Einleitung
Ostern 1968 sprach man von bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Deutschland, als das Attentat auf Rudi Dutschke eine militante Blockade des Axel-Springer-Verlages auslöste
Der äußerst kritische Umgang mit der Vergangenheit war eine deutsche Spezialität, doch erfasste der "Wertewandel" so gut wie alle entwickelten Gesellschaften. Verjüngen sollte sich auch die Gesellschaft der Vereinigten Staaten, von deren Westküste die Revolte ausgegangen war, und "Opas Frankreich", wo sie im Pariser Mai ihren spektakulären Höhepunkt erreichte. Wenige Länder blieben ausgespart, und so bezeichnet die Chiffre '68 eine echte Weltrevolution, die sich heute in globalem Vergleich fassen lässt
Umso erstaunlicher ist, wie gesinnungspazifistisch man sich dem Ereignis heute wieder zuwendet. Barrikadenkämpfer wenden bekanntlich selten allein friedlich-legale Mittel an. Damals hielten viele "Gewalt gegen Sachen" für angebracht, und manchen schien die Situation so zugespitzt, dass sie auch "Gewalt gegen Personen" in Kauf nehmen wollten. Wohin solcher Leichtsinn führen konnte, zeigen die Blutspuren linksterroristischer Gruppen vor allem in jenen Ländern, die den Zweiten Weltkrieg verloren hatten und unter ihrer faschistischen Vergangenheit litten: Deutschland, Italien und Japan. Doch der überwiegende Teil der außerparlamentarischen Opposition (APO) schreckte vor dieser mörderischen Konsequenz radikaler Weltverbesserungsphantasien zurück und beteiligte sich an einem Prozess, den ein kritischer Mentor der APO rückblickend als "Fundamentalliberalisierung" bezeichnet hat
Das heißt: Aus einem Angriff auf die angebliche "Formaldemokratie", der unternommen wurde, um den vermeintlichen Rückfall in den autoritären Staat zu verhindern, ging die westliche Demokratie am Ende mit gestärkter Legitimation und Beteiligung, gerade der distanzierten Jugend und gerade in der Bundesrepublik Deutschland hervor. Selbst wer mit der Straßengewalt kokettiert hatte, wurde meist ein friedliebender und gesetzestreuer Staatsdiener, Freiberufler, Lehrer, Wissenschaftler, Meinungsführer, Politiker oder Politikberater. Schillernde Biografien und seltsame Karrieren waren, nicht zuletzt durch die gesprächigen Akteure von '68 selbst, bekannt (oft zum Überdruss der Jüngeren), als diese dann an der Spitze von Reformregierungen standen, die dem Protest der sechziger Jahre und den nachfolgenden Bewegungen für Frauenemanzipation, Umweltschutz und Abrüstung erwachsen waren. Ein Vietnamkriegsgegner wurde US-Präsident, Ex-Trotzkisten rückten in höchste Etagen des französischen Staatsdienstes vor, ein ehemaliger Häuserkämpfer wurde Außenminister des vereinten Deutschland. So läuft die Geschichte, und so gut wie niemanden störten Quisquilien wie jener populäre TV-Moderator, der zum Besten gab, sich auch bewusstseinserweiternde Substanzen in den Tee gerührt zu haben.
Kommt nun der puritanische Gegenschlag, die Stunde der Revanche? Man kann es sich schwer vorstellen. Denn selbst die Unversöhnlichen sind in Habitus, Mentalität und Politikstil von dem Umbruch geprägt, den sie als Sündenfall verteufeln: Amerikanische Neokonservative, die selbst jetzt noch gegen den Ehebrecher Bill Clinton Sturm laufen, könnten ihre Methoden der Provokation und Denunziation vom amerikanischen SDS abgeschaut haben, und genau wie die Haschrebellen von einst trennen sie private nicht von öffentlichen Angelegenheiten. Teile der konservativen Presse in Deutschland entstellen die Geschichte der Protestbewegung; sie befleißigen sich dabei aber durchaus, übrigens genau wie Werbung, Showbusiness und E-Commerce, des aufmüpfigen Tons und manipulativer Techniken, die man ohne weiteres auf die "Kulturrevolution" zurückführen könnte. Und die Parteivorsitzende der Union, die dem ohnehin geständigen Joschka Fischer noch "Buße" für seine Prügelaktionen abverlangte, verkennt, dass selbst sie ihr Amt den indirekten Folgen einer "Kulturrevolution" namens '68 verdankt
Als Jürgen Habermas gefragt wurde, was von dem glorreichen Jahr geblieben sei, antwortete er ironisch: Frau (Rita) Süssmuth
Das alles ist für Jüngere schon "alte Geschichte". Warum sie gerade jetzt in einer eher unappetitlichen "Vergangenheitsbewältigung" hervorgeholt wird? Die politische Instrumentalisierung und der Versuch, die rot-grüne Regierungsmannschaft für ihre "Jugendsünden" haftbar zu machen, sind unübersehbar: Nach dem von amerikanischen Neokonservativen erprobten Rezept der culture wars (Kulturkämpfe)
Der eigentliche Gewinn der bereