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Ursachen von Konflikten und Kriegen im 21. Jahrhundert | Sicherheitspolitik | bpb.de

Sicherheitspolitik Editorial Die NATO und ethnische Konflikte Ursachen von Konflikten und Kriegen im 21. Jahrhundert Krieg und Politik im 21. Jahrhundert Zivile Konfliktbearbeitung in ethnopolitischen Konflikten Zivil-militärische Zusammenarbeit der Bundeswehr im Balkan-Einsatz

Ursachen von Konflikten und Kriegen im 21. Jahrhundert Konsequenzen für die westlichen Industriestaaten

Thomas M. Wandinger

/ 24 Minuten zu lesen

Das Spektrum künftiger sicherheitspolitischer Gefährdungen und Risiken hat nach der Überwindung der konfrontativen Ära des Kalten Krieges deutlich an Komplexität zugenommen. Anhaltendes Bevölkerungswachstum stellt beispielsweise ein Risiko dar.

I. Die neue weltpolitische Transformationsphase

Mit Ausnahme nur noch weniger Staaten , deren Anteil am weltwirtschaftlichen Leistungsaustausch mit Ausnahme Chinas marginal ist, dominiert die Marktwirtschaft heute als führendes ordnungspolitisches Gesellschaftssystem die Welt. Der statistische Vergleich der Entwicklungen zwischen Bevölkerungswachstum und Bruttosozialprodukt in diversen Schwellen- und Entwicklungsländern zeigt augenscheinlich, dass nicht nur nachhaltige, umweltverträgliche Wirtschaftsentwicklung und Krisenprävention in kausalem Zusammenhang stehen, sondern dass marktwirtschaftliche Wirtschaftspolitik von ebenso strategischer Bedeutung für die Stabilität von Staaten und Sub-Regionen ist, wie dies die vordergründigen Fakten militärstrategischer Dispositive seit Jahrzehnten waren. Es zeichnet sich zunehmend klarer ab, dass die Wohlfahrt und Stabilität der Staatenwelt außerhalb der wirtschaftlichen Stabilitätszonen wie EU und NAFTA künftig in sehr viel stärkerem Maße von ökonomischen Faktoren als von der Arithmetik klassischer militärstrategisch-sicherheitspolitischer Einflussgrößen charakterisiert sein werden.

Der Blick auf die Wachstumszyklen der Staaten der mediterranen Gegenküste sowie auf die Entwicklungsparameter der Nachbarregionen in Subsahara-Afrika legt offen, dass - mit Ausnahme der bisherigen Entwicklungserfolge in Israel, Ägypten und Tunesien - ein mit Asien vergleichbarer Wirtschaftsboom bis 2030 nicht zu erwarten ist. Die strategischen Herausforderungen der Zukunft werden die Anrainer des östlichen und westlichen Mittelmeerbeckens sowie der benachbarten ost- und zentralafrikanischen Großräume, deren labile Volkswirtschaften bis heute nur unzureichend horizontal vernetzt und nur in sehr geringem Umfang in weltwirtschaftliche Zyklen integriert sind, mit immensen Anforderungen konfrontieren. Die nach dem Ost-West-Konflikt einsetzende Öffnung über Jahrzehnte durchschnittener und getrennter Sozial- und Gesellschaftsstrukturen einerseits sowie die mit der wirtschaftlichen Globalisierung einsetzende Integrationsentwicklung andererseits führten seit 1989 zunehmend auch zu einem Zusammenfallen einstmals getrennter geopolitischer und kriminalgeographischer Großräume. Dadurch löste sich - wie in anderen Weltregionen auch - im euroatlantischen Großraum nicht nur die abschirmende Bedeutung von Grenzen und Einflusszonen, sondern auch die ehedem klare sicherheitspolitische Trennung zwischen staatlichen und substaatlichen Akteuren zunehmend auf.

Im Schatten dieser weltpolitischen Transformationsphase der industrialisierten Welt und ihrer globalen Akteure etablierte sich das seit 1989 deutlich gestiegene Krisen- und Konfliktgeschehen mit Konflikten vorwiegend niederer Intensität nicht nur als Strukturelement des Übergangs für diverse Sub-Regionen, sondern es zeichnet sich mit Blick auf den afrikanischen Kontinent oder Südasien schon heute ab, dass sich die Krisenindikatoren verschärfen: Instabilität, Machterosion und schleichender Staatszerfall, Überbevölkerung und Verstädterung sowie sich verfestigende Strukturen international agierender organisierter Kriminalität werden den Übergang entweder in das völlige politisch-ökonomische Desaster wie in Kinshasa, Mogadischu, Grosny oder Asmara begleiten oder aber eine Wegmarke langwieriger Krisenreaktion in eine stabilere Zukunft - wie in Belgrad - bilden.

Während die Industriestaaten kontinuierlich durch die Globalisierung gewinnen, verlieren eine Vielzahl von Schwellen- und Drittweltstaaten durch galoppierende innere Erosions- und Zerfallsprozesse jährlich an ökonomischer Substanz und politischer Stabilität. Angesichts sinkender Rohstoffpreise auf den Weltmärkten zeichnen sich immer deutlichere Konturen ab, wonach sich das interkontinentale Wohlstandsgefälle eher weiter vergrößern als egalisieren wird und die Fragmentierung zwischen Arm und Reich zunimmt. Das reale Absinken von Unterstützungs- und Entwicklungshilfegeldern seit dem Zerfall der Sowjetunion führte - begleitet von der konzeptionellen Bankrotterklärung westlicher Entwicklungsstrategien - diverse Staaten in geopolitische und finanzielle Schicksalslagen, worauf diese ihren militärischen Arm zur Kompensation in ressourcenreiche Regionen ausstreckten und damit auch zwischenstaatlichen Konflikten - wie in Zentralafrika - eine neue, bislang ungekannte Dimension verliehen.

