I. Pluralisierung der Erwerbsformen
Industrielle Arbeitsgesellschaften befinden sich in einem tief greifenden Wandel. Digitalisierung und Globalisierung sind die einschlägigen Stichworte. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir generell von einer Krise der Arbeit oder von einem Abschied von der Arbeitsgesellschaft sprechen können
Wenn wir davon sprechen, dass die Organisation gesellschaftlicher Arbeit in eine Krise geraten ist, dann geht es heute nicht vorrangig darum, ob wir genug Arbeit "haben" (was selbstverständlich wichtig ist). Auch wenn die Vermutung zutreffen sollte, dass das Volumen der Erwerbsarbeit langfristig tendenziell abnimmt
Wir können von einer Pluralisierung bzw. Diversifizierung der Erwerbsformen und einem Wandel des Normalunternehmertums sprechen. Die bisher strikte Trennung zwischen abhängiger und selbstständiger Erwerbstätigkeit löst sich auf, und es werden im Verlaufe des Erwerbslebens unterschiedliche Tätigkeiten ausgeübt, nacheinander, teilweise auch nebeneinander. Verschiedene Erwerbsformen dieser Art können sich zeitlich überlagern: Mikrounternehmer sind unter Umständen zugleich abhängige Beschäftigte und Firmeninhaber - in der negativen Variante dauerhafte Scheinselbstständige. Folglich werden Männer wie Frauen zukünftig unterschiedliche Arbeitsfelder flexibel miteinander kombinieren und aufeinander abstimmen müssen. Bereits heute gibt es nicht mehr nur einen "sicheren" Beruf und eine "feste" Arbeitsstelle, sondern vielfältige Arbeitszusammenhänge; man "hat" keine Arbeit, sondern Fähigkeiten und Qualifikationen, um in unterschiedlichen Erwerbsfeldern tätig zu sein; man lernt nicht ein für alle Mal für den Beruf, sondern lebensbegleitend. Die Folge ist, dass Menschen ihr berufliches Umfeld häufig wechseln werden, dass Übergänge zwischen unterschiedlichen Arbeits- und Beschäftigungsformen nicht gelingen und dass'oft nicht einkalkulierte Unterbrechungen auftreten.
II. Wandel der Lebensführung durch Dezentrierung der Erwerbsarbeit
Doch nicht nur die Organisation der Arbeit, auch die Einstellung der Menschen zur Arbeit hat sich verändert. Von einem generellen Bedeutungswandel der Arbeit zu sprechen wäre jedoch zu unpräzise. Wir müssen zwischen dem instrumentellen Charakter der Arbeit (Gelderwerb und Status) und ihrem Sinngehalt unterscheiden (das, was die Menschen der Arbeit zuschreiben oder in ihr suchen). Auf der einen Seite können wir aus instrumenteller Perspektive eine nach wie vor hohe und ungebrochene Erwerbsorientierung beobachten. Die Menschen wollen also arbeiten - dies hat sich in den letzten Jahrzehnten nicht verändert, und die Behauptung des Gegenteils wird durch häufiges Wiederholen oder durch Argumentation an prominenter Stelle
III. Die neuen Arbeitsgestalter
Mit dem Wandel in der Arbeitswelt und der Lebensführung entsteht ein neuer Typus von Erwerbstätigen: Menschen sind immer weniger Arbeitnehmer - sie werden zu Arbeitsgestaltern. Die Figur des Arbeitsgestalters ist historisch nicht neu. Wir finden sie in den theoretischen Debatten der siebziger Jahre um "Anders arbeiten - anders wirtschaften" (Joseph Huber 1979), in denen die gestalterischen Elemente von Arbeit gleichsam zum Prinzip einer neuen Lebensführung erhoben wurden. Auch in diesem Kontext wurde nach Erwerbsformen mit einem höheren Grad an Selbstständigkeit (und Selbstverwirklichungselementen) gesucht und ein bewusstes Zusammenführen von Leben und Arbeiten angestrebt. Pluralisierung von Erwerbsformen und Entgrenzung der Arbeit wurden längst diskutiert und praktiziert, bevor es eine Debatte um Flexibilisierung der Arbeit und Lebensverhältnisse gab. Sozialhistorisch neu ist, dass die Notwendigkeit (oder der Wunsch) zur Arbeitsgestaltung nun aus der Mitte der Gesellschaft kommt und nicht als "alternativ" oder "anders" apostrophiert wird. Es ist nicht der Gegenentwurf zur entfremdeten Lohnarbeit, der von (selbst ernannten) Außenseitern der Gesellschaft formuliert wird, sondern ein Formwandel der Organisation gesellschaftlicher Arbeit, der im Kern stattfindet und sowohl von hoch qualifizierten Eliten als auch von gering Qualifizierten praktiziert wird.
Arbeitsgestalter sind, wie häufig in extremer Weise (und negativ) formuliert, auch keine Arbeitskraftunternehmer
IV. Entgrenzung der Arbeitsgesellschaft und das normative Gerüst der Tätigkeitsgesellschaft
Eine Dezentrierung der Erwerbsarbeit bedeutet -'dies klingt paradox - eine Ausweitung der Arbeitsförmigkeit von Tätigkeiten: Man spricht bereits von Erziehungs-, Pflege-, Familien- oder Bürgerarbeit. Aus dieser Perspektive können wir von einer zunehmenden Ausdehnung bzw. Entgrenzung der Arbeitsgesellschaft und damit der Einlösung ihrer Verheißungen sprechen: Arbeit und Leistung bestimmen weite Teile unseres Lebens, nicht etwa Abstammung oder andere traditionelle Ordnungsmuster und Zuweisungsmechanismen. Die Arbeitsgesellschaft hat ihre bisherigen Grenzen, die durch die Dominanz der Erwerbsarbeit gleichsam gesetzt waren, überschritten und wirkt nun bis in den letzten Winkel des Lebens hinein. Wir sind weit entfernt von einem "Ende der Arbeitsgesellschaft".
Damit ist in gewisser Hinsicht das eingetreten, was von feministischer Seite oder Theoretikern der Tätigkeitsgesellschaft schon lange diskutiert wurde
So beobachten wir gleichzeitig eine sich absetzende Gegenbewegung zur Überformung der persönlichen Lebensführung durch Arbeit. Oder anders formuliert: Es gibt nach wie vor Verharrungstendenzen gegen eine Entgrenzung der Arbeit. Die Menschen betonen einen Grundunterschied zwischen Erwerbsarbeit und nichterwerbsbezogenen Tätigkeiten und Lebensbereichen sowie den eigenständigen Sinngehalt dieser anderen Tätigkeits- und Lebensfelder. Das Konzept der Bürgerarbeit
Eine Gesellschaft, in der nicht mehr der Arbeitnehmer, sondern der Arbeitsgestalter zum zentralen Typus wird und in der Arbeit tendenziell ihrem "ehernen Gehäuse" der Erwerbsarbeit entweicht, ist weder mit dem traditionellen Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis noch mit dem Arbeit-Kapital-Gegensatz hinreichend zu beschreiben. Es handelt sich nach wie vor um eine Arbeitsgesellschaft, die durch Arbeitsbeziehungen strukturiert ist und in der sich die Menschen über Arbeit definieren - aber nicht mehr vorwiegend über den industriellen Typus von Arbeit. Zygmunt Baumann beschreibt treffend, wie sich die Agrargesellschaft zur industriellen Hardware-Gesellschaft und schließlich zur Software-Gesellschaft wandelte
V. Bürgerengagement schafft Sozialkapital
Eine zentrale Säule sozialer Integration besteht in dem sozialen Zusammenhalt in einer Gesellschaft. Analog zum Bildungskapital spricht man von sozialem Kapital. Soziales Kapital umschreibt - allgemein formuliert - die Fähigkeit einer Gesellschaft, den sozialen Zusammenhalt (von Institutionen und Menschen) zu bewirken
Auf der individuellen Ebene geht es um die Fähigkeit der Menschen, private und berufliche Kontakte einzugehen und aufrechtzuerhalten, also mit anderen Personen zusammenzuleben und zu arbeiten. Soziales Kapital existiert aber auch auf der mittleren Beziehungsebene der Vereine, Verbände, Parteien sowie im Bereich der gesellschaftlichen Großorganisationen (Mesobereich). Dies bedeutet anders formuliert, dass alle Gesellschaftsmitglieder zur sozialen Kapitalbildung beitragen können, einzelne Personen ebenso wie große Bürokratien oder Unternehmungen. Analytisch gesehen macht es keinen Unterschied, ob sich Menschen nur eigennützig verhalten und so den sozialen Zusammenhalt gefährden, ob bürokratische und rechtliche Rahmenbedingungen Bürgerengagement und andere Zusammenschlüsse behindern oder Wirtschaftsunternehmen sich in ruinöser Konkurrenz befinden und in dieser Weise das komplexe Gefüge des Wirtschaftssystems beeinträchtigen. Eine sozial integrierte Gesellschaft braucht Menschen, die sich auf vielen Ebenen - beruflich und privat - engagieren und vertrauensvoll miteinander umgehen, und auch Betriebe, die in der Lage sind, mit anderen Institutionen und untereinander zu kooperieren
