I. Die Sinn- und Rechtfertigungskrise der Entwicklungspolitik
Das Nord-Süd-Problem ist zum weltpolitischen Randproblem und die Entwicklungspolitik zum politischen Stiefkind geworden. Auch die Entdeckung "neuer Bedrohungen" aus dem Süden - sei es die "B-Bombe" (Bevölkerungswachstum), der Migrationsdruck, die armutsbedingte Umweltzerstörung mit globalen Auswirkungen, die Ausbreitung von anarchischen Tendenzen oder der von Samuel P. Huntington angedrohte "Kampf der Kulturen" - konnte die Regierungen und Parlamente fast aller OECD-Staaten nicht von massiven Kürzungen der Entwicklungsetats abhalten. Entwicklungspolitiker aller Länder und aller Parteien - und es sind immer weniger, die sich für einen Politikbereich engagieren, mit dem man keine Wahlen gewinnen kann - tun sich schwer, ihr "exotisches" Engagement oder gar ein Eintreten für mehr Entwicklungshilfe noch zu rechtfertigen.
Die Entwicklungspolitik steckt in einer tiefen Sinn- und Rechtfertigungskrise, obwohl sich die Weltprobleme, zu deren Entschärfung oder gar Lösung sie beitragen soll, verschärft haben. Es scheint fast so, als könnten nur noch die Nutznießer des "Entwicklungsgeschäftes", die "Hilfsindustrie" aus Verwaltern, Experten, Consultants, Gutachtern und Auftragnehmern, dem Unternehmen Entwicklungshilfe etwas Gutes und Sinnvolles abgewinnen. Auch viele "Entwicklungshelfer" kommen als frustrierte Zyniker von ihren Einsätzen in fernen Entwicklungsländern zurück. Eine Untersuchung der christlichen Dritte-Welt-Gruppen förderte auch dort eine massive Kritik an der staatlichen Entwicklungspolitik zutage, wo ein großes und vor allem moralisch begründetes Engagement für internationale Solidarität vorausgesetzt werden kann
Seitdem sich das Bedrohungsszenario des Kalten Krieges verflüchtigt hat, verlor die Entwicklungspolitik auch für Außen- und Sicherheitspolitiker ihre geostrategische Bedeutung. Der Versuch von Entwicklungspolitikern, sie als "präventive Sicherheitspolitik" gegen nicht-militärische Gefährdungen aus der Peripherie der Weltpolitik aufzuwerten und in ein Konzept der "erweiterten Sicherheit" einzubinden, schlug sich nicht in der Mittelzuweisung nieder. Der deutsche Finanzminister konnte massive Kürzungen des BMZ-Haushalts in der mittelfristigen Finanzplanung wagen (obwohl der rot-grüne Koalitionsvertrag seine deutliche Steigerung vereinbart hatte), weil er weder aus dem Parlament noch aus der Wählerschaft wütende Proteste zu befürchten hatte. So war es auch in den USA, wo Präsident Clinton den Entwicklungsetat auf Restbestände zurückstutzte, und in den meisten anderen OECD-Ländern - mit der bemerkenswerten Ausnahme von Holland und den nordischen Staaten.
Kurzum: Die Entwicklungspolitik muss sich neuen Herausforderungen stellen und braucht einen Legitimationsschub, um eine Zukunft zu haben. Es ist die Kernthese dieses Beitrags, dass sie sich wieder aus der politischen Irrelevanzfalle befreien und gesellschaftliche Akzeptanz zurückgewinnen kann, wenn sie entschlossen anpackt, was die westliche Gebergemeinschaft seit Mitte der neunziger Jahre zu tun verspricht: einen wesentlichen Beitrag zur Halbierung der absoluten Armut bis zum Jahr 2015 zu leisten.
II. Wider Pauschalkritik und Gesundbeterei
Der Entwicklungspolitik, die ein Kind des Kalten Krieges war, kann ein langes Sündenregister angelastet werden. Vor allem nährte das Anwachsen der Armut, nicht nur in den Armutsregionen Afrika und Südasien, sondern auch in den statistischen "Ländern mit mittlerem Pro-Kopf-Einkommen", einen wachsenden "Hilfepessimismus": Warum noch helfen, wenn doch nichts hilft - aus welchen Gründen auch immer? All die amtlichen Erfolgsberichte konnten nicht verhindern, dass pauschale Bankrotterklärungen weit mehr Resonanz fanden. Zu Beginn der neunziger Jahre holte Ulrich Menzel erneut zu einem solch publizitätswirksamen Schlag aus: "Die Hilfe hilft nicht . . . Die bisherigen Konzepte sind sämtlich fehlgeschlagen."
