvereinigungen verfolgt, kann eine Vorstellung von der vielschichtigen Arbeit gewinnen, die hier geleistet wird. Bemerkenswerter noch ist die große Resonanz, welche die gemeinsamen Bemühungen von früheren und heutigen Bewohnern in der polnischen Presse finden - auch die offiziellen Anerkennungen, die von polnischer Seite den Promotoren dieser Kontakte ausgesprochen werden. Ausgangspunkt dieser Kontakte ist die gemeinsame Bindung an eine Gemeinde, an einen Kreis. Frühere und heutige Bewohner sind diesen Orten gleicherweise verbunden und freuen sich, jetzt zusammen etwas dafür zu tun. Dazu treten Personen, die "mitgenommen" werden, Angehörige der deutschen Kommunalverwaltungen, von Vereinen und Verbänden, Repräsentanten aus der "deutschen Provinz", die aufgeschlossen sind und nun die deutsch-polnischen Beziehungen auf unterster, auf lokaler Ebene gestalten. Ohne Anleitung von oben, ohne finanzielle Zuschüsse, aus eigenen Mitteln oder mit Unterstützung ihrer Gemeinden organisieren sie die kulturellen Kontakte im engeren Sinne: den Austausch von Chören und Tanzgruppen, von Schülern und Jugendlichen, von Künstlern oder den Erfahrungsaustausch über Probleme der Verwaltung und der umfassenden Gemeindeentwicklung - bis hin zu Fragen und gemeinsamen Vorhaben bei der Schulung von angehenden Landwirten, beim Bau von Kläranlagen oder der Entwicklung der sonstigen kommunalen Infrastruktur. Die beteiligten deutschen und polnischen Gemeinden stärken sich gegenseitig und fördern ihr Selbstbewusstsein. Auch wirtschaftliche Belange werden berücksichtigt. In Nordostniedersachsen gibt es gegenwärtig dreißig derartige kommunale Partnerschaften mit Polen, die Tendenz ist steigend; die meisten der polnischen Kommunen liegen im heutigen Nordwest-Polen, im Dreieck zwischen Stettin, Danzig und Posen sowie in Süd-Ostpreußen.
Die kulturellen Bezüge und die menschlichen Verbindungen, die sich sowohl aus der historischen Verpflichtung wie aus der gegenwärtigen gemeinsamen Loyalität gegenüber Orten und Regionen ergeben, sind somit weitaus mehr als sentimentale Klammern. Sie haben eine Grundlage geschaffen, auf der gerade kleinere, überschaubare Gesellschaften in Dörfern oder in Städten im ländlichen Umfeld sich begegnen und austauschen - sie arbeiten miteinander an der Ausgestaltung zweier europaweit tragender Elemente: der Bürgergesellschaft und der Region als Lebensmittelpunkt.
V. Abschnitt
Auch für Personen, die mit den Landschaften und den Menschen östlich der Bundesrepublik nicht vertraut sind, eröffnet sich immer häufiger ein Blick auf die inzwischen erreichten Fortschritte, wenn sie Stadtführungen in früheren deutschen Orten folgen oder wenn sie neueste polnische Publikationen über Schlesien oder Breslau lesen. Das, was sich gegenwärtig auf der politischen Ebene, in der historischen Forschung oder in der Literatur beobachten lässt, nämlich die enge Zusammenarbeit bei deutsch-polnischen Themen, bleibt nicht nur oberflächlich. Mit Blick auf die Begegnung und gemeinsame Aktivitäten, von Deutschen mit den Polen in ihren früheren Heimatorten sowie auf die z. T. durch diese initiierten kommunalen Partnerschaften ist Bartoszewski zu korrigieren, der meint: "Die Verständigung der Völker hinkt leider immer noch hinter der Aussöhnung der Eliten unserer beiden Länder hinterher."
Die Realität ist gewiss nicht befriedigend - nicht überall werden die guten Beispiele aufgegriffen und nachgeahmt. Bei weitem nicht alle Personen und Institutionen, die hier mitwirken könnten, lassen sich einbeziehen. Aber die Ausstrahlung der Partnerschaften und deren Wirkung in den lokalen Gesellschaften sind weit nachhaltiger als die mancher anspruchsvollen Unternehmungen. Man denke nur an die verdienstvolle Edition polnischer Literatur in der "Polnischen Bibliothek", die größte Beachtung verdient, aber kaum dazu beiträgt, das Bild des polnischen Nachbarn für eine breitere Öffentlichkeit zu erschließen. Ganz anders die gesellschaftlichen Kontakte von Gemeinden und Städten, die über Schulen und Jugendgruppen auch die nachwachsenden Generationen in Polen und in Deutschland erreichen.
Realität ist allerdings eher, dass die Intelligenz in Deutschland über die oft etwas "heimattümelnd" daher kommenden kommunalen Partnerschaften hinwegsieht, weil sie glaubt, ein besseres Rezept in der Hand zu haben. Nichts spricht auch gegen wissenschaftliche zwischenstaatliche Initiativen wie das Deutsche Historische Institut in Warschau, schon gar nichts gegen das deutsch-polnische Jugendwerk. Mittel des Jugendwerks haben gerade kommunale Vorhaben mit Schülern und Jugendlichen regelmäßig vorangebracht. Die soeben veröffentlichten Zahlen sprechen für sich: Das Jugendwerk hat in den letzten zehn Jahren mehr als 750 000 Jugendliche aus Deutschland und Polen in Austauschprogramme einbezogen, allein 130 000 im Jahr 2000.
Aber die Planer auf Bundesebene sind in der Gefahr zu übersehen, was die Gesellschaft auf der unteren Ebene auch ohne staatlichen Auftrag macht. Die polnische Seite weiß mit diesen Zusammenhängen besser umzugehen - vielleicht, weil sie unbefangener und neugieriger ist als so mancher auf der deutschen Seite. Vor allem hat sie begriffen, dass hier eine einmalige Chance besteht, die eigene polnische Gesellschaft mit EU-Europa und dem nächsten Nachbarn zusammenzubringen und so rascher anzuschließen an die Entwicklungen im Westen.
Ein wichtiger Mosaikstein in dem Gesamtbild von Europa und in der Selbstwahrnehmung polnischer Regionen ist die Kultur der früheren deutschen Bewohner oder - etwa in Großpolen und Pomerellen - Mitbewohner. Ihrer Unterstützung möchte man sich versichern. Verwiesen sei hier etwa auf Überlegungen in der Wojewodschaft Niederschlesien (Breslau), sich mit dem Kulturerbe ihrer Region umfassend auseinanderzusetzen und sie dazu in allen Bezügen kennenzulernen - also gerade auch die deutschen kulturellen Traditionen und Denkmäler des Gebiets zu erfassen. Davon erwartet man sich zugleich eine Befestigung der eigenen Identität. Bei der Bestimmung des Profils der Wojewodschaft ist neben vielen harten wirtschaftlichen Tatsachen auch dieses ein Faktor. Dabei kommt gewiss ebenso wie bei den Profilierungsbemühungen polnischer Kommunen zum Tragen, dass sie die Wirklichkeit und ihre Aufgaben weniger fraktioniert sehen, als es wohl in Deutschland üblich ist. Wenn es kulturelle Beziehungen, wenn es gesellschaftliche Verbindungen gibt, so die Vorstellung in Polen, wird auch die lokale Wirtschaft davon profitieren.
Es ist in der Tat so, dass in den letzten Jahren vieles nachgeholt wurde, was schon viel früher hätte beginnen sollen. In der Zeit der Spaltung Europas war das allerdings nicht möglich, was heute zwischen den Angehörigen der beiden Nachbarvölker stattfindet. Vielleicht hätte es angesichts der Kriegs- und der Vertreibungsproblematik auch unter freieren Verhältnissen so lange gedauert, bis nach solchen Katastrophen Menschen in dieser Weise wieder aufeinander zugegangen wären. Gewiss bedurfte es zudem auch erst der Erfahrungen mit den Partnerschaften im Westen, damit das Modell kommunaler Begegnungen auch im Osten praktizierbar wurde. Jedoch bleibt es beeindruckend, wie nun Chancen gesehen und wahrgenommen werden, Versäumtes nachzuholen und sich gegenseitig zu unterstützen. Den heutigen Bewohnern kann es helfen, sich in ihrer lokalen und regionalen Vergangenheit einzurichten und sich damit fester einzubinden in das sich immer stärker in seinen Regionen manifestierende Europa.
VI. Abschnitt
Am Anfang dieses Beitrags wurden unverändert bestehende Besorgnisse etwa Frankreichs gegenüber Deutschland erwähnt. Angesichts des durch Europa gesetzten Rahmens zwischenstaatlicher Beziehungen sind sie unnötig. Damit werden aber nicht nur die alten Konfliktanlässe eingehegt und aufgelöst. Darüber hinaus wird auch ein neuartiges Miteinanderumgehen möglich. So werden Strukturen aufgebaut, die Europa benötigt: starke bürgerliche Gesellschaften, die in profilierten und kooperationsoffenen Regionen verankert sind und so ihren Beitrag zur nationalen und internationalen Entwicklung leisten.
Kulturelle Brücken werden gesucht, beschritten, verbreitert - die Fundamente sind in diesem Teil Europas historisch gewachsen, wenn auch immer wieder mit Konflikten verbunden. Sie sind dort am stabilsten, wo die Beteiligten persönlich wie als Gruppe davon berührt worden sind - wie etwa die Vertriebenen in Deutschland oder diejenigen in Polen, die nach dem Krieg in den "wiedergewonnenen Gebieten" neu angesiedelt wurden. Es ist kein Zufall, wenn unter denen, die sich heute in polnischen Wojewodschaften und Gemeinden für einen unbefangenen Umgang mit der regionalen deutschen Vergangenheit einsetzen, gerade Vertreter der Generation stark vertreten sind, die in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre in der für ihre Familien neuen, fremden Umgebung geboren wurden. Ihre familiäre Herkunft kennen sie nur durch die Erzählungen ihrer Eltern. Ihr eigentliches Thema ist die zunächst fremde Umwelt, in der sie herangewachsen und groß geworden sind. Deren Kultur wollen sie sich verstärkt aneignen, um damit umgehen zu können. In gewisser Hinsicht lässt sich dieses sehr bewusste Eingehen auf die gesamte Kultur ihrer Region in Verbindung bringen mit europäischen und zwischenstaatlichen Programmen, die Schüler oder Auszubildende in das jeweils andere Land vermitteln, damit sie eine Nähe zur bisherigen Fremde entwickeln lernen.
Die Wissenschaft, vor allem die historische Forschung leistet zu diesem neuartigen Umgang der Angehörigen zweier benachbarter Völker einen herausragenden Beitrag. Sie trägt Licht in die schwierigen, komplexen Zusammenhänge der jüngeren Geschichte und gibt Orientierungen in strittigen Fragen. Verwiesen sei hier auf das auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellte deutsch-polnische Gemeinschaftsprojekt eines Grundlagenwerks zur Geschichte der Vertreibung von Deutschen oder auf die polnische Veröffentlichung "Der Vertreibungskomplex", die Ergebnisse der Forschung und der wissenschaftlichen Diskussion zum Thema Vertreibung in Polen erstmals zusammenfasste
Es ist die Unbefangenheit der Jungen, es ist das Vertrauen der nach Europa schauenden Demokraten in Polen, die jetzt die besonderen persönlichen Brücken nach Deutschland suchen und beschreiten. Ein gelungenes Beispiel, wie auf die Brückenbauer an der Basis, in den Regionen, und zugleich auf die in Polen und Deutschland meinungsbildend wirkenden Persönlichkeiten eingegangen werden kann, ist der Schlesienpreis. Er wird heute von Niedersachsen und Niederschlesien gemeinsam an Schlesier verliehen - unabhängig davon, wo sie heute ihren Lebensmittelpunkt haben. Das alles verdient eigentlich größte öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung. Gerade wenn man verfolgt, wie wenig auf ähnlichem Gebiet im Verhältnis zu Russland geschieht, wird klar, wie viel hier geleistet wird und welche Fortschritte die Überzeugung von einem gemeinsamen Europa möglich macht - aber auch, was persönliche Betroffenheit wie Aufgeschlossenheit zwischen den Angehörigen jahrhundertelang in einem Spannungsverhältnis benachbarter Völker bewirken kann.
Die Politik Deutschlands und Polens ist - auch ohne unmittelbares Zutun der Regierungen - breit fundiert. Wo lange befürchtet wurde, dass die Konflikte der Vergangenheit letztlich weiterhin das Feld beherrschen oder doch zumindest negativ beeinflussen würden, ist eine offene Situation entstanden, in der auch fortbestehende Spannungsmomente sich einvernehmlich regeln lassen.
Kultur und Tradition, die im Verhältnis zwischen Deutschland und Polen, zwischen Deutschland und dem Baltikum - vielleicht eines Tages verstärkt auch mit dem russischen Ostpreußen - als tragende Elemente wahrgenommen werden, sind allerdings fragile Gebilde. Sie müssen von allen Beteiligten behutsam behandelt werden.