Einleitung
Wer sich auf den "Dritten" Weg begibt, ist auf der Suche nach einer politischen und gesellschaftlichen Alternative in einer bereits polarisierten Welt der Argumente und Ideen. Der Vorschlag und der Gegenvorschlag sind bereits gemacht, und beide wurden verworfen. Es muss noch ein Drittes geben, so die Vermutung des Suchenden. Meist ist damit eine "gemäßigte Version", eine nichtideologische Alternative gemeint, eher selten schlicht der Ausstieg aus der Politik.
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"Alles ist richtig, auch das Gegenteil. Nur: ,Zwar . . . aber', das ist nie richtig",
notierte Kurt Tucholsky 1930. Das "Zwar-aber" ist das Rechtgeben nach beiden Seiten, das Ziehen von Lehren, das sich beliebig bei alternativen Ideologieangeboten bedient. Dritte Wege in der Politik biedern sich nicht auf diese Weise an, sie stecken aber in einem Dilemma. Sie sind nicht eigenständig. Sie brauchen die Folie des Versagens eines ersten und zweiten Weges, damit sie denjenigen Weg definieren können, der erfolgreich zwischen beiden hindurch führt.
Für die Argumente der Verfechter eines Dritten Weges hat dies mindestens drei Konsequenzen. Erstens, in der Regel stellen sie die Alternativen der alten Politik in einem besonders düsteren Licht dar, nicht nur, um die eigene Entscheidung möglichst vorteilhaft erscheinen zu lassen, sondern auch, um einen argumentativen Freiraum für die eigene Sichtweise der Dinge zu schaffen. Zweitens unterliegen sie dem Drang, den eigenen Argumentationsort als "politische Mitte" zu definieren, nicht zuletzt in der Annahme, dass - wie immer auch ihre eigenen Vorstellungen beschaffen sein mögen - der zentrale Ort jeglicher politischer Auseinandersetzung die imaginäre "Mitte" zu sein hat. Und drittens schließlich stellen die Verfechter eines Dritten Weges die von ihnen abgelehnten Alternativen unter Ideologieverdacht, von dem sie sich selbst flugs freisprechen.
Worum geht es bei dem Streit um Ideologiebesessenheit und Ideologievergessenheit in der Substanz? Grob gesprochen immer um das Verhältnis von Staat und Wirtschaft, das auch in Verbindung gebracht werden kann mit den Begriffspaaren Bevormundung/Diktatur und Freiheit/ Demokratie. Die soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhards als Dritter Weg zwischen "Kollektivismus" und "ungezügeltem Liberalismus", der Prager Frühling als Dritter Weg zwischen kommunistischer Diktatur und kapitalistischer Ausbeutergesellschaft oder der Dritte Weg der europäischen Sozialdemokratie in den neunziger Jahren zwischen keynesianischem Interventionismus und ungebremstem Kapitalismus sind alle auf diesen gemeinsamen Nenner zu bringen. Der dritte Weg soll den kalten Ideologien ein "menschliches Antlitz" verleihen und wirtschaftliche Effizienz gesellschaftsverträglich werden lassen. Amitai Etzioni, der Vordenker der Kommunitaristen, die ihre neue Gesellschaftlichkeit jenseits von Markt und Staat verorten, nennt als Ziel solchen Bemühens eine "faire Gesellschaft".
Aus historischem Blickwinkel ist es durchaus bemerkenswert, dass im Laufe der neueren Geschichte der Korridor für Strategien des Dritten Weges enger geworden ist. Statt der Großideologien Kommunismus und Kapitalismus bilden heute nur noch Varianten der Marktwirtschaft: der Keynesianismus auf der einen Seite und der Neoliberalismus auf der anderen, die Folie für die "Feindbilder", von denen sich die Verfechter des Dritten Weges abgrenzen. Der Kommunismus als realpolitische Alternative ist entfallen. Ein Dritter Weg muss heute durch Ausdifferenzierung des Kapitalismus in zwei Extreme konstruiert werden.
Der französische Finanzexperte Michel Albert hat diesem Bemühen das Begriffspaar "rheinischer" und "angelsächsischer" Kapitalismus vorgegeben. Der "rheinische Kapitalismus" ist in der realen Welt Kontinentaleuropas vor allem eine Chiffre für das Vertrauen in die auch ökonomisch begründbare wohlfahrtsstaatliche Überformung der Wirtschaft, die nicht zuletzt auf einem gesamtgesellschaftlichen Konsens beruht, der durch Entscheidungsverfahren der Partnerschaft sowohl in der Arbeitswelt als auch im Verhältnis von Staat und Wirtschaft immer neue Nahrung findet. Der angelsächsische Kapitalismus, der nach Albert den USA und Großbritannien gleichermaßen gemein sein soll, rühmt sich stattdessen seiner Effizienz aus anderen Gründen. Er alleine habe die Wirtschaft aus den Fesseln staatlicher Bevormundung befreit und damit auch dem Bürger die Verantwortung für sein Leben und die Gestaltung seiner Zukunft zurückgegeben.
Für Verfechter des Dritten Weges müssen beide Sichtweisen zu optimistisch sein. Der "rheinische Kapitalismus" wird zum wirtschaftsfeindlichen Sozialexperiment und der "angelsächsische" zum Kasinokapitalismus. Erstaunlicherweise verhindert diese grundsätzliche Kritik nicht, dass die in der Diskussion verwendeten Begriffe notorisch wenig exakt definiert werden. Der "rheinische Kapitalismus" taucht in der deutschen Diskussion um einen "Dritten Weg" ebenso mit positiven Konnotationen versehen auf, zum Beispiel bei der SPD, wie der "angelsächsische Kapitalismus" in der britischen, zum Beispiel bei der Labour Party. Man wolle die Marktwirtschaft, so wurde von französischen und britischen Sozialisten immer wieder betont, aber keine "Marktgesellschaft". Gleichzeitig ging die Regierung von Tony Blair bei ihrem Amtsantritt davon aus, dass die Mechanismen des Marktes das Vorbild sein können für Anreizstrukturen, die das Verhalten der Bürger nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch beispielsweise im Bildungswesen oder in der Sozialpolitik optimieren und damit Großbritannien voranbringen. Ein Widerspruch?
Über Dritte Wege reden heißt in erster Linie, über politische Strategien zu reden. Für Verfechter des Dritten Weges geht es darum, sich in der politischen Öffentlichkeit mit einem eigenständigen Bild zu positionieren. Je weniger ideologisch der Kontext der politischen Alternativen ist, in dem dies geschieht, desto unideologischer fällt auch die Selbstdefinition Dritter Wege aus. Für Ludwig Erhard war die soziale Marktwirtschaft noch eine stark ideologisch aufgeladene Abgrenzung vom Sozialismus auf der einen Seite und der freien Marktwirtschaft auf der anderen. Sie bedeutete Handlungsfähigkeit in Freiheit in Abgrenzung gegenüber dem Kommunismus, und die Legitimation staatlicher Eingriffe in die gesellschaftliche Entwicklung in Abgrenzung zur Annahme der segensreichen Wirkung ungebremster Wirtschaftstätigkeit. Ludwig Erhard musste selbstverständlich in seinem politischen Handeln auch den Umständen seiner Zeit Rechnung tragen, aber er verortete sein Tun im Wertesystem der Ordnungspolitik.
Für die heutigen Verfechter von Dritten Wegen spielen Bezüge zu bestimmten wirtschaftspolitischen Philosophien, insbesondere solchen, die handlungsanleitend sind, nur noch eine marginale Rolle. Es ist heute nicht mehr denkbar, dass in der gleichen grundsätzlichen Art und Weise, wie Ludwig Erhard das im Falle seines Einsatzes für die Errichtung eines Kartellamtes tat, um die "Verfassung" der Wirtschaft gerungen wird. Für Verfechter des "Dritten Weges" geht es nur noch um die pragmatische Entscheidung, so viel Staat wie nötig, aber so viel Markt wie möglich zuzulassen.