Kann aber aus dem Versagen, überall auf der Welt das Armutsproblem zu lösen, und aus anderen lamentablen Erfahrungen, wie der Stabilisierung von repressiven und korrupten Regimen, die als politische Schachfiguren im Ost-West-Poker mit Entwicklungshilfe gefüttert wurden, schon die Schlussfolgerung gezogen werden, dass das milliardenschwere Unternehmen Entwicklungshilfe mehr geschadet als genützt hat?
Erstens liegt ein grundlegendes Problem der Debatte über Erfolge und Misserfolge der Entwicklungspolitik schon in der gehörigen Überschätzung ihrer Möglichkeiten, vor allem dann, wenn Entwicklungspolitik auf den engeren Bereich der Entwicklungshilfe verkürzt und nicht viel umfassender verstanden wird. Die internationale ODA (Official Development Assistance), die inzwischen niedriger als der Agrarhaushalt der EU ist, soll schwerwiegende Weltprobleme lösen: das Armutsproblem und mit ihm das Ernährungs-, Bevölkerungs- und Migrationsproblem, das globale Umweltproblem und noch viele andere Entwicklungsprobleme. Außerdem soll sie überall in der Dritten Welt die Demokratie und den Schutz der Menschenrechte fördern, als "präventive Sicherheitspolitik" friedensgefährdenden Verteilungskonflikten um die knapper werdenden Ressourcen vorbeugen und die OECD-Welt vor dem Überschwappen von Instabilität schützen. Sie soll also mit wenig Mitteln eine menschlichere, friedlichere und ökologisch zukunftsfähige Welt schaffen. Diese säkulare Herkulesaufgabe könnte auch eine in Quantität und Qualität "radikal verbesserte Entwicklungspolitik", wie sie der Politikprofessor Karl Kaiser fordert
Die allzu hohen Erwartungen und Anforderungen an die Entwicklungspolitik beruhten auch auf dem grundsätzlichen Irrtum, dass Entwicklung durch externe Impulse von Geld, Expertise und Personal herbeigeführt werden könne. Eigentlich hätten wir immer wissen müssen, dass Entwicklung von innen kommen muss und von außen allenfalls unterstützt werden kann. Isolierte Einzelprojekte, die nicht darauf abzielten, die inneren Potentiale, Motivationen und Institutionen zu stärken, gehören zur Misserfolgsgeschichte der "Projektitis". Alle Problemlösungen, die vorwiegend auf Nord-Süd-Transfers setzen, sind nicht zukunftsfähig, verwischen Verantwortlichkeiten und nehmen den Zielländern, was sie als "property" oder "ownership" beanspruchen: Eigenverantwortlichkeit, die Rechte und Pflichten einschließt. Heute wissen wir, dass ohne wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Strukturveränderungen in den allermeisten Entwicklungsländern und ohne Verhaltensänderungen ihrer Führungsgruppen externe Hilfe eher kontraproduktive Wirkungen haben kann.
Zweitens ignoriert die Pauschalkritik an der Entwicklungspolitik auch unbestreitbare Erfolge. Sie hat zumindest dazu beigetragen, dass die Lebenserwartung auch in den ärmsten Ländern von knapp 39 Jahren (1960) bis Ende der neunziger Jahre auf knapp 52 Jahre gesteigert und die Säuglingssterblichkeit in demselben Zeitraum von 170 auf 104 gesenkt wurde. Im Problemkontinent Subsahara-Afrika hat sich die Alphabetisierungsrate unter Erwachsenen zwischen 1970 und 1998 mehr als verdoppelt. Nach Daten der Weltbank ist auch die Zahl der "absolut Armen" mit einem Pro-Kopf-Einkommen von weniger als einem US-Dollar in den neunziger Jahren trotz des Bevölkerungswachstums, das in den ärmsten Ländern am höchsten ist, keineswegs dramatisch angestiegen, wie in Katastrophenszenarien häufig behauptet wird.