Relativ neu an dieser Entwicklung ist nun, dass sich an der Kontrolle und Ausbeutung strategischer Ressourcen nicht mehr nur Staaten beteiligen, sondern auch ein breites Spektrum substaatlicher Akteure, wie die inzwischen zum Sicherheitskonzern avancierte britisch-südafrikanische Executive Outcome in diversen Staaten Afrikas, oder Terror- und Rebellenorganisationen wie die UNITA in Angola oder die RUF in Sierra Leone. Im Endergebnis hat sich die seit Jahren schon abzeichnende Tendenz der Etablierung sicherheitspolitisch signifikanter Verwerfungszonen in vielen Teilen der Welt - vor allem aber in Afrika und Südostasien - nicht nur bestätigt, sondern durch die Abtretung von Schürf- und Hoheitsrechten maroder Staaten oder schwacher Regierungen an substaatliche oder irreguläre Akteure sogar verfestigt. Das tatsächliche Eskalationsspektrum substaatlicher Gruppierungen ist wegen bestehender rechtlicher Grauzonen und der undurchsichtigen und grenzüberschreitenden Strukturen dieser Akteure gerade in den Anfangsszenarien von Konflikten nur schwer kalkulierbar. Konzernartig strukturierte Gruppierungen etablieren sich durch ihre Abstützung auf internationale Finanz- und Logistiknetze als Akteure in Krisengebieten nicht nur mit zunehmender Tendenz, sondern sie erzielen durch ihre intransparenten Strukturen auch eine hohe Durchhaltefähigkeit und damit zusammenhängend häufig auch lokale Überlegenheit in diversen Kriegsschauplätzen. Damit bleibt aktuell, was Henry A. Kissinger schon 1969 erkannt hatte: "Die Guerilla gewinnt, wenn sie nicht verliert. Die konventionelle Armee verliert, wenn sie nicht gewinnt."

Aus der Makro-Perspektive betrachtet, zeichnet sich für künftige Krisen- und Konfliktkonstellationen ab, dass sich die Staatenwelt entsprechend ihrem unterschiedlichen Entwicklungs- und Integrationstempo immer stärker in vormoderne, moderne und postmoderne Staaten differenziert, wobei jede Epoche den Konflikt auf der jeweiligen technologischen Basis und dem entsprechenden Eskalationsniveau austrägt. Dieser Faktor beeinflusst auch die Dauer der Konflikte und die Struktur der Akteure. Angesichts des Fortbestehens divergierender Konfliktebenen, die von Kriegen niederer Intensität (low intensity conflict/warfare) bis zur symmetrischen Eskalation von Großverbänden (unter Einsatz nuklearer Waffen als letzter Konsequenz) reichen, fordert dies von den Streitkräften der westlichen Industriestaaten für das 21. Jahrhundert das kostenträchtige Vorhalten weitreichender militärischer Fähigkeiten für sehr unterschiedliche Eventualfälle und Konfliktebenen. Und es erfordert vor allem eine möglichst objektive, differenzierte Analyse von Ursachen und Verläufen von Konflikten, wobei auch die jeweiligen Zielsetzungen der Verursacher nicht tabuisiert werden sollten.

II. Konfliktkonstellationen und künftige Tendenzen

Die strategische Weltlage zeigt, dass sich durch die Erosion des ideologischen und politischen Einflusses des zerfallenen sowjetischen Empiriums nicht nur die ehemaligen Satelliten politisch-gesellschaftlich fragmentierten, sondern dass auch die Grenzen des Nationalstaates - unterstützt durch die ökonomische Logik der Globalisierung - ihre einstige Bedeutung verloren haben. Die Erfordernisse des Informations- und Internetzeitalters verstärken durch den grenzenlosen Wissens- und Handelstransfer die Marginalisierung nationalstaatlicher Grenzen zusätzlich. In der um den ehemaligen Machtbereich Moskaus nun erweiterten Zone wirtschaftlicher Liberalisierung konnte die internationale organisierte Kriminalität mit neuen Netzwerken Fuß fassen und Koalitionen mit zusätzlichen substaatlichen Akteuren sowie terroristisch-kriminellen Organisationen eingehen. Die Proliferation von militärischer Spitzentechnologie sowie von Komponenten für Massenvernichtungswaffen hat sich inzwischen nicht nur deutlich verschärft, sondern ist zum neuen strategischen Faktor in bewaffneten Konflikten aufgestiegen. Im Zuge dieser Entwicklungen wurde es mittlerweile auch für Europa zur Realität, dass das Zusammenfallen einstmals getrennter militärstrategischer Großräume mit kriminalgeographischen auch das Auftreten zusätzlicher Akteure und Opponenten bei inner- und zwischenstaatlichen bewaffneten Konflikten mit sich brachte.

Die Zahl der Kriege und Konflikte auf den Kontinenten und in den jeweiligen Regionen ist auch nach Überschreiten der Jahrtausendwende weiter angestiegen. Immer stärker prägen Konflikte niederer Intensität (low intensity conflict = LIC) das globale Konfliktgeschehen mit langwierigen Konfliktverläufen, hoher Kräftebindung und teils immensen Opfern zumal unter der Zivilbevölkerung sowie gravierenden Spätfolgen. Wie im vergangenen Jahrzehnt etablierte sich erneut Afrika als erstrangiger Krisenherd, dicht gefolgt von einer Reihe inner- und zwischenstaatlicher Konflikte in Zentral- und Südasien . Da Konfliktstatistiken lediglich vergangenheitszentrierte Tendenzen aufzeigen, erschwert sich das Lagebild der Analytik gerade dann, wenn der Blickwinkel auf die zu erwartende Zukunft, in benachbarte Regionen oder in den erweiterten "Hinterhof" des euro-atlantischen Großraumes gerichtet wird. Aus diesem Grunde sollen die potenziellen Ursache- Wirkung-Beziehungen künftiger Krisenursachen und Konfliktkonstellationen im Rahmen dieser Betrachtung - ausgehend von Deutschland - auf einen Großraum mit dem Radius von ca. 5 000 km begrenzt und - dem Ansatz anderer Studien und Analysen folgend - bis zum Jahr 2020 fokussiert werden, um dadurch einen orientierenden Beitrag zur Fortschreibung der Risiko- und Trendanalyse zu liefern.

Die Analyse des Konfliktgeschehens der dem EU-/NATO-Raum benachbarten südlichen Hemisphäre im Zeitraum 1945-1995 zeigt deutlich, dass innerstaatliche Konflikte die dominierende Konfliktform darstellten (vgl. Grafik 1). Während diese Konflikte in der Vergangenheit primär auf konventioneller Ebene geführt wurden und zu Jahrzehnte währenden Konfliktverläufen mit teils hohen Opferraten führten, tritt seit Beginn der achtziger Jahre auch der Einsatz chemischer Waffen in den Vordergrund. Mit Blick auf das künftige Konfliktgeschehen im Nahen/Mittleren Osten werden die Risiken und Konflikte zwar tendenziell zurückgehen , aber die Nahostregion wird wegen der politischen Verflechtung im Zusammenhang mit der israelisch-palästinensischen Konfrontation, aber auch wegen der angehäuften militärischen Dispositive mittelfristig dennoch eine Zone latenter Instabilität und - vor allem bezogen auf das östliche Mittelmeerbecken - eine Region im Ausnahmezustand bleiben. Für den nordafrikanischen Raum und seinen potenziellen Einfluss auf die stark befahrenen Seehandelsrouten sowie für die nordafrikanischen Anrainer ist ein Trend zu stärkerer innerer Instabilität zu erwarten. Die raumnahe Lage bisheriger Konflikte im Bereich einer der geostrategisch sensibelsten und ressourcendichtesten Regionen der Welt (Suez-Kanal, Erdöl) führte bisher zu einer enormen Aufrüstung, die trotz politischer Spannungsreduktion weiter modernisiert und fortgesetzt wird. Ballistische Raketen und Marschflugkörper als strategische Waffen in der Hand arabischer Akteure - ursprünglich aus politischem Kalkül zur primären Abschreckung Israels eingeführt, in der Folge von geringer operativer Bedeutung während des Abnutzungskrieges zwischen Irak und Iran 1980 bis 1988 - avancierten, in ihrer strategischen Rolle im Verlauf des Zweiten Golfkrieges bekräftigt, inzwischen zu einem weit über die Region hinausweisenden Politikum.

Dass inner- und zwischenstaatliche Konfliktebenen in unterschiedlichen Dimensionen künftig weiterhin nebeneinander oder gleichzeitig auftreten können, zeigen die Entwicklungen in direkter räumlicher Nähe in und an den Grenzen Israels sowie in Ostafrika (Äthiopien - Eritrea) oder aber auf den Kriegsschauplätzen in Zentralasien. Mit Erreichen der Jahrtausendwende hat sich die Zahl der Konflikte im Bereich der südlichen Mittelmeeranrainer zwar reduziert, jedoch hat sich ihre Dimension im Hinblick auf Verlustraten und Eskalationsbereitschaft sowie auf die handelnden Akteure signifikant erhöht. Belege hierfür bieten der äthiopisch-eritreische Grenzkrieg 1999-2000, der noch anhaltende Tschetschenien- und der palästinensisch-israelische Konflikt sowie die stetig gestiegenen Verlustziffern infolge terroristischer Anschläge. Im Zeitverlauf haben jedoch bilaterale Grenz-, Zusammenarbeits- und Gewaltverzichtsabkommen innerhalb der arabischen Staatenwelt ebenso deutlich zugenommen wie die Akzeptanz von endgültigen Grenzdemarkationen und Schiedssprüchen. Die Risikoanalyse zeigt ferner, dass die Militärpotenziale der MENA-Staaten - mit Ausnahme der konventionellen Dispositive der strategischen Akteure Ägypten und Israel, die ihrerseits intern stark gebunden sind - bei keinem Staat ausreichen würden, raumgreifende symmetrische Operationen aus nationaler Perspektive durchhalten zu können.

Die Schwerpunktregionen für zwischenstaatliche Konflikte und Kriege werden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch künftig auf die geostrategischen Achsen sowie auf die Lage und die Zugänge zu strategischen Ressourcen zur Sicherung der Rohöl-/Erdgasversorgung konzentrieren. Diese Konflikte werden zunehmend als Koalitionskriege durch Ad-hoc-Allianzen oder als coalition of the willing mit relativ kurzer Konfliktdauer, aber auf hohem Eskalationsniveau ausgetragen werden. Obwohl die arabischen Staaten die Waffenstillstandslinien von 1949 und 1967 außerhalb der ägyptisch-jordanischen Grenzverläufe im Zuge der Friedensschlüsse weder bilateral noch im Rahmen der Arabischen Liga anerkannten, hat sich die Anerkennung und Akzeptanz des Staates Israel durch die arabischen Staaten und die PLO vollzogen.

Die regionale Verortung künftiger Konflikte weist mit den Schwerpunktregionen Ostafrika, subsaharisches Afrika und Zentralasien Konstanten auf, die auch in die nähere Zukunft hineinreichen werden. Dabei zeichnet sich die Verlagerung des künftigen Krisengeschehens aus den Stabilitätszonen (NATO/EU) an die Peripherien geostrategischer oder weltpolitischer Gravitationszentren bis 2020 relativ deutlich ab. Insgesamt wird sich das Konfliktgeschehen mit Ausnahme der irakisch-iranischen und der türkisch-kurdischen Instabilitäten sowie des palästinensisch-israelischen Dauerkonfliktes stärker von der Region des Nahen/Mittleren Ostens nach Ost- und Zentralafrika sowie auf Schauplätze in Zentralasien verlagern.

Die innere Abwehrbereitschaft der arabischen Staaten in Nordafrika und am Golf hat gegenüber terroristischen Destabilisierungs- und Umsturzgefahren (vorwiegend afghanisch-arabischer Freischärler und Terroristen) inzwischen stark an Bedeutung gewonnen und diesen - mit Ausnahme von Algerien und Sudan, Irak und Iran - die Bildung neuer Basen deutlich erschwert. Auch die islamistisch-terroristischen Bedrohungen und Gefahren werden sich von den Anrainern des östlichen Mittelmeerbeckens künftig stärker auf die relativ schwachen Staaten Zentralasiens und Südostasiens (Indonesien) verlagern. Die bestehenden Restrisiken durch Terrorgruppen in Ägypten und Algerien sind potenziell nicht mehr in der Lage, diese Staaten zu gefährden oder darüber hinausgehende subregionale Destabilisierungen zu erreichen.

III. Künftige Konfliktformen und ihre Ursachen

Auf der zwischenstaatlichen Ebene entfalten Konflikte durch Wertedissens, beispielsweise zwischen westlich-demokratischen, nationalistischen oder islamistischen Regimen (mit Ausnahme des Dauerkonfliktes um den Irak) sowie asiatisch-autoritären Herrschaftsmodellen, ein ebenso geringes Profil wie die Gefahr des Ausbruchs von Großmachtkonflikten (USA - China). Machtpolitisch motivierte Gegenhaltungen konzentrieren sich mittelfristig stärker auf die Erzielung oder Wahrung regionaler Vormacht mit der Tendenz zu latenter Konflikteskalation, so wie sich dies etwa um die Taiwanfrage, die Grenzstreitigkeiten zwischen Indien und Pakistan (Kaschmir), zwischen Eritrea und Äthiopien, zwischen Saudi-Arabien und dem Jemen sowie zwischen diversen afrikanischen Staaten abzeichnet. Diese Konfliktebene wird entlang der schon bestehenden Bruchlinien weiterhin solange Bestand haben, bis jeweils ein endgültiger Schiedsspruch oder eine einvernehmliche völkervertragliche Regelung auf dem Weg über internationale Demarkations- oder Friedenssicherungsmissionen akzeptiert wurden. Dementgegen sind Ressourcenkriege seit Jahren auf die Agenda der internationalen Politik zurückgekehrt und überschatten - im Kontext mit anderen Einflussfaktoren - primär Grenzgebiete afrikanischer Subregionen .