Das klingt nach dem Godesberger Programm der SPD ("Wettbewerb so weit wie möglich - Planung so weit wie nötig!"), ist aber nicht so gemeint. Der entscheidende Unterschied zu Godesberg ist, dass in den sechziger Jahren der Staat bzw. die jeweilige Regierung glaubte, entscheiden zu können, wieviel Staat nötig ist. Heute meinen Sozialdemokraten dies nicht mehr zu wissen. Das Expertenwissen über das heute nötige Ausmaß wirtschaftlicher Freiheit wird woanders vermutet, nämlich bei der Wirtschaft. Statt einer "gemischtwirtschaftlichen" Perspektive ist das Erkennen der Erfordernisse des Marktes Programm. Staatliche Intervention steht unter Begründungszwang, während die Marktkräfte aus sozialdemokratischer Sicht nun zum Synonym für den "natürlichen" Lauf der Dinge geworden sind. Will der Staat diesen stören, bedarf es guter Gründe.
Politisch interveniert werden soll weiter, wenn es um die Bewahrung von Grundwerten gesellschaftlichen Zusammenlebens geht, wie Gerechtigkeit oder Solidarität. Auf Grundwerte ist das Ideologieangebot des Dritten Weges zusammengeschrumpft. Dies ist für politisches Handeln von Vorteil und Nachteil zugleich. Der Nachteil besteht darin, dass die Grenzen staatlicher Verantwortung mit Hinweis auf parteipolitische Orientierungen nicht mehr zu bestimmen sind. Vage Grundwerte sind nicht an sich strategiefähig. Sie können nur strategiefähig gemacht werden durch Anleihen aus der konkurrenzkapitalistischen und der wohlfahrtsstaatlichen Welt, also durch Hinwendung zu den vom Dritten Weg abgelehnten Alternativen.
Der strategische Vorteil der Reduktion des Gehaltes des "Dritten Weges" auf Grundwerte besteht darin, dass viele (beliebige) Strategien auf diese Grundwerte zurückgeführt werden können: die Unterstützung staatlicher Intervention zur Rettung eines in Not geratenen Wirtschaftsunternehmens (Begründungen: Solidarität, soziale Gerechtigkeit) beispielsweise ebenso wie die staatliche Zurückhaltung in diesem Fall aus Respekt vor den Effizienzkriterien des Marktes bzw. wegen der Anerkennung der Notwendigkeit einer Marktbereinigung. Der Staat kann von Marktversagen ausgehen und durch Vorschriften in die Umweltpolitik eingreifen, aber er kann ebenso daran glauben, dass marktwirtschaftliche Anreize, wie zum Beispiel Ökosteuern, die gewünschten Ergebnisse zeitigen. Ja er kann auch beides gleichzeitig tun und schadet noch immer nicht dem Grundwert der Förderung einer nachhaltigen Entwicklung der Gesellschaft.
Der Dritte Weg ist auf der Handlungsebene politischer Pragmatismus. Der britische Premierminister Tony Blair prägte das geflügelte Wort: Man erkenne richtige Politik daran, dass sie funktioniere. So einleuchtend dies klingt, so eindeutig sind auch die offenen Fragen: Wer beurteilt das Funktionieren? Wem nützt eine solche Politik? Der Verdacht liegt nahe, dass sie in erster Linie der Regierung nützt, die wieder gewählt werden will. Und Schiedsrichter sind vor allem die Meinungsforschungsinstitute, welche die Urteile des Volkes schnellstmöglich transportieren sollen.
Die Versuchung für Regierungen ist groß, dass sie gar nicht erst handeln, wenn der demoskopisch belegbare Nutzen einer Politik nicht evident ist. Im britischen Falle ist eindeutig nachgewiesen, dass es sich dabei nicht um eine Versuchung, sondern um das tägliche politische Geschäft handelt. Solcherart "pragmatisches" Regieren bedeutet in hohem Maße den Verzicht auf gesamtgesellschaftliche Gestaltung und unpopuläres Entscheiden aus grundsätzlichen oder auf die Zukunft gerichteteten Erwägungen. Ganz eindeutig ist eine solche Aussage aber auch nicht, denn Popularität ist keine feste Größe. Sie entsteht und vergeht in der öffentlichen Meinung. Sie wird vor allen Dingen geformt von den Medien.