Obgleich schwer zu messen ist, welche Anteile dieser Erfolge auf dem Habenkonto der externen Hilfe verbucht werden können oder internen Anstrengungen zu verdanken sind, widersprechen sie doch der These, dass Entwicklungshilfe nichts bewirkt oder sogar mehr geschadet als genutzt habe. Hier wird vielmehr die These vertreten, dass sie mehr hätte bewirken können, wenn sie gezielter zur Armutsbekämpfung und zur Verbesserung der Entwicklungschancen eingesetzt worden wäre.
Es scheint so, dass die westliche Gebergemeinschaft nach der Entrümpelung der Hinterlassenschaften des Kalten Krieges erkannt hat, dass das Armutsproblem nicht nur das Schlüsselproblem der Nord-Süd-Beziehungen bildet, sondern an der Wurzel vieler globaler Risiken und Friedensgefährdungen liegt. Die in den neunziger Jahren von den Vereinten Nationen veranstalteten Weltkonferenzen haben das Wissen und Bewusstsein für die Zusammenhänge zwischen Armut, Bevölkerungswachstum, Migration, Umweltzerstörung und sozialen Konflikten geschärft
III. Visionen und Illusionen einer armutsfreien Welt
Der Kopenhagener Weltsozialgipfel vom März 1995 hatte den "Krieg gegen die Armut" ausgerufen. Die Teilnehmerstaaten bekannten sich durch ihre Unterschrift zu der folgenden "Verpflichtung 2", die freilich als Absichtserklärung keine völkerrechtliche Verbindlichkeit erhielt: "Wir verpflichten uns, das Ziel der Ausrottung von Armut in der Welt durch entschiedenes nationales Handeln und internationale Zusammenarbeit zu verfolgen." Der von UNDP, dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, vorgelegte "Bericht über die menschliche Entwicklung 1997" erklärte die völlige "Ausrottung der Armut überall auf der Welt" innerhalb von ein bis zwei Jahrzehnten nicht nur zu einem moralischen Imperativ, sondern auch zu einer durch Steigerung der internationalen Entwicklungshilfe finanzierbaren "praktischen Möglichkeit".
Die Zweifel an der "praktischen Möglichkeit", die Armut zu verringern oder gar auszurotten, beginnen allerdings schon beim Blick auf sinkende Entwicklungsetats. Diese Zweifel kann auch nicht eine Stimme ausräumen, die sich aus einem Land (Bangladesh), das häufig als Land der "Urarmut" und als hoffnungsloser Fall dargestellt wird, zu Wort meldete. Professor Muhammad Yunus, der Gründer der inzwischen berühmten Grameen Bank, sagte in seiner Dankesrede für einen vom "Club of Budapest" verliehenen Preis am 25. Juni 1997 in der Frankfurter Paulskirche: "Ich glaube sehr fest daran, dass wir eine Welt frei von Armut schaffen können, wenn wir es nur wollen. Wir können eine Welt schaffen, in der es kein einziges menschliches Wesen gibt, das als arm bezeichnet werden müsste. In solch einer Welt wäre das Museum der einzige Ort, wo man Armut noch sehen könnte."
Diese geradezu literarische Huldigung an das "Prinzip Hoffnung" liefert jedoch keine Antwort auf die Frage, wie die Armut in das Museum der Weltgeschichte verbannt werden soll. Die Antwort ist offensichtlich in einem Begriff von Armut zu suchen, der sich deutlich vom materiellen und durch die Höhe des Pro-Kopf-Einkommens definierten Armutsbegriff unterscheidet. Was Muhammad Yunus meint und durch seine Grameen Bank zu erreichen versucht, ist nicht Wohlstand, sondern ein gesellschaftlicher, kultureller und politischer Zustand, den man als "Kultur menschenwürdiger Armut" umschreiben könnte.
Auch die Hoffnung von UNDP, mit mehr Entwicklungshilfe - falls es sie geben sollte - eine armutsfreie Welt schaffen zu können, widerspricht allen Erfahrungen der Entwicklungspolitik. Es geht nicht allein um mehr Geld, das möglicherweise nur tröpfchenweise durch die Maschen der Korruption zu den Armutsgruppen durchsickert, sondern um grundlegende Struktur-, Politik- und Verhaltensänderungen. Es geht aber auch um einen gezielteren Einsatz der innerstaatlichen und internationalen Ressourcen zur Armutsbekämpfung.
IV. "Shaping the 21st Century": Fahrplan zur Halbierung der absoluten Armut
Angesichts der Größenordnung des Armutsproblems und des wachsenden Bevölkerungsdrucks gerade in den ärmsten Ländern mit ihren begrenzten Ressourcen, den Teufelskreis von Bevölkerungs- und Verelendungswachstum zu durchbrechen, wäre es schon ein großer Erfolg, wenn die Zahl der absolut Armen bis zum Jahr 2015 halbiert werden könnte. Dieses Ziel setzte sich die im DAC, dem Entwicklungshilfe-Ausschuss der OECD, organisierte westliche Gebergemeinschaft in einem Dokument unter dem Titel "Shaping the 21st Century", das in der entwicklungspolitischen Diskussion inzwischen mit S 21 abgekürzt wird. Dieses Dokument verdichtete die Ergebnisse der in den neunziger Jahren veranstalteten Weltkonferenzen in verwirklichbaren Schlüsselzielen und verknüpfte sie mit einem präzisen Zeitplan zum Erreichen dieser Ziele.
Der DAC gab die folgenden Teilziele vor:
- Grundbildung für alle Kinder in allen Ländern bis zum Jahr 2015;
- Beseitigung der Benachteiligung von Mädchen beim Zugang zu Primar- und Sekundarschulen bis zum Jahr 2005;
- Senkung der Säuglings- und Kindersterblichkeit um zwei Drittel und der Müttersterblichkeit um drei Viertel bis zum Jahr 2015;
- allgemeiner Zugang zu Diensten der Familienplanung, die mit Basisgesundheitsdiensten verkoppelt werden sollen, sobald wie möglich, aber spätestens bis zum Jahr 2015;
- Umkehr der aktuellen Trends der Umweltzerstörung auf nationaler und globaler Ebene bis zum Jahr 2015.
Integraler Bestandteil von S 21 ist das 1995 vom DAC verabschiedete Partnerschaftskonzept, das auf die eingängige Formel gebracht wurde: "Das Empfängerland sollte auf dem Fahrersitz sitzen." Mit anderen Worten: Es sollen nicht wie bisher die Eigeninteressen der Geberländer, sondern die Interessen und Wünsche der Empfängerländer dominieren. "Ownership" wurde zu einem neuen Schlagwort, das auf eine neue Phase und Qualität der Nord-Süd-Beziehungen hinweist. S 21 ist zum "Leuchtturm im internationalen Entwicklungsdiskurs" geworden: "Regierungen in Nord und Süd, internationale Organisationen und zivilgesellschaftliche Kräfte in allen Weltregionen sehen heute im OECD-Dokument den entscheidenden Referenzrahmen für eine vorwiegend ethisch-humanitär begründete Neuorientierung globaler Armutsstrategien."
Nicht nur die meisten Regierungen der OECD-Länder, die EU und der G-8-Gipfel 1998 in Birmingham bekannten sich ausdrücklich zu den Zielen von S 21. Die deutsche Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul betonte mehrfach die hohe Verbindlichkeit der S-21-Ziele. Diese Verbindlichkeit wurde noch gesteigert, als sich Bundeskanzler Schröder auf dem New Yorker Millennium-Gipfel ausdrücklich zu S 21 bekannte und ein nationales Handlungsprogramm zur Verwirklichung der globalen Armutsstrategie ankündigte.
Nicht überraschend war auch die Zustimmung wichtiger UN-Organisationen
Die Einigkeit über Ziele lässt aber die schwierigere Frage offen, wie diese Ziele erreicht werden können und sollen. Welchen Beitrag soll dabei die Entwicklungszusammenarbeit leisten? Nach Auffassung des DAC sollte diese zwar nur einen unterstützenden, aber fallweise doch wesentlichen Beitrag leisten. Weil er erkannte, dass die Einkommensverteilung und eine gute Regierungsführung (Good Governance) wesentlich für die Verringerung der Armut sind, formulierte er die Regel: Wo sich Regierungen wirklich um Entwicklung, Rechtstaatlichkeit, Demokratie und um den Schutz der Menschenrechte bemühen, "brauchen und verdienen sie die starke Unterstützung der Industrieländer". Wie aber sollen dann die Armutsgruppen in Diktaturen erreicht werden?