Bürgerengagement
Es gilt allerdings zu beachten, dass Bürgerengagement nicht nur sozialintegrativen Charakter hat. In Deutschland dominiert die Rezeption der amerikanischen Sichtweise auf Prozesse der Humankapitalbildung. Dabei verzichtet man weitgehend auf den französischen Diskussionskontext, der den Vorteil bieten würde, Humankapital in einem umfassenderen Sinne, nämlich eingebettet in einen gesellschaftstheoretischen Rahmen, zu analysieren. Aus dieser Perspektive würden positive und negative Effekte der Humankapitalbildung sichtbar werden, und es stünde theoretisch gehaltvolles und empirisch überprüfbares Instrumentarium zur Verfügung, das die Analyse der Genese von Kapitalien auf der individuellen und gesellschaftlichen Ebene erlaubt
VI. Wirtschaftliches Handeln hat zivilgesellschaftliche Dimensionen
Der Typus des souveränen Arbeitsgestalters kann sich nur entwickeln, wenn sich Partizipationsmöglichkeiten (und entsprechende Zugangschancen) für einen breiten Personenkreis erweitern. Die Neue Arbeitsgesellschaft kann zugleich eine zivile Arbeitsgesellschaft sein, die sich nicht nur durch globale Wettbewerbsfähigkeit auszeichnet, sondern auch durch ein hohes Niveau von Humanressourcen. Notwendig (aber nicht hinreichend) wäre ein Paradigmenwechsel im Hinblick auf die Definition wirtschaftlichen Handelns und wirtschaftlicher Institutionen. Wenn wir (wie oben gezeigt) zugrunde legen, dass die Trennung von Arbeit und Leben - Wirtschaft und Gesellschaft - eine Erscheinung der industriellen Moderne ist und dass diese Bereiche nun durch Pluralisierungs- und Entgrenzungsprozesse stärker zusammenwachsen, dann bedeutet dies in einem handlungstheoretischen Sinne, dass sich auf der Mikroebene wirtschaftliches Handeln immer weniger von anderen Formen des sozialen Handelns unterscheidet. Empirisch finden wir dafür viele Beispiele, denn wirtschaftliches Denken hat den Alltag längst überformt. Auch der Typus des Arbeitsgestalters deutet darauf hin, dass diese beiden Handlungsmuster immer weniger trennscharf sind. Dies gilt auch in umgekehrter Wirkrichtung, wenn etwa die soziale Dimension im Bereich des Dritten Sektors das (erwerbs)wirtschaftliche Handeln bestimmt.
Damit stellt sich die Frage nach dem zivilgesellschaftlichen Charakter von Handlungen in einer neuen Weise. Bislang galt wegen der Trennung von Wirtschaft und Gesellschaft unhinterfragt die Unterscheidung von zwei Handlungssphären, in denen entweder das Handlungsmuster des Bourgeois oder des Citoyen wirksam wird. Wenn nun aber eine Entgrenzung stattfindet, dann ist nicht mehr eindeutig entscheidbar, in welchem Falle auf der Mikroebene zivilgesellschaftliche Handlungsweisen vorliegen und auf der Makroebene von zivilgesellschaftlichen Institutionen gesprochen werden kann. Entgrenzung bedeutet, dass in dieser Frage eine kaum noch zu überschauende Grauzone entstanden ist. Zu fragen ist dann beispielsweise, ob Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände nicht in selbstverständlicher Weise als zivilgesellschaftliche Formationen oder staatsbürgerschaftliche Vereinigungen zu betrachten sind - und ob Wirtschaftsunternehmen nicht auch in einigen Dimensionen ihres Tätigkeitsfeldes zivilgesellschaftlichen Charakter haben. Dann ist es aber nur konsequent, auch einen veränderten Blick auf die zivilgesellschaftliche Verantwortung von Wirtschaftsunternehmen zu werfen, die sich nicht nur auf die bekannten staatsbürgerschaftlichen Rechte und Pflichten bezieht, sondern darüber hinaus auf die wirtschaftlichen Aktivitäten selbst. Damit wird das typische Wirtschaftsunternehmen nicht zu einer gemeinnützigen Veranstaltung Ehrenamtlicher umdefiniert, es wird aber anerkannt, dass wirtschaftliches Handeln in hohem Maße zivilgesellschaftliche Züge trägt.