Es erstaunt deshalb nicht, dass der Aufstieg von Parteien des Dritten Weges eng verbunden ist mit der Hochkonjunktur für Medienmanipulatoren, den so genannten "spin doctors", die auch schlechten Nachrichten noch einen positiven Dreh ("spin") verpassen können. Das Politikmarketing, das Dirigieren der Medien, die Kontrolle über die zentralen Themen des Nachrichtenmarktes und ihrer Repräsentation können Politik, die funktioniert, erzeugen, auch unabhängig von der Art und Weise der tatsächlichen Umsetzung von Politik, ja selbst dann, wenn diese nur angekündigt wurde. Was zählt, ist der Imagegewinn, bestenfalls zweitrangig sind die Effekte und schon gar die langfristigen eines gesellschaftlichen Reformvorhabens.
Demokratietheoretisch knüpft das neue Verständnis von erfolgreicher Politik nahtlos an Joseph A. Schumpeter an, der Demokratie als Methode begriff, aber nicht als Ziel von Politik. Ziel ist vielmehr die Auswahl des Führungspersonals. Ja - Schumpeter geht sogar so weit zu sagen, dass der Volkswille selbst Ergebnis dieses politischen Prozesses ist. Solange sie strategisch argumentieren, haben "Dritte Weg"-Parteien mit solchen Überzeugungen keine Probleme. Schwierig wird es aber, wenn sie sich als alternative Politikangebote für die Wähler einordnen müssen. Ein Minimum an programmatischer Identität ist entgegen Schumpeters Erwartungen auch heute noch erforderlich. Dieses sollen Grundwertekommissionen liefern, die sicherlich nicht bemüht werden, wenn es um Kabinettsentscheidungen geht, aber wertvoll werden, wenn die traditionelle Wählerschaft der eigenen Partei zu mobilisieren ist oder wenn nach einem Weg gesucht wird, Sinn in Sachzwänge zu bringen und Entscheidungen anders als der politische Gegner zu begründen.
Ganz so "unideologisch" kann also heute der Dritte Weg nicht gegangen werden, zumal beim genaueren Hinsehen in der Wirtschaftspolitik der Sozialdemokratie selbstverständlich der nationale Kontext des jeweiligen Landes nicht ignoriert werden kann. Mag Tony Blair auch noch so sehr die gewerkschaftliche Mitarbeit in der Wirtschafts- und Sozialpolitik ablehnen (und hier befindet er sich auf dem Boden des "angelsächsischen Kapitalismus"), für Bundeskanzler Schröder ist das "Bündnis für Arbeit" ein wichtiges Instrument seiner Politik (er bewegt sich damit in der korporatistischen Tradition des "rheinischen Kapitalismus").
Je länger "Dritte Weg"-Parteien regieren, desto deutlicher scheint zu werden, dass die Frage nicht lautet, ob es zwischen "rheinischem" und "angelsächsischem" Kapitalismus einen "Dritten Weg" gibt, sondern ob, angesichts der Herausforderungen der Globalisierung, tatsächlich alle Regierungen dieser Welt die gleichen Antworten auf gesellschaftliche Probleme geben müssen (vermutlich die "angelsächsischen") oder ob auf irgendeine Weise Raum für Alternativen bleibt. Wie diese heißen könnten, wissen wir: Viel ist beispielsweise von der "Bürgergesellschaft" die Rede, offen bleibt aber, ob diese eine Restgröße sein soll, die sich um die Scherben der Globalisierung kümmert, oder der Kern eines neuen Gesellschaftsentwurfs, der nichtökonomische Prioritäten auch gegen wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Logik durchsetzen kann. Nicht unbedingt für den "Dritten Weg", aber für sein Etikett sieht es heute schlecht aus: In den USA ist mit dem Ende der Amtszeit Bill Clintons ein prominenter Verfechter dieses Konzeptes aus dem Amt geschieden, in Deutschland ist der Schulterschluss mit der britischen Debatte, die das Schröder-Blair-Papier signalisierte, weitgehend folgenlos geblieben, und selbst in Großbritannien ist das Schlagwort trotz bevorstehender Wahlen weitgehend in Vergessenheit geraten.