Neue Konfliktdimensionen oder Ursachen für Krisen zeichnen sich aus europäischer Perspektive im Bereich der MENA-Staaten zunächst auf drei Feldern ab: Erstens, wenn es den substaatlichen Gruppierungen auch in diesen Ländern gelänge, Verfügungsgewalt über Massenvernichtungswaffen (MVW) zur Durchsetzung extremistisch-fundamentalistischer Ziele zu erreichen (Bedrohungsrichtung nach innen). Zweitens, wenn einzelne Staaten der Region die Produktion und den Besitz von MVW mit dem Schwerpunkt biologischer/chemischer Waffen weiter ausbauen (Irak, Libyen unter Verdacht) und die bestehenden ballistischen Arsenale als Trägermittel so modernisieren würden, dass diese europäische Entscheidungszentren bedrohen könnten, um politische Ziele oder die Einflussnahme auf Entscheidungen von NATO/EU zu erwirken oder zu erpressen. Eine dritte, nicht minder gravierende Konstellation für die innere Stabilität von Staaten in der Region - mit ebenso weitreichenden Folgen für die regionale Stabilität - entstünde dann, wenn es diesen Ländern nicht gelänge, die sich mit dem enormen Bevölkerungszuwachs deutlich abzeichnenden Gefahren und Stabilitätsrisiken gesellschaftlich und ökonomisch zu verkraften. Die Gefahr des Scheiterns ist real, da die Chancen für ökonomische Prosperität in der Region äußerst gering sind.

Mit Ausnahme der steigenden Bedeutung Ägyptens als strategischer Partner der USA und seiner zunehmend wichtigen Rolle als Handelsstützpunkt an den Meerengen weisen westeuropäische Direktinvestitionen in diese Staaten - verglichen mit anderen Regionen - nur marginale Größen auf. Es zeichnet sich schon heute ab, dass nur sehr wenige dieser Staaten trotz ihrer z. T. günstigen geografischen Lage die wirtschaftliche Transformation zum Einstieg in neue Technologien (z. B. Solarstromerzeugung) technisch wie finanziell bewältigen können. Die Herausforderungen der MENA-Staaten werden daher in der Bewältigung der strukturellen, demographischen und ethno-religiösen Probleme sowie in den gravierenden Verwerfungen der sich abzeichnenden, äußerst schwierigen sozioökonomischen Konstellation liegen. Diese vorwiegend innerstaatlichen Risikofaktoren könnten einen Trend künftiger Nahostkonflikte begründen, die stärker von implodierender Stabilität als von explosiver Entladung charakterisiert sein werden. Während die Weltöffentlichkeit vom palästinensisch-israelischen sowie vom kosovarisch-serbischen Konflikt gebunden bleibt - beides Konflikttypen der Zukunft, die allerdings mit den Konzepten und Waffen der Vergangenheit bekämpft werden -, erreicht allein die Metropole Algier bis 2015 mehr Einwohner, als etwa C-Waffen-Besitzer Libyen oder der Nuklearwaffenstaat Israel insgesamt an Bevölkerung aufweisen - dies ein Vorgriff auf das noch zu erörternde Problem der Bevökerungsexplosion in Metropolen und die damit verbundenen globalen Sicherheitsrisiken.

In den anderen Weltregionen sind bis 2015 auch weiterhin innerstaatliche Separations-, Sezessions- und Minderheitenkonflikte (Tschetschenien, Kosovo, Osttimor, Kurdengebiete) in unterschiedlichster Form und Intensität zu erwarten , die partiell auch zwischenstaatliche Folgereaktionen nach sich ziehen können (Türkei-Irak). Ideologisch polarisierte Konfliktmotive können in Staaten mit starkem Wohlstandsgefälle und der sozialen Benachteiligung ganzer Volksgruppen durch Guerillafraktionen (Kurden, Chiappas-Konflikt in Mexiko, Aceh-Konflikt in West-Indonesien) aufgegriffen werden oder zu deren Gründung führen. Auch in Afrika werden innerstaatliche Konflikte im Prozess fortschreitender Staatenerosion als Folge der inneren Verwerfungen im Zuge eines Jahrzehnte währenden Staatsversagens - sowie begleitet von der sich immer stärker auswirkenden sozialen Katastrophe durch Aids - die überwiegende Konfliktform darstellen und an Bedeutung gewinnen.

Die derzeit noch stark eskalierenden Nationenbildungsprozesse wie in einigen Staaten Afrikas, auf dem Balkan sowie in den Palästinensischen Autonomiegebieten können diverse Einzelstaaten durch Separations- und Autonomiebestrebungen auch weiterhin gefährden. Die Explosivität dieser Konflikte wird erst dann abnehmen, wenn die machtpolitisch-ideologischen sowie altkolonialen Grenzziehungen den ethnischen und historischen Realitäten weichen. Der Schwerpunkt nationaler Nachholprozesse oder Autonomiebestrebungen wird sich unter Bestätigung der schwelenden Konflikte am Horn von Afrika oder Westafrika (Nigeria) künftig stärker auf die Flächenstaaten Asiens verlagern und von ethno-religiösen oder islamistisch-terroristisch motivierten Akteuren begleitet werden.

IV. Bevölkerungsentwicklung und Krisenwahrscheinlichkeit

Die großen Zuwachsraten der Weltbevölkerung ereigneten sich in den vergangenen Jahrzehnten nahezu ausschließlich in den Staaten der Dritten Welt, während das Wachstum in den Industriestaaten im Vergleichszeitraum nahezu stagnierte oder sogar abnahm. Nach gegenwärtigen UN-Prognosen ist von einem Wachstum der Weltbevölkerung von gegenwärtig 6,1 auf 9,3 Milliarden Menschen im Jahr 2050 auszugehen, wobei etwa die Hälfte dieser Zuwächse auf die Bevölkerungsanstiege in Indien, China, Pakistan, Nigeria, Bangladesh und Indonesien zurückzuführen sein wird . Dies entspricht einem Zuwachs in den Entwicklungslängern von derzeit 4,9 Milliarden auf 8,2 Milliarden Menschen im Jahr 2050 , wobei ohne die Absenkung der Geburtenrate sogar von einem Anstieg der Bevölkerung auf 11,9 Milliarden im Jahre 2050 auszugehen wäre. Dieser Entwicklungstrend setzt die Konstellation der jüngeren Vergangenheit fort, obwohl auch für die Entwicklungsländer ab etwa 2050 eine Abnahme der Wachstumsraten und damit zumindest eine Verlangsamung des weiterhin kritischen Bevölkerungswachstums prognostiziert wird . Gleichzeitig wird sich innerhalb derselben Vergleichsräume die Lebenserwartung weltweit von 65 auf 76 Jahre erhöhen.