Wenn wir einen solchen Paradigmenwechsel in Bezug auf wirtschaftliches Handeln und wirtschaftliche Institutionen vornehmen, dann bedeutet dies, eine zivile Variante der Arbeitsgesellschaft als eine mögliche zukünftige Ausprägung der Neuen Arbeitsgesellschaft ins Auge zu fassen (die über das Konzept einer Tätigkeitsgesellschaft hinausreicht). Es ginge darum, Regeln des zivilgesellschaftlichen Zusammenlebens und Handlungsmuster des souveränen Bürgers gleichsam in das Wirtschaftsleben zu implementieren. Statt nur - wie oben bereits angedeutet - in den klassischen Widersprüchen zwischen Arbeit und Kapital und deren Disziplinierung durch Konflikt und Kontrakt zu denken (dies ist, wie etwa Tarifpolitik, in vielen Bereichen nach wie vor notwendig!), ginge es bei diesem Paradigmenwechsel gleichsam darum, die zivilgesellschaftlichen Dimensionen wirtschaftlichen Handelns und wirtschaftlicher Institutionen auszuloten. Im Hinblick auf die Interessengegensätze von Arbeit und Kapital gibt es bereits viel versprechende Ansätze, wie beispielsweise das Bündnis für Arbeit - wie unzulänglich und wenig wirksam es in der Praxis auch zeitweise sein mag, weil mediatorische Elemente des Interessensausgleichs fehlen.
Unternehmerisches Handeln kann wie die Aktivitäten anderer Gruppen auf dem Weg in eine zivile Arbeitsgesellschaft eine wichtige Rolle spielen. Dies soll hier abschließend thematisiert werden. Unternehmen können in vielfältiger Weise soziale Integration bewirken, nicht nur durch klassisches wirtschaftliches Handeln, das auf gesellschaftlicher Ebene Wertschöpfung bewirkt und auf der individuellen Ebene Einkommen, Anerkennung und sozialen Status schafft. Sie können zusätzlich in Humankapital "investieren", um einerseits einen höheren Unternehmensgewinn zu erzielen und andererseits zivilgesellschaftliche Werte zu schaffen, die ihnen selbst und den Mitbürgern zuträglich sind. Dass Bildungsinvestitionen in jeder Hinsicht und für alle Beteiligten von großer Bedeutung sind, ist heute weder in der Forschung noch in der Praxis umstritten; die Bedingungen unternehmerischen Handelns haben sich dergestalt verändert, dass Sozialkapitalinvestitionen ebenfalls notwendig werden: für die Unternehmen, die Beschäftigten und für das soziale Umfeld.