Der DAC konnte auch nicht die selbstkritische Frage umgehen, ob seine Mitgliedsländer in ihrer bilateralen Entwicklungszusammenarbeit den Selbstverpflichtungen gerecht werden. Sein Jahresbericht von 1999 stellte ihnen das Zeugnis aus, dass die geografische und sektorale Verteilung ihrer Mittel noch nicht hinreichend auf die S-21-Ziele ausgerichtet sei. Wesentlich kritischer ist der von Eurostep, einem Projekt von europäischen Nichtregierungsorganisationen, erstellte 8. Bericht über "Die Wirklichkeit der Entwicklungshilfe"
Schon jetzt zeichnet sich ab, dass ohne massive Umsteuerung der sektoralen Mittelallokation die S-21-Ziele verfehlt werden müssten, zumal die Kürzung von Leistungen an multilaterale Programme keinen Ausgleich schaffen kann.
Anfang 2001 legte die Bundesregierung ihren "Aktionsplan 2015" vor, der den Versuch unternahm, den deutschen Beitrag zur Entwicklung einer Weltsozialpolitik zu bestimmen. Der Bundeskanzler erklärte die weltweite Armutsbekämpfung zur Chefsache und band alle Ministerien in ein Handlungsprogramm ein, sodass Entwicklungspolitik nicht nur eine Ressortangelegenheit des BMZ bleibt, sondern zu einer Querschnittsaufgabe der gesamten Bundesregierung wird. Der Aktionsplan enthält einige wirklich innovative Elemente. So fordert er:
- die Prüfung aller Gesetzesvorhaben auf ihre Entwicklungsverträglichkeit;
- mehr Kohärenz zwischen den einzelnen Ressorts und Politikbereichen, um z. B. Widersprüche zwischen Handels- und Entwicklungspolitik zu verringern;
- die Verringerung des Ressourcenverbrauchs in Deutschland, um die Entwicklungschancen anderer Länder zu verbessern;
- den Abbau der landwirtschaftlichen Exportsubventionen in Europa, um die Nahrungsmittelproduktion im Süden nicht zu gefährden;
- den zoll- und quotenfreien Zugang der ärmsten Entwicklungsländer zu den Märkten der Industrieländer;
- die Stärkung der Verfügungsrechte aller Länder über ihre eigenen genetischen Ressourcen.
Der Aktionsplan setzt unter einer Ansammlung von Absichtserklärungen jedoch keine Prioritäten und keine neuen politischen Akzente in den Nord-Süd-Beziehungen. Das Finanzministerium blockierte erfolgreich die Bereitstellung zusätzlicher Mittel für den Haushalt des BMZ, das sich in den kontroversen Politikfeldern nicht durchsetzen konnte, obwohl bei ihm die Federführung im interministeriellen Abstimmungsprozess lag. Wir haben nun einen Aktionsplan zur Umsetzung der S-21-Ziele, der ein Versprechen des Bundeskanzlers vor der Weltöffentlichkeit einlöste, aber kaum die Politik der Bundesregierung in erkennbarer Weise verändern wird.
V. IWF und Weltbank: neue Vorkämpfer in der Armutsbekämpfung?
Nicht nur die Weltbank, die sich als "Bank der Armen" versteht, sondern auch der Internationale Währungsfonds (IWF), dessen Aufgabe nicht die Armutsbekämpfung ist, dessen Politik aber erheblichen Einfluss auf die soziale Lage der Armutsgruppen hat, erklärte seine Unterstützung für die S-21-Ziele. Horst Köhler, der neue IWF-Direktor, erklärte am 26. Februar in einem Vortrag: "Wir - arme Länder, Geberländer, internationale Organisationen und die Zivilgesellschaft - müssen uns ständig die Frage stellen: Wie wirkt sich unser Tun auf die Armen aus? Wenn wir die Antwort nicht mögen, sollten wir ändern, was wir tun."