So wächst Indien mit jährlich etwa 18 Millionen in der Größenordnung der Gesamtbevölkerung Australiens, obwohl es heute schon dichter besiedelt ist als die Bundesrepublik. Staatspräsident Narayanan hat deshalb anlässlich der Überschreitung der Milliardengrenze davor gewarnt, dass sich die Wut sozialer Ungerechtigkeit der ca. 500 Millionen Inder unterhalb der Armutsgrenze, die täglich mit umgerechnet einem Euro auskommen müssen, eines Tages heftig entladen könnte. Damit sind in diversen Schwellen- und Entwicklungsländern erste Konsequenzen des anhaltenden Bevölkerungswachstums benannt, die in ihrer Dynamik bis zum Zeithorizont 2020 kaum noch zu begrenzen sind. Dem steht allerding eine weiterhin anhaltende politische Tabuisierung der globalen Konfliktursache "Bevölkerungswachstum" in vielen europäischen Staaten - auf die hin sich die Migration richten wird - gegenüber.

Wachstumsperioden der Weltbevölkerung

 Stand der Weltbevölkerung   Basisjahr   Wachstumsperiode bis zur nächsten Mrd.  1 Milliarde 1804 123 Jahre 2 Milliarden 1927 33 Jahre 3 Milliarden 1960 14 Jahre 4 Milliarden 1974 13 Jahre 5 Milliarden 1987 12 Jahre 6 Milliarden 1999 ca. 10 Jahre 7 Milliarden 2010 ca. 9 JahreIm Verlauf dieses Prozesses zeichnen sich zwischen den Entwicklungsländern bedeutende Bestandsunterschiede ab, da sich das zu erwartende Bevölkerungswachstum vor allem in den 48 als ärmste geltenden Ländern ereignen wird, in denen mit einer Verdreifachung der Bevölkerung auf 1,8 Milliarden Menschen im Jahr 2050 gerechnet wird.

Während die Bestandsbevölkerungen der Industriestaaten durch die erhöhte Lebenserwartung zunehmend vergreisen und der Anteil alter Menschen jenen der Kinder übersteigt (19 : 18 Prozent) und das am schnellsten wachsende Bevölkerungssegment darstellt , wird Afrika auch in Zukunft der Kontinent mit der jüngsten Bevölkerungsstruktur bleiben . Die Grafik 2 veranschaulicht, dass die Bevölkerungen in Europa, den Beitrittskandidaten zur EU, in der GUS sowie in Südosteuropa bis 2050 rückläufige Trends aufweisen, während sie in den Anrainerstaaten südlich des Mittelmeers zunehmen und in Ostafrika drastische Zuwächse erreichen werden.

Divergierend zur Konstellation im Okzident weisen die kapitalschwachen Staaten Nordafrikas durch ihr starkes Bevölkerungswachstum gravierende Entwicklungsunterschiede auf. So liegen hier die Geburtenraten trotz rückläufiger Tendenz bis zum Jahr 2050 über 2,1 Kindern pro Frau, was nach 2015 zwar zu sinkenden, aber wegen des hohen Bestandsniveaus dennoch zu weiteren Zuwächsen führen wird. Die Entwicklungen in der Region unterscheiden sich ferner durch den Altersaufbau zunehmend junger Bevölkerungsschichten sowie durch die Tatsache, dass das Wachstum zu einer kritischen Flächenverdichtung und zu steigender Verstädterung führen wird. Mittelfristig wird es daher im Kontext künftiger Krisenursachen immer wichtiger, wie die mit dem Wachstum einhergehenden Zukunfts- und Wohlstandsforderungen junger Bevölkerungsschichten durch Dritte krisenverursachend instrumentalisiert werden könnten. Gerade diese Fragestellung gewinnt im Spiegel der Ereignisse in West- und Zentralafrika auch für die Staaten Nordafrikas hohe politische Relevanz, da das Wachstum im Blickfeld ausgedehnter Wüsten und klimatischer Extremzonen immer stärker auch hier die Schaffung ökologisch-ökonomisch nachhaltiger Lebens- und Entwicklungsräume erfordert.

Die Anrainer des östlichen Mittelmeerbeckens im Bereich des Nahen Ostens und Westasiens ergänzen mit prozentual sinkenden, aber bis 2050 weiterhin positiven Wachstumsraten das Bild der Gesamtregion . Addiert man die prognostizierte Bestandsbevölkerung im Jahr 2015 in der Türkei (80-100 Mio.) und Syrien (23 Mio.) sowie im Irak (33 Mio.) und Iran (87 Mio.), so repräsentieren diese Staaten der Region im energiepolitisch sensibelsten Konzentrationsraum der europäischen Ölversorgung mit einem Potenzial von ca. 200 Millionen Menschen rund 60 Prozent der EU-Bevölkerung im Vergleichsjahr.

Die bevölkerungspolitische Lage in Ostafrika weist mit durchgehend hohen Wachstumsraten und großen Bevölkerungszuwächsen die dramatischsten Steigerungen auf, wobei die Geburtenraten mit durchschnittlich sechs Kindern pro Frau in Ländern wie Äthiopien, Somalia, Kongo und Unganda im Zeitraum 2010-2015 ein Vielfaches über den europäischen Vergleichswerten (1,5 Kinder pro Frau) liegen. Folglich werden bis 2050 in der Region über 700 Mio. Menschen leben , die Mehrheit davon am Oberlauf des Nil in Äthiopien (186 Mio.). Aus sicherheitspolitischer Perspektive zeigen die Statistiken für Ostafrika ferner, dass sich entlang der strategischen EU-Handelsrouten hier die höchste Konfliktkonzentration aller afrikanischen Sub-Regionen mit den zugleich höchsten Flüchtlingsraten und Verlustziffern einstellte. Dabei zeigte der Verlauf des äthiopisch-eritreischen (Grenz-)Konfliktes während seiner entscheidenden Phase (Mai-Juni 2000) mit mehr als 80 000 Toten in nur zwei Wochen nicht nur die Eskalationsbereitschaft dieser Staaten, sondern auch eine früheren europäischen Konflikten diametral gegensätzliche Strategie der Kriegführung.