VII. Humanressourcen
Auch die Unternehmen sind in der Neuen Arbeitsgesellschaft in einer radikal anderen Situation als in der industriellen Phase des 19. und 20. Jahrhunderts, und zwar sowohl in ihren Außen-, als auch in ihren Innenbeziehungen. Sie stehen heute mit vielen anderen in einem globalen Wettbewerb, in dem sie sich positionieren und darstellen müssen. Unternehmen suchen deshalb nach einer Identität und unverwechselbaren Assoziationsmustern, die sich mit ihrem Namen verknüpfen. Dazu gehört, neben der ökologischen Dimension auch soziale Belange in das unternehmerische Handeln einzubeziehen. In der Zwischenzeit gibt es bereits ein weltweites Global Business Responsibility Resource Center, das ethische Standards sozialer Verantwortung herausarbeitet, in einem weiten Kreis von Unternehmen verbreitet, verbindlich macht und beispielsweise in diesem Rahmen jährlich The 100 Best Corporate Citizens auszeichnet
Im betriebsinternen Bereich sind im Wesentlichen zwei Sachverhalte von Bedeutung. Zum einen muss sich in den Unternehmen ein soziales Wissen herausbilden, um den komplexen Informationsfluss höchst unterschiedlicher Wissenskanäle zu bündeln und optimal einzusetzen. Zum anderen wird es immer notwendiger, ein sozialverträgliches Klima zu schaffen, das über die einzelfallbezogene Form der betrieblichen Sozialberatung oder des Sozialmanagements hinausreicht. Es geht um mehr als die Vermeidung so genannten abweichenden Verhaltens im betrieblichen Geschehen, es geht um die Schaffung von Strukturen sozialen Zusammenhalts durch die Gestaltung eines dynamischen sozialen Gefüges. Beides erfordert aufseiten der Mitarbeiter besondere Sozialkompetenzen, nämlich die Fähigkeit, unterschiedliche (Lebens-/Arbeits-)Erfahrungen im Hinblick auf die Unternehmensorganisation zu integrieren. Die zentrale Einsicht ist allseits, dass diese Fähigkeiten im betrieblichen Ablauf nicht von selbst entstehen. Deshalb ist es in diesem Feld zu einer Flut von teils seriösen, oft aber unzureichenden und kuriosen (außer)betrieblichen Weiterbildungsmaßnahmen gekommen. Diese sind nicht nur von zweifelhafter Qualität, es kommt hinzu, dass es sich fast ausschließlich um "Trockenübungen" handelt, weil nicht im Arbeitsprozess oder im Bereich der privaten Lebenserfahrungen gelernt wird. Praktische Lern- und Erfahrungsfelder dieser Art liegen gleichsam vor den Betriebstoren, in den vielfältigen Feldern des Bürgerengagements.
An dieser Stelle greift das Konzept des unternehmerischen bürgerschaftlichen Engagements (UBE), das die genannten Anforderungen miteinander verknüpft und in zwei Richtungen wirksam wird. Es zielt im außerbetrieblichen Bereich darauf ab, durch das Bürgerengagement des Unternehmens ein ethisch verantwortungsvolles Verhältnis zu den Kunden und Geschäftspartnern aufzubauen, das stabiler ist als der rein wirtschaftlich motivierte Zusammenhalt. So entstehen zivilgesellschaftlich fundierte Vertrauensbeziehungen. Im Binnenverhältnis können Unternehmen das Bürgerengagement der Mitarbeiter fördern und somit neue Lern- und Engagementfelder etablieren. Dass es in hohem Maße sinnvoll ist, in beiden Dimensionen aktiv zu werden, zeigen Erfahrungen in einigen europäischen Ländern sowie in den USA und Kanada. In diesen Ländern gehört es zur Normalität, was in Deutschland bislang wenig bekannt ist: Corporate Citizenship. Dies hat sich in den vergangenen Monaten geändert: Es gibt erste (noch laufende) Untersuchungen zu diesem Thema
Beim unternehmerischen Bürgerengagement steht weder das Sponsoring (in Kultur, Sport oder anderen werbeträchtigen Bereichen) im Vordergrund noch die karitativ motivierte finanzielle Alimentierung sozialer Einrichtungen durch Spenden. Dies sind durchaus wichtige Unterstützungsformen, es ist aber ein einseitiges Geben, das keine Lernprozesse (in den Betrieben oder in den sozialen Einrichtungen) in Gang setzt, und das auch nur in sehr geringem Maße soziales Kapital bildet. Beim UBE steht vielmehr im Vordergrund, Synergieeffekte zwischen den verschiedenen Lebens- und Arbeitsfeldern entstehen zu lassen und diese für das Unternehmen und die private Lebensführung nutzbar zu machen.
Unternehmerisches Bürgerengagement kann unterschiedliche Erscheinungsformen annehmen
VIII. Das Projekt Switch
In Anlehnung an das "Münchner Modell"
Unsere wissenschaftliche Begleitforschung der Pilotphase hat gezeigt, dass ein solches Programm auf mehreren Ebenen wirksam und deshalb sehr differenziert zu beurteilen ist
1. Die Beschäftigten müssen in diesem relativ fremden Arbeitsalltag einen Perspektivenwechsel vornehmen und erwerben (oder verstetigen) die Fähigkeit der Perspektivenverschränkung.
2. Der mehrtägige Aufenthalt in einer anderen Arbeitswelt ermöglicht es, die Strukturen dieses Tätigkeitsfeldes zu erkennen - Gestaltlernen wird gefördert und vertieft.
3. Die aktive Mitarbeit (nicht nur Hospitation
4. Das intensive Erleben (nicht "Nachspielen") und die professionelle Moderation dieses Prozesses fördert die Kompetenzüberzeugungen, also die Sicherheit, sich in fremden Welten zurechtzufinden und soziale Kompetenzen entfalten zu können.
Der Wissenstransfer besteht folglich nicht darin, aus der einen - fremden - Welt neues Wissen in die andere - eigene Arbeitswelt - übertragen zu können. Dies kann im Hinblick auf manche fachlichen und methodischen Kompetenzen durchaus der Fall sein. Es geht vielmehr darum, überhaupt einer anderen Welt zu begegnen und sich dieser Herausforderung zu stellen. Diese Art des Transformationsprozesses wirkt noch lange nach der Switch-Woche. Für viele Mitarbeiter der Siemens AG ist es das erste Mal, dass sie aus dem vertrauten Arbeitsalltag (und Privatleben) heraustreten. Diese soziale Flexibilität einzuüben ist insbesondere dann von Bedeutung, wenn sich die Beschäftigten in Arbeitssituationen befinden, die sich rasch verändern können, oder wenn ein Wechsel (in eine andere Abteilung, in das Ausland) bevorsteht. In gesellschaftlicher Sicht ist es wichtig, dass die Siemens AG gemäß ihrem Leitsatz: "Wir tragen gesellschaftliche Verantwortung" handelt und dass dieser Switch nicht nur auf wichtige Lernbedürfnisse zugeschnitten ist. Switch stellt zugleich eine Gelegenheit für die Mitarbeiter dar, sich bürgerschaftlich zu engagieren und damit ein Aufgabenfeld zu erschließen, das gemeinwohlorientiert ist und die berufliche Arbeit ergänzt oder ausgleicht. Die Beschäftigten der Siemens AG können sich auf einen souveränen Umgang mit den vielfältigen Aufgaben der Arbeitsgestaltung vorbereiten. Es ist allerdings auch deutlich geworden, dass unternehmensgestütztes Bürgerengagement nicht für jeden Beschäftigten geeignet ist. Voraussetzung ist die Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit und die Offenheit, sich auf neue und ungewohnte Situationen einzulassen. Für manche Personen kann der Switch eine zu starke psychosoziale Belastung bedeuten (was letzten Endes Transferprozesse verhindert)
Für die sozialen Einrichtungen war die Mitarbeit der Siemens-Beschäftigten zunächst ungewohnt, weil sie einen Mehraufwand bedeutete und die Bereitschaft, den eigenen Arbeitsbereich transparent zu machen. Durch die aktive Mitarbeit der Siemens-Beschäftigten konnten im Verlauf der Woche aber derartige Vorbehalte gegen das Hineinwirken Fremder abgebaut werden. Je stärker das Engagement war, desto nachhaltiger entwickelte sich ein sozialer Zusammenhalt zu beiderseitigem Nutzen. Die meisten Mitarbeiter der sozialen Einrichtungen konnten von der Begegnung mit anderen Sichtweisen profitieren und die zahlreichen, teilweise ungewohnten Erfahrungen in die eigene Arbeit integrieren. Doch nicht jede Einrichtung oder Initiative ist für ein solches UBE-Programm geeignet. Ein Switch ist wenig sinnvoll, wenn beispielsweise Beratungssituationen ein Vertrauensverhältnis voraussetzen (Aidsberatung). Allerdings hat sich auch gezeigt, dass Grenzerfahrungen, etwa im Hospizbereich, von allen Beteiligten positiv verarbeitet wurden, da eine entsprechende Nachbereitung durchgeführt wird.
Im Gegensatz zu den Programmen anderer Länder wird die Vor- und Nachbereitung und die Qualitätssicherung bei Switch nicht von außenstehenden privaten Agenturen durchgeführt, sondern vom Sozialreferat der Stadt München. Dies hat nicht nur Vorteile, denn eine professionelle Moderation und Abstimmung der unterschiedlichen Interessen durch unabhängige Organisationen (z. B. Freiwilligenagenturen) wäre wünschenswert. Es ist auch deutlich geworden, dass Nachhaltigkeit nur dann erreicht werden kann, wenn es eine stetige aktive Unterstützung und Wiederholungen derartiger Lern- und Engagementerfahrungen gibt. Es ist daher sinnvoll, UBE-Programme langfristig in das Unternehmenskonzept bzw. in die Unternehmensphilosophie zu integrieren. Dies bedeutet nicht, dass es das "richtige" UBE-Konzept für jedes Unternehmen gibt. Es muss vielmehr im Hinblick auf die jeweilige Unternehmenskultur und wechselnde betriebliche Erfordernisse variabel gestaltet und es muss in die regionalen Bedingungen sinnvoll eingepasst werden.
In der Pilotphase des Projekts Switch waren die Aktivitäten auf soziale Einrichtungen beschränkt. Eine solche Fokussierung ist jedoch aus mehreren Gründen problematisch. Zum einen "liegt" nicht allen Mitarbeiter die Tätigkeit in sozialen Einrichtungen. Zum anderen beschränkt sich Bürgerengagement nicht nur auf den sozialen Bereich. Daher sollten auch in Deutschland kulturelle und ökologische Einrichtungen sowie freie Initiativen einbezogen werden. Derartige Einrichtungen und Initiativen stellen für Unternehmensmitarbeiter ebenfalls eine fremde Welt dar und können - wie die Erfahrungen in anderen Ländern zeigen - Lern- und Engagementfelder von vergleichbar hoher Qualität anbieten.
IX. Kulturelle und politische Implementationsprobleme?
In Deutschland haben sich diese unterschiedlichen Lern- und Engagementformen bislang wenig durchgesetzt, und es gab auch kaum ein breites öffentliches Interesse oder gar ein Diskussionsforum. Die deutsche Abstinenz hat viele Ursachen. Im Wesentlichen erklärt sie sich daraus, dass hier eine andere Kultur des Gebens vorherrscht. "Gutes zu tun" ist durchaus gestattet, aber es ist überlagert von der Vorstellung, Geben dürfe nur im Verborgenen stattfinden. Insbesondere klein- und mittelständische Unternehmen sind in Deutschland in vielen Feldern aktiv (wenn auch meist nicht in den genannten hochintegrativen Formen oder mit ausformulierten Konzepten); sie schweigen aber und scheuen die Úffentlichkeit, weil sie (wohl mit Recht) annehmen, dass ein einseitiges Publicrelations-Interesse unterstellt wird. In den USA ist es dagegen nicht verpönt, sich durch Formen des unternehmerischen Bürgerengagements in der Úffentlichkeit zu positionieren und sich somit von anderen zu unterscheiden
Ein weiterer Grund liegt darin, dass in Deutschland kulturell und politisch bedingt eine andere Auffassung darüber herrscht, welche individuellen und gesellschaftlichen Angelegenheiten als "Privatsache" gelten oder öffentlich geregelt werden müssten. Die deutsche Zurückhaltung beim unternehmerischen Bürgerengagement fällt leicht, weil es herrschende Meinung ist, dass Bildung und Soziales in erster Linie eine Angelegenheit des Staates seien. Ob eine solche Auffassung angesichts der radikalen Veränderungen im arbeitsgesellschaftlichen Bereich auch zukünftig noch sinnvoll ist, sei dahingestellt. Zumindest spricht vieles dafür, dass sich private und öffentliche Verantwortung neu justieren. Dazu wird sich auch das Verständnis im Hinblick auf den Umfang des staatlichen Aufgabenbereichs ändern müssen.
Die Neue Arbeitsgesellschaft wird in Europa zukünftig weiterhin eine soziale Marktwirtschaft sein und sich in dieser Hinsicht von den angelsächsischen Modellen unterscheiden; sie kann aber zusätzlich Züge einer sozialen Bürgergesellschaft entfalten, oder anders formuliert, eine "auf Bürgersinn gegründete Arbeitsgesellschaft"