Einleitung
Vom "erweiterten Sicherheitsbegriff" über die "Mission der Friedensunterstützung" führt seit 1992 ein abschüssiger Weg in die "ethno-territorialen" und "religiös-ethnischen" Konflikte, die seit dem Ende des Kalten Krieges am Rande Europas auf den Bruchlinien der historischen Verwerfungen aufgebrochen sind oder noch aufbrechen könnten. Der Weg war für die "Westeuropäische Union" (WEU) zur Beteiligung an internationaler Krisenbeherrschung abgesteckt worden. Sie sollte die amerikanische Schutz- und Führungsmacht in europäischen Randkrisen geringen Konfliktrisikos entlasten, ohne der NATO Kräfte zu entziehen oder deren Aufgaben zu übernehmen.
Für das Nordatlantische Bündnis schien der Weg von der im Ost-West-Konflikt gegen die Sowjetmacht behaupteten "kollektiven Verteidigung" an den Bündnisgrenzen auf das weite, von der Bündnispolitik noch nicht vermessene Feld der "kollektiven Sicherheit" zunächst weder vorgezeichnet noch überhaupt gangbar. Gerade deshalb hatten die europäischen Bündnispartner sich in ihrer WEU über die Prinzipien für eigene Beiträge zur internationalen Sicherheit auch mit militärischen Mitteln auf ein Rahmenprogramm für Missionen europäischer Streitkräfte verständigt. Doch sehr früh meldeten sich Stimmen in Washington zu Wort, die von der militärischen Defensivallianz ein Engagement über ihre bisherige Verteidigungsdoktrin in Europa hinaus verlangten: "Out of area or out of business" lautete das griffige Schlagwort des amerikanischen Senators Lugar: "Aus dem Bündnisgebiet heraus oder aus dem Geschäft." Diese neue Allianzparole fand in Westeuropa ein zunächst geteiltes Echo. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, Italien und Spanien wurden Vorbehalte gegen eine Veränderung der Bündnispolitik laut.
Auch die hohen Militärs zeigten eine deutliche Zurückhaltung. Der damalige Vorsitzende des NATO-Militärausschusses Richard Vincent und der britische Generalstabschef Peter Inge - die beiden letzten Feldmarschälle der britischen Armee - zögerten sehr vor einem Eingreifen alliierter Truppen in Bosnien, wo ein britisches Kontingent der UNPROFOR als stärkstes nationales Element neben dem französischen in einem ethnisch-religiösen Bürgerkrieg hoher Intensität zwischen den Fronten stand. Beide Feldmarschälle hatten seit den fünfziger Jahren von Ägypten über Zypern bis nach Ulster im nordirischen Bürgerkrieg gedient und kannten die problematischen Bedingungen solcher Konflikte für Soldaten genau. Sie hatten für das britische Kontingent in Bosnien in der UNPROFOR schwere Waffen, besonders Kampfpanzer und Artillerie, durchgesetzt, um ihren Soldaten Feuerschutz zu geben. Aber dies sollte nach ihrer Ansicht keinen Eingriff der NATO als Ganzes auf dem Balkan nach sich ziehen, denn wie Feldmarschall Vincent gemeinsam mit dem amerikanischen Oberbefehlshaber in Europa, General Joulwan, zu bedenken gab: "Soldaten sind keine Polizisten" und die NATO "keine Polizeiorganisation". General Joulwan, der ein Jahr später den Oberbefehl über die NATO-Kräfte in Bosnien führte, forderte im ehemaligen Jugoslawien "eine Gendarmerie", die weder die USA noch die NATO hatten (oder heute haben). Noch Anfang 1994, als die alliierten Luftstreitkräfte von Italien aus Luftraumüberwachung über Bosnien flogen, um das Militärflugverbot der UNO durchzusetzen, dazu auch auf UN-Antrag kurze Demonstrationsflüge zur Abschreckung von Angriffen auf UN-Truppen, war die Botschaft aus den Hauptquartieren noch klar: kein Eingreifen der Allianz mit Truppen auf dem Terrain innerstaatlicher Konflikte, ob ideologischer, ethnischer oder religiöser Natur.
Aber binnen nur zweier Jahre fanden die Verbündeten sich angesichts der Bürgerkriegsgräuel im zerfallenden Jugoslawien bereit, den Vereinten Nationen mit deren wehrlosen "Schutztruppen", die nicht einmal sich selbst wirklich schützen konnten, zu Hilfe zu kommen, später die UNO durch die NATO zu ersetzen. Dies geschah anfangs von Etappe zu Etappe zögernd, doch schließlich im Spätsommer 1995 in Bosnien mit Luftangriffen und der "Allied Rapid Reaction Force" bei Sarajevo, dann abermals im Frühjahr 1999 durch Luftangriffe im Kosovo und gegenüber Serbien-Montenegro, in beiden Fällen zur Beendigung von Bürgerkrieg zwischen verfeindeten Volksgruppen bzw. Ethnien.
Die NATO fand sich also nicht nur als offensiv operierende Interventionsallianz wieder, sondern engagiert in inneren, ethno-territorialen und religiös-ethnischen Konflikten hoher Intensität und vielschichtiger Komplexität - Konflikte, für deren Ausfechtung und Regelung sie auch als Instrument der Politik nicht geschaffen, auf die sie nicht vorbereitet war. Was auf dem Balkan geschah, war ein Schritt über den Rubikon von der gemeinsamen Verteidigung des europäischen Bündnisgebietes zur gemeinsamen Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines fremden Staates.
Es handelte sich nicht nur um die Beendigung schwerster Menschenrechtsverletzungen, sondern danach auch um Trennung und Schlichtung zwischen Bevölkerungsgruppen, die sämtlich entweder nach einem eigenen Staat oder nach der Vereinigung mit einem anderen ihrer eigenen "Ethnie" bzw. religiös geprägten Kultur strebten. Hierin lag die Schwierigkeit für die Alliierten (wie für die EU-Partner). Die Vorstellung, es handle sich um eine internationale Polizeiaktion, ist ebenso falsch wie die von einer militärischen Operation mit begrenzten Zielen: Die Polizei stellt nur die Ordnung wieder her und setzt so das Gesetz durch. Die Folgen überlässt sie der Justiz und der Regierung. Die Armee führt Krieg gegen einen Feind bzw. verhindert ihn durch ihr Eingreifen, überlässt dann aber das Feld der Politik. Die NATO als landfremdes Bündnis kann zwar vom Krisenschauplatz nach getaner Arbeit wieder abziehen - aber welcher Regierung kann sie den Konflikt überlassen und für welche Politik, da sie doch selbst die Politik mitgebracht hat und eine neue Regierungsgewalt nach ihren Vorstellungen einzusetzen sucht?
Doch Eingreifen heißt Durchgreifen, und Durchgreifen bedeutet Partei ergreifen, um eine bestimmte politische Lösung des Problems durchzusetzen. Dafür muss die Intervention über die Militärmachtanwendung hinaus fortgesetzt werden mit politischen Mitteln und zivilen Institutionen. Dies bedeutet im Kosovo seit Juni 1999 wie in Bosnien seit Dezember 1995 eine Kombination von Militärpolizei, Pionierdienst, Fernmeldedienst, technischer Nothilfe und Sanitätsversorgung der Bevölkerung.
Kann die NATO dies über längere Zeit tun und darüber hinaus indirekt durch ihre Militärpräsenz auf dem Terrain die Eingrenzung und Abschwächung, im Idealfall die Beilegung ethnischer Gegensätze gewährleisten? Kann sie die Erfüllung solcher politischen und zivilen Aufgaben durch ihre die Gewalt abschreckende und beruhigende Anwesenheit wenigstens erleichtern?
Die Antwort ist weder einfach noch zwingend. Auch ein Bündnis, das außerhalb seiner eigenen Verteidigungsdoktrin militärisch aktiv wird - etwa um gemeinsame Interessen im Sinne der amerikanischen Formel von "common vital interests" zu wahren -, muss sich fragen, ob es in ethnische Konflikte in fremden Ländern eingreifen will und die dafür geeigneten Mittel besitzt und anwenden kann. In Bosnien ist die Intervention im Großen und Ganzen gelungen und bisher die Besatzung durch die SFOR ein relativer Erfolg der Stabilisierung der Lage im vereinbarten Friedenszustand. Aber die SFOR kann auf absehbare Zeit ohne Risiko für den prekären Friedenszustand weder abgezogen und durch eine internationale Polizei ersetzt noch auch weiter deutlich reduziert werden. Also steht die NATO in einem von ihr eingeengten ethno-territorialen Konflikt an der Grenze ihrer Wirksamkeit und Nützlichkeit.