Migration als Krisen-Symptom

Im Zeitraum von 1965 bis 2000 vervielfachte sich das Potenzial der Migranten von ca. 75 auf 120 Millionen. Dies entspricht heute etwa der Staatsbevölkerung Nigerias. Mit den wanderungsbereiten Migranten stieg im Zeitraum 1970 bis 1990 auch die Zahl der Auswanderungsländer von 29 auf 55 und die der Zielländer von 39 auf 67. Entsprechend der Prognosen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) werden die Migrationsströme im 21. Jahrhundert auf hohem Niveau anhalten , weil die Waren und Kapitalzuflüsse aus den Industriestaaten nicht mehr ausreichen, um in den betroffenen Regionen neue Arbeitsplätze zu schaffen, die mit dem immensen Bevölkerungswachstum Schritt halten könnten. Die Arbeitsuchenden beginnen zu wandern und enden häufig als Entwurzelte in den urbanen Großräumen. Ein Blick auf die bevölkerungsspezifische Schichtung an unserer mediterranen Gegenküste lässt erkennen, dass bis 2025 ein sehr junges und politisch unerfahrenes Bevölkerungspotenzial heranwachsen wird, das sich arbeits- und lebenschancenbedingt nicht nur stark auf den Küstensaum konzentriert, sondern auch zeitnahe Zukunfts- und Wohlfahrtshoffnungen an die nachwachsendende Generation der Staatschefs stellt. Als Folge der Binnenmigration zeichnen sich nicht nur erste sozio-ökonomische Konsequenzen innerhalb der Abwanderungsgebiete ab, sondern auch eine kritische Verdichtung der urbanen Ballungsräume und Metropolen, die ihrerseits häufig auch als Startpunkt regionsübergreifender Migrationszyklen genutzt werden.

Die internationale Dimension der Migration hat im Zuge der Globalisierung daher nicht etwa ab-, sondern zugenommen und durch Wirtschafts- oder Arbeitsmigranten auf dem Landweg - neben den asiatischen Bootsflüchtlingen auf dem Seeweg - aus diversen ostafrikanischen Ländern mit Zielrichtung Nordafrika, dann Europa bereits eingesetzt. Aus europäischer Perspektive sind jährlich ca. 500 000 Arbeits- und Armutsmigranten zu erwarten, wobei die auftretenden Migrationsprobleme sich in erster Linie auf das zunehmende Potenzial illegaler Migranten und Asylsuchender konzentrieren werden, da der Menschenschmuggel innerhalb der organisierten Kriminalität zu einem der einträglichsten Geschäftszweige angewachsen ist und nach ILO-Angaben auf jährlich fünf bis sieben Milliarden US-Dollar geschätzt wird.

Urbanisierung und Metropolisierung

Im Zuge von Bevölkerungsentwicklung und ansteigender Migration zeichnet sich zunehmend deutlich auch die Tendenz zur Verstädterung ab. Vergleicht man den bisher erreichten Urbanisierungsgrad der Industriestaaten (76,6 Prozent) mit jenem der Entwicklungsländer (37,1 Prozent), so erscheint diese Zahl zunächst noch vergleichsweise gering. Bei genauerer Betrachtung treten gravierende infrastrukturelle und sozioökonomische Unterschiede hervor, die auf die Stabilität urbaner Großräume tief greifende Auswirkungen haben, denn in den Entwicklungsländern leben gegenwärtig schon zwei von drei Stadtbewohnern in den großen Metropolen . Ferner stieg der Anteil der Entwicklungsländer an der globalen städtischen Gesamtbevölkerung im Zuge einer exponentiellen Geburtenentwicklung von 1950 (39 Prozent) bis 2000 (70 Prozent) kontinuierlich an. Vorliegenden Prognosen entsprechend wird für den Zeitraum ab 2025 hierbei ein Wert von ca. 80 Prozent erreicht werden. Damit holen die Schwellenländer und die Staaten der Dritten Welt in rasantem Tempo auf und ziehen mit Europa in wesentlich kürzerer Zeit gleich, ohne über die in Europa simultan aufgebaute Infrastruktur, Industrialisierung und Versorgungskapazität zu verfügen.

Nachdem sich die Zahl der Millionenstädte von 1950 (72) über 1970 (156) bis 1990 (275) in 20-Jahres-Schritten jeweils in etwa verdoppelt hat, wird die Mehrheit der künftigen Millionenstädte in Staaten der Dritten Welt liegen. Am Beispiel nordafrikanischer Metropolen wird die Besorgnis erregende Konstellation besonders deutlich. Vier Metropolen werden ab dem Jahr 2015 mit einer Stadtbevölkerung von insgesamt 31 Millionen mehr Einwohner aufweisen als der gesamte skandinavische Raum einschließlich des Baltikums. Und Istanbul wird 2015 mit über zwölf Millionen Einwohnern das Bundesland Bayern einholen.

Damit unterscheidet sich der künftig zu erwartende Trend im nahöstlich-nordafrikanischen Krisenbogen signifikant von der jüngeren europäischen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Schon heute steht außer Frage, dass ein solcher Bevölkerungsanstieg und Urbanisierungsdruck sozialpolitisch und infrastrukturell mit hoher Wahrscheinlichkeit zu vielfachen Problemen und Konflikten führen wird. Da in vielen Ländern der Dritten Welt die Metropolen letztendlich den Staat repräsentieren, verstärkt die Dynamik aus Bevölkerungsentwicklung, Migration und Verstädterung als zusätzliche Faktoren die schon bestehenden staatlichen Erosions- und Zerfallsprozesse . Die überbevölkerten Städte können dann nur noch in sehr begrenztem Umfang weitere Migranten aufnehmen (Raumbedarf, Ausbrechen von Epidemien oder Brotkriegen etc.). Im Falle von internen und externen Krisen würde damit auch die Versorgungs- und Embargoanfälligkeit dieser (Stadt-)Staaten deutlich ansteigen.

Die extreme Verwundbarkeit dieser Großräume wurde durch die Bedrohung durch ballistische Raketen (Tel Aviv 1991) besonders deutlich. Während militärischer Konflikte wie in Gaza wird durch das Zusammenfallen von Siedlungen und Gefechtsfeld die Trennung von Bevölkerung und bewaffneten Streitparteien erschwert, ebenso die Bekämpfung substaatlicher Akteure, die im Rahmen solcher Szenarien durch die "Maskierungswirkung" in großen Städten (Mogadischu) taktische Vorteile erhalten. Im militärischen wie im katastrophenbedingten Krisenfalle könnten Megastädte nur unter schwierigsten Bedingungen - wenn überhaupt - vor einem Chaos mit hohen Opferzahlen bewahrt bzw. evakuiert werden. Da ferner ein nicht unerheblicher Teil dieser Ballungsräume in Küstennähe liegt, könnte die Zunahme der mit Klimaverschiebungen einhergehenden Naturkatastrophen sowie die von Experten unterschiedlich eingeschätzte Erderwärmung im Zusammenhang mit dem diskutierten Anstieg der Meeresspiegel neben den ohnehin schon bestehenden ökologischen Problemen kritische Situationen für die Bevölkerungen hervorrufen.