Solche Bekenntnisse verdienen Beachtung, besonders, wenn sie vom Lenker der mächtigsten internationalen Finanzorganisation kommen, aber sie sagen wenig über konkrete Programme und Strategien aus. Der Kopenhagener Weltsozialgipfel hatte auch massive Kritik an der von IWF und Weltbank durchgesetzten Strukturanpassungspolitik geübt und ihr armutsverschärfende Wirkungen vorgeworfen. Da die Kopenhagener Erklärung auch von den Industrieländern unterzeichnet wurde, konnten die Bretton-Woods-Zwillinge (IWF und Weltbank) sich dem entwicklungspolitischen Paradigmenwechsel, der sich abzeichnete und sich dann in S 21 niederschlug, nicht entziehen. Als dann der Kölner Weltwirtschaftsgipfel von 1999 nicht nur eine Entschuldungsinitiative für die ärmsten Länder (die so genannte HIPC-Initiative, HIPC = Heavily Indepted Poor Countries), sondern auch die Ausrichtung der Schuldenerlasse auf die Armutsbekämpfung beschloss, arbeiteten die beiden Institutionen eine gemeinsame Strategie zur Umsetzung der Vorgaben ihrer Gouverneure aus: die PRSP (Poverty Reduction Strategy Papers). Diese "Papiere" entwerfen Entwicklungsstrategien für die ärmsten Entwicklungsländer, bilden die Grundlage für Schuldenerlasse und für die Einwerbung von bi- und multilateraler Entwicklungshilfe.
Neu ist erstens, dass die Entwicklungsstrategien nach dem ownership-Prinzip von den Ländern selbst und unter Beteiligung von Parlamenten, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften, Kirchen und zivilgesellschaftlichen Gruppen erarbeitet werden sollen. Allerdings ist in vielen Staaten die Fähigkeit der Zivilgesellschaft zur Partizipation an solch komplizierten Konsultationsverfahren noch wenig entwickelt, sodass das PRSP schwerlich das Ergebnis einer umfassenden partizipativen Debatte sein kann. Eine wirklich innovative und zukunftsweisende Idee droht an den politischen Realitäten zu scheitern.
Neu ist zweitens, dass künftig nicht nur die Sozialpolitik, sondern auch die Wirtschafts- und Finanzpolitik der PRSP-Länder auf das Ziel der Armutsbekämpfung ausgerichtet sein soll. Ob sich der IWF, der weiterhin für eine "gesunde" makroökonomische Stabilitätspolitik sorgen soll, an diese neuen Spielregeln halten wird, muss sich erst noch herausstellen. Der Konflikt ist fast vorprogrammiert, wenn eine Regierung einen Weg wählt, dem Vorstellungen der IWF-Ökonomen von "gesunder" Wirtschafts- und Finanzpolitik zuwiderlaufen. Der IWF hat zwar die "Enhanced Structural Adjustment Facility" (ESAF), die seine früheren Strukturanpassungsprogramme mit günstigen Krediten finanzierte, durch die "Poverty Reduction and Growth Facility" (PRGF) ersetzt, die nur auf der Grundlage von PRSP gewährt wird, aber ein neues Etikett ist noch keine Gewähr für eine neue Politik.
Das Ziel des PRSP-Programms war auch, die bilateralen Geber in die neue Strategie partizipatorischer Entwicklungszusammenarbeit einzubinden. Aber bisher beteiligte sich das BMZ nur sehr zögerlich an der Aufgabe, seine Schwerpunktländer beim PRSP-Prozess zu unterstützen. Ihm fehlt auch eine personell hinreichend ausgestattete Arbeitseinheit, die in der Lage wäre, sich konstruktiv in die internationale PRSP-Debatte einzuschalten. Walter Eberlei kritisiert diese Passivität auch deshalb, weil er in den PRSP "eine reale Chance für einen Paradigmenwechsel in der entwicklungspolitischen Strategiebildung mit möglicherweise nachhaltigen Effekten auf die Armutsbekämpfung im Süden" erkennt
VI. Armutsbekämpfung: eine entwicklungspolitische Donquichotterie?
Es gibt die defätistische These, dass der Kampf gegen die Armut nicht gewonnen werden könne und deshalb das Ziel der Armutsbekämpfung einer entwicklungspolitischen Donquichotterie gleichkomme. Kurz vor dem Kopenhagener Weltsozialgipfel hatte der Wissenschaftliche Beirat beim BMZ dieses Ziel für illusionär erklärt und dem BMZ empfohlen, die knapper werdenden Mittel auf "relativ erfolgversprechende Maßnahmen" in potenziellen Schwellenländern zu konzentrieren. Was spricht gegen diesen Ratschlag?
Erstens ist die Annahme, dass mit der entwicklungspolitischen Bevorzugung von Erfolgsländern die erodierende Akzeptanz und Legitimation von Entwicklungspolitik zurückgewonnen werden könnte, geradezu absurd. Der Verzicht auf das Ziel der Armutsbekämpfung würde sie in eine noch größere Rechtfertigungskrise stürzen. Wenn das BMZ aufkündigen würde, was es in seinen amtlichen Richtlinien verkündet, müsste es seine Unterschrift unter allen Aktionsprogrammen, die auf den Weltkonferenzen verabschiedet wurden, und unter S21 des DAC zurückziehen.
Zweitens brauchen die Erfolgsländer keine Entwicklungshilfe, sondern technisch-wissenschaftliche Zusammenarbeit, Kredite und Direktinvestitionen, die sie im Unterschied zu den ärmsten Ländern reichlich bekommen, und vor allem Marktzugänge. Für diese Form der wirtschaftlichen Zusammenarbeit wäre das BMZ überflüssig. Bevor mit hinreichender empirischer Evidenz festgestellt werden kann, dass das Ziel der Armutsbekämpfung unerfüllbaren Illusionen nachhänge, müsste drittens geprüft werden, ob das Ziel wirklich ernsthaft verfolgt wurde. Viele Untersuchungen haben nachgewiesen, dass nur ein Bruchteil der internationalen Hilfe in armutsorientierte Programme fließt. Fast alle Geberländer mussten sich die Kritik von UNDP an der geringen "sozialen Priorität" ihrer Hilfsprogramme gefallen lassen.
Hier schließt viertens die Frage an, wie eine Erfolg versprechende Armutsbekämpfung möglich sein könnte und gestaltet werden müsste. Es gab immer die Auffassung, dass der Primat der Armutsbekämpfung schon im strategischen Ansatz falsch sei und der Förderung von Wachstum und Produktivität nachgeordnet werden sollte. Die Illusion von "trickle down" scheint unausrottbar zu sein. Aber selbst die Weltbank überlässt das Ziel der Armutsverringerung schon längst nicht mehr der Automatik von Wachstumsprozessen, sondern setzt gleichzeitig auf eine aktive Sozialpolitik und auf die Mobilisierung der produktiven Fähigkeiten der Armen. Die signifikante Verringerung der Zahl der Armen in Ost- und Südostasien ist nicht allein das Abfallprodukt von hohen Wachstumsraten, sondern auch der Erfolg einer aktiven Sozialpolitik.
Fünftens ist sicherlich richtig, dass es in der Entwicklungspolitik nicht allein um Geld, sondern zuvörderst um die Schaffung entwicklungsförderlicher Strukturen geht; dass in der Vergangenheit unter den Bedingungen des Kalten Krieges durch externe Subsidien kleptokratische Strukturen eher verfestigt als verändert wurden. Richtig ist aber auch, dass die ärmsten Entwicklungsländer auch durch Good Governance und mehr Demokratie, weniger Korruption und Geldverschwendung für Rüstung nicht in die Lage versetzt würden, ihre Armut aus eigener Kraft zu überwinden. Ihnen kann auch das Rezept "Handel statt Hilfe" nicht aus der Misere helfen, weil sie für ihre Rohstoffe vielfach nur "Ramschpreise" erzielen.
Ein wesentlicher Grund für die Gegenrede zum Abgesang auf das Ziel der Armutsbekämpfung liegt auch in den ungenutzten Chancen der Entwicklungspolitik. Wenn die Staaten - und zwar die Geber- und Nehmerländer - einen größeren Teil der Selbstverpflichtungen erfüllen würden, die sie in Völkerrechtspakten und Aktionsprogrammen unterschrieben haben, könnten sie die Welt verändern. Dem entwicklungspolitischen Defätismus ist die Überzeugung entgegenzuhalten, die Willy Brandt schon vor über zwanzig Jahren in seiner Einleitung zum Brandt-Bericht so formuliert hatte: "Noch nie hat die Menschheit über so vielfältige technische und finanzielle Ressourcen verfügt, um mit Hunger und Armut fertig zu werden. Die gewaltige Aufgabe lässt sich meistern, wenn der notwendige gemeinsame Wille mobilisiert wird."
VII. Armutsbekämpfung - und nichts anderes?
Hier muss einem möglichen Missverständnis vorgebeugt werden. Das Plädoyer für den Primat der Armutsbekämpfung, der sich am S-21-Ziel orientiert, bedeutet keinen Verzicht auf andere Aufgaben, auch nicht die Konzentration der gesamten Entwicklungszusammenarbeit auf die ärmsten Länder, zumal es allein in Indien, das aus statistischen Gründen nicht zu den "am wenigsten entwickelten Ländern" (LLDC) gezählt wird, mehr Arme gibt als in allen 49 LLDCs, die größtenteils im subsaharischen Afrika liegen.
Das BMZ soll sich nicht zu einem "Armutsministerium" zurückentwickeln, sondern sich zu einem Ministerium weiterentwickeln, das in der Lage ist, globale Strukturpolitik zu gestalten. Ohne internationale Kooperation mit den Schwellen- und Transformationsländern kann es keine Lösung der globalen Umweltprobleme, kein Migrationsregime zur Regulierung internationaler Migrationsbewegungen und keine stabile Friedensordnung geben. Aber das Armutsproblem bleibt das entwicklungspolitische Schlüsselproblem, das eine Schwerpunktsetzung verlangt, die nun der "Aktionsplan 2015" der gesamten Bundesregierung - und nicht nur dem BMZ - abverlangt.
Das in S 21 definierte und operationalisierte Ziel der Armutsbekämpfung bleibt unverzichtbar als Rechtfertigungsgrundlage für Entwicklungspolitik und als Beitrag zur Entschärfung armutsbedingter Weltprobleme, von denen sich auch die Wohlstandsinseln nicht abkoppeln können. Globalisierung bedeutet auch, dass räumlich fern liegende Fehlentwicklungen näher rücken. Nach amtlicher Sprachregelung bedeutet Entwicklungspolitik "weltweite Friedenspolitik" und "globale Strukturpolitik", auch zur Abwehr von Gefährdungen, die dem eigenen Land aus krisenhaften Entwicklungen im Süden - und nun auch im Osten - erwachsen können. Die strukturelle Gewalt von Massenarmut bildet eine vieldimensionale Konfliktursache. Die Armutsbekämpfung muss deshalb aus der Ecke einer Armen- und Mitleidspolitik herausgeholt und als Gebot der politischen Vernunft und des aufgeklärten Eigeninteresses begriffen werden. Und sie muss in die Architektur einer Weltsozialordnung eingebunden werden. Soweit besteht auch Übereinstimmung mit Ulrich Menzel, der eine "globale Sozialpolitik statt Entwicklungshilfe" fordert
Entwicklungspolitik darf nicht auf Entwicklungshilfe verengt und das BMZ nicht zum "Abwicklungsministerium" von Entwicklungsprojekten degradiert werden; sie ist - wie der "Aktionsplan 2015" zumindest andeutete - eine Querschnittsaufgabe, die fast alle Politikbereiche einschließt. Nicht nur das BMZ und das Auswärtige Amt, sondern auch das Finanz-, Wirtschafts-, Umwelt- oder Technologieministerium sind in das Projekt einer "globalen Strukturpolitik" und nun auch in die Zielvorgaben des "Aktionsplans 2015" eingebunden.
Der Ansatz der PRSP-Strategie, der auf Eigenverantwortung (ownership) und auf die Partizipation aller politischen und gesellschaftlichen Kräfte setzt, liefert gute Gründe für einen entwicklungspolitischen Optimismus. Nun geht es darum, dass die "Papiere" in die Praxis umgesetzt werden. Dann könnte sich auch endgültig herausstellen, dass Armutsbekämpfung kein illusionäres und schon im Ansatz zum Scheitern verurteiltes Projekt ist. S 21 bildet die Nagelprobe.