Im Kosovo - und schon im Ansatz erkennbar im benachbarten Mazedonien - ist die Lage seit bald zwei Jahren im Kern nicht anders. Die Sympathien der Bevölkerungsgruppen gegenüber der NATO und ihrer KFOR sind unsicher wie der von außen auferlegte Frieden. Doch die albanische Bürgerkriegspartei im Kosovo hat sich mit dieser Lösung ebenso wenig identifiziert wie die serbische. Die Soldaten der NATO - damit auch die NATO als Bündnis - stehen zwischen Minen und verfeindeten ethnischen Gruppen, wobei die Souveränität Serbien-Jugoslawiens gegen den Willen der nach Unabhängigkeit strebenden Kosovo-Albaner von der NATO gewahrt werden soll. Die KFOR steht also politisch zwischen den Fronten und kann von den Extremisten beider Seiten jederzeit zum Ziel ihrer Angriffe gemacht werden.
Zwar haben die Alliierten eine gemeinsam erklärte Politik im Falle des Kosovos wie Bosniens: im Kosovo Wiederherstellung der internen Autonomie als Teil Serbien-Jugoslawiens, in Bosnien-Herzegowina Erhaltung des 1995 in Dayton gestifteten multi-ethnischen Bundesstaats mit zwei autonomen Teilen (von denen einer sich wieder aufzulösen droht). Doch kann schon der Status quo des Waffenstillstands ohne die NATO-Militärpräsenz und deren Bindewirkung auf die übrigen Partner der internationalen Schutztruppen nicht aufrechterhalten werden.
Das militärische Engagement der NATO bedeutet also eine langfristige Präsenz bei offenem Ende der politischen Entwicklung des ethnischen Konflikts. Das Experiment Balkan wird heute schon in Brüssel als nicht wiederholbar bezeichnet, und die offene Frage, wann es mit welchem Resultat in der Zukunft bei welchen Risiken beendet werden kann, bleibt ohne gemeinsame Antwort der Alliierten. "In together, out together" oder "gemeinsam hinein, gemeinsam heraus", wie der US-Außenminister General a. D. Colin Powell den über Präsident Bushs erklärte Neigung zum Abzug, jedenfalls zur Verringerung der US-Truppen auf dem Balkan beunruhigten NATO-Partnern versicherte, ist eine Solidaritätsparole der Alliierten, aber keine Antwort auf die Frage, wie dieses Engagement zweckmäßig mit Aussicht auf einen haltbaren Erfolg beendet werden kann. Diese unklare Perspektive lädt die NATO nicht zur Wiederholung in ähnlichen Fällen ein: Ethnische oder ethno-territoriale und ethno-religiöse Konflikte sind keine geeigneten Anlässe und Herausforderungen für Bündnisaktionen durch Stationierung alliierter Truppen außerhalb der NATO-Grenzen als internationale Sicherheitspräsenz.
Vor dem Berliner Kongress von 1878 über eine neue Grenzziehung auf dem Balkan nach dem russisch-türkischen Krieg vom Wiener Außenministerium befragt, wie lange es dauern würde, um Bosnien zu befrieden, antwortete der k. u. k. Generalstab: wenigstens 30 Jahre. 1908 explodierte Bosnien unter österreichischer Besatzung abermals in einer Rebellion. Ethnische Konflikte haben alte Ursachen und ein emotionales Potenzial, die sich kurzfristiger Behandlung durch äußeren Druck und gezielte Eingriffe ebenso entziehen wie gutem Zureden. Deshalb sollte die NATO sich in akuten Krisen nicht über einen ersten, etwa in der Not (wie 1995 nach allzu langem Zuwarten in Bosnien und 1999 ein Jahr zu spät im Kosovo gegen Belgrad) unvermeidlich werdenden Eingriff hinaus engagieren, sondern die Regelung solcher Konflikte der OSZE oder der EU überlassen.