V. Folgerungen und Konsequenzen

Für die nächsten Jahrzehnte zeichnen sich zumal für die Entwicklungsländer dramatische wirtschaftliche und gesellschaftliche sowie sozio-ökologische Veränderungen ab. In viel stärkerem Umfang als jemals zuvor werden Krisenursachen nicht nur in einem regionalen Näheverhältnis stehen, sondern durch die verstärkte Interdependenz der Einzelfaktoren auch zu überregionalen Wirkungen führen. Der schon heute dicht besiedelte mediterrane Großraum entwickelt sich durch das weiterhin starke Bevölkerungswachstum primär der afrikanisch-nahöstlichen Anrainerstaaten bis 2015 zu einer der bevölkerungsreichsten Regionen der Welt. Die Versorgungszwänge der Megastädte und der ihnen zugeordneten Siedlungsgürtel können durch die steigende Industrialisierung und die Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion zu einem erhöhten Verbrauch des ohnehin schon knappen Oberflächen- und Grundwassers führen und damit zu verstärkter Importabhängigkeit. Die Frischwasserzuführung wird aus immer größeren Entfernungen mit immer höheren Kosten und nachhaltigen ökologischen Konsequenzen - wie derzeit schon in Libyen und Ägypten - erfolgen müssen. Dies kann zwischenstaatliche Spannungen angesichts vitaler Interessen zwischen den Nachbarstaaten verursachen. Aus diesem Grunde können sich ab 2015 bei den ostafrikanischen und nahöstlichen Anrainern neben der sich wachstumsspezifisch verschärfenden sozioökonomischen und ethnischen Fragmentierung Krisen und Konflikte abzeichnen, die im Vorfeld nur schwierig zu identifizieren sind.

Der trotz Aufforstung noch immer anhaltende Rückgang der Waldflächen in Nah-Mittel-Ost und in Ostafrika in Folge von Bodenerosion, die zunehmende Knappheit des Oberflächenwassers in Verbindung mit der partiellen Austrocknung oder Versalzung Grundwasser führender Sedimente, die Überweidung von Ackerböden und der damit zusammenhängende Rückgang landwirtschaftlicher Nutzungsflächen durch Desertifikation sowie die Zunahme des suburbanen Siedlungsraumes und seiner Slum-Zonen unterstreichen den Trend in eine labile, wenn nicht katastrophengeprägte ökologische wie sozio-ökonomische Zukunft. Dieser sich kaum noch zu steigernden Problemkonstellation sehen sich gewaltbereite junge Bevölkerungsschichten sowie unzureichend politisch und wirtschaftlich integrierte, drastisch unterfinanzierte, aber klassisch überrüstete Nationalstaaten gegenüber.

Dass aufgrund der zunehmend instabiler werdenden Gesamtkonstellation diverser Drittweltstaaten zwangsläufig Konflikte ausbrechen müssen, wäre gegenwärtig noch der falsche Schluss . Jedoch verstärkt die ungleiche Verteilung des Bevölkerungswachstums und die unterschiedliche Stabilität übervölkerter urbaner Großräume eine Reihe heute klar verifizierbarer Knappheiten. Die damit latent einhergehende Handlungseinschränkung geschwächter oder verletzter Staaten reduziert deren Absorptions- oder Abwehrfähigkeit bei ethno-religiösen Spannungen und erhöht die Fragmentierung sozialer Gruppen während Krisen- oder Notlagen. Im Endergebnis könnte die Interdependenz sozioökonomischer, gesellschaftlicher und ökologischer Krisenfaktoren ab 2015 nicht nur zu subregionalen Kettenreaktionen führen, sondern auch Konsequenzen nach sich ziehen, die das Stabilisieren der Lage durch eine geeignete westliche Krisenreaktion in viel stärkerem Maße mit weitaus längerfristigeren Mandaten in ungleich schwierigeren Szenarien erfordern könnte.

Die direkten, unmittelbaren Auswirkungen solcher leider wahrscheinlichen Zukunftsszenarien auf die davon betroffenen EU-Staaten werden wegen der geografischen Entfernungen, aber auch durch die begrenzten Schiffs- und Transportkapazitäten (Migration) in einem gewissen Maße beherrschbar bleiben, während die indirekten Auswirken ein breites Spektrum an Beeinflussungen annehmen können und die EU-Staaten im Blickfeld einer sensiblen Öffentlichkeit unter ethischen Handlungsdruck mit hohen Risiken setzen werden. Der Schutz der euro-atlantischen Stabilitätszone erfordert künftig umso stärker, dass die Abwehr nicht nur sicherheitspolitisch-militärischer Krisen weit vor den Grenzen des Bündnisses erfolgt. Neben der gebotenen Umstrukturierung der NATO-Streitkräfte im Rahmen der "Defence Capabilities Initiative" erfordert wirksame humanitäre Hilfe im Verbund mit klassischer militärischer Krisenreaktion enorme logistische Fähigkeiten sowie raumnahe und verlässliche strategische Partner. Vor dem Hintergrund eines breiten Spektrums von Gefährdungen und Risiken rücken maritime Präsenz- und Überwachungsaufgaben zur Eindämmung von Anschlägen, zum Schutz der Seehandelsrouten und strategischen Verbindungsachsen, zur Abhaltung oder Bekämpfung der in einigen Seegebieten stark zugenommenen Piraterie sowie zur Abstützung von Evakuierungsoperationen aus raumnahen Krisengebieten stärker in den Vordergrund.

Die Komplexität der Krisenreaktion im 21. Jahrhundert, die künftig über mehrere Konfliktebenen hinsichtlich wechselnder Akteure in komplexen Räumen unter Einschluss der Abwehr biologisch-chemischer Waffen und ballistischer Raketen reichen wird, unterstreicht das Erfordernis einer spezifischen Arbeitsteilung im Bündnis, in der den europäischen Verbündeten - koordiniert durch die EU - eine stärkere Gestaltungs- und Verantwortungsrolle zufallen wird. Die Definition krisenspezifischer Eventualitäten im "Hinterhof" der EU, in welche die USA nicht hineingezogen werden wollen, steht erst am Anfang einer langen sicherheitspolitischen Diskussion, an deren Ende ein stärkeres Europa nicht nur auf beiden Seiten des Atlantiks, sondern auch des Mittelmeeres gefordert ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dieser Beitrag enthält die Textfassung eines Referats des Autors vor dem nationalen Lehrgang Admiral-/Generalstabsdienst 2000 sowie vor dem Internationalen Clausewitz Zentrum an der Führungsakademie der Bundeswehr im Dezember 2000. 1 China, Nordkorea, Vietnam, Kuba.

  2. So etwa der Einmarsch ruandischer und ugandischer Truppen in die Demokratische Republik Kongo (DROC) sowie Ugandas in den Süd-Sudan ab 1998.

  3. UNITA = Union für die völlige Unabhängigkeit Angolas.

  4. RUF = Revolutionary United Front.

  5. Henry A. Kissinger, The Vietnam Negotiations, in: Foreign Affairs, 47 (1969) 2, S. 211-234.

  6. So kämpften bis zum ersten Quartal 2000 in Tschetschenien insgesamt 140 000 russische Soldaten gegen eine Rebellenfront von ca. 4 000 Mann.

  7. Afrika: 14 Kriege und bewaffnete Konflikte, Asien: 12. Auf beiden Kontinenten zusammen ereigneten sich 75 Prozent aller bewaffneten Konflikte weltweit.

  8. Vgl. Sigrid Faath/Hanspeter Mattes, Gewaltsame Konflikte in Nordafrika/Nahost: analytische Defizite, schwierige Früherkennung und limitierte Interventionsmöglichkeiten, in: Deutsches Orient Institut, Hamburg, Arbeitspapier 3/2001.

  9. MENA = Middle East and North African States.

  10. Hierunter versteht man Militäroperationen zwischen annähernd gleich strukturierten und armierten konventionellen Kräften von Kontrahenten, die hinsichtlich des Organisationsgrades, der Dispositive und Mittel sowie im technologischen Entwicklungsstand ohne Bewertung von Zeit und Raum graduell übereinstimmen.

  11. So etwa im Sudan, DROC u. a.

  12. Indonesien: Aceh-Konflikt, Afrika (Kongo, Sudan, Nigeria, Äthiopien).

  13. Datenbasis: mittlere Variante des UN-Weltbevölkerungsberichtes/World Population Prospects, The 2000 Revision, Population Division, Department of Economic and Social Affairs, United Nations, New York, 28. Februar 2001.

  14. Berechnet nach der mittleren Variante, vgl. World Population Prospects, The 2000 Revision, Population Division, Department of Economic and Social Affairs, UN HQ, 28. Februar 2001.

  15. Eine Entspannung der Lage setzt jedoch voraus, dass weltweit die Kinderzahl pro Frau von 2,82 Kindern (1995-2000) künftig auf 2,15 Kinder im Zeitraum 2045-2050 zurückgehen wird. Vgl. hierzu auch Manfred Wöhlcke, Konsequenzen des globalen Bevölkerungswachstums für die internationale Politik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 10/99, S. 21-29.

  16. Derzeit zählt Japan zu den Ländern mit der ältesten Bevölkerungsstruktur (Durchschnittsalter 41 Jahre), gefolgt von Italien, der Schweiz, Deutschland und Schweden (40 Jahre).

  17. Der derzeitige Anteil von 43 Prozent Kindern an der Bevölkerungsstruktur wird bis 2050 auf 28 Prozent absinken und der Anteil der Senioren ebenfalls stark zunehmen.

  18. Während die Bevölkerungen der Ukraine und Georgiens stark absinken, steigen die Zahlen in Usbekistan, Tadschikistan, Kirgisien und Turkmenistan weiter an.

  19. Auf einem besonders hohen Niveau findet das Wachstum gegenwärtig in den besetzten palästinensischen Gebieten (3,59 Prozent), in Jordanien (2,80 Prozent) und Syrien (2,50 Prozent) statt.

  20. Nordafrika: Mauretanien, Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, Sudan und Ägypten; Naher Osten: Israel, Jordanien, Libanon, Syrien, Iran, Irak, Palästin. Autonomiegebiete; Ostafrika: Äthiopien, Eritrea, Djibouti, Somalia, Kenia, Uganda, Tansania, Burundi, DROC; EU-Beitrittskandidaten: Estland, Litauen, Lettland, Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Rumänien, Bulgarien, Slowenien, Zypern, Malta, Türkei. Die Zahlen von 1970(1) und 1995(2) sind dem Human Development Report der UNDP 1998 entnommen.

  21. Demokratische Republik Kongo (ca. 200 Mio.), Uganda (ca. 100 Mio.).

  22. Vgl. ILO-Studie "Workers without Frontiers - The Impact of Globalization on International Migration", Genf 2000.

  23. Korrespondierend zur VN-Terminologie werden Städte ab eine Million Einwohner als Metropolen und städtische Großräume ab acht Millionen Einwohner als Megastädte bezeichnet.

  24. Im Rahmen einer stichpunktartigen Länderbetrachtung der Verstädterungsgrade verwischen sich die typischen Kontraste zwischen den ungleichen Hemisphären, da sich hier die bislang erreichten Zahlen annähernd gleichen (USA 36,2 Prozent, Griechenland 34,3 Prozent, Libyen 45,5 Prozent, Syrien 30,1 Prozent).

  25. Kairo 14 Millionen, Khartoum 5, Algier 7, Casablanca 5.

  26. Das sind u. a. etnische Fragmentierung, Korruption, Klientelismus, wirtschaftliche Talfahrt, schleichende Auflösung der staatlichen Ordnung und Infrastruktur etc. wie in der Demokratischen Republik Kongo, Äthiopien, Kenia, Somalia.

  27. Vgl. Auswärtiges Amt (Hrsg.), Zweites Forum Globale Fragen, Humboldt Universität, Berlin 1999.

  28. Mangelnde Legitimität der Staatsführung, veraltete Infrastrukturen, korrupte und klientelistische Bürokratie, Fragmentierung der Gesellschaft durch ethnische Spannungen, mangelnde wirtschaftliche Leistungskraft etc.

Dipl. sc. pol., geb. 1956; Leiter des Instituts für Politik und Internationale Studien (IPIS) in München; Mitglied des Internationalen Instituts für Strategische Studien (IISS) in London.

Anschrift: Institut für Politik und Internationale Studien (IPIS), Zweibrückenstr. 8, 80058 München.

Veröffentlichung u. a.: Friedenssicherungsmechanismen und sicherheitspolitische Instrumentarien der Vereinten Nationen und der KSZE: eine vergleichende Analyse, in: Wolfgang Heydrich u. a. (Hrsg.), Stabilität, Gleichgewicht und die Sicherheitsinteressen des vereinigten Deutschland, Ebenhausen 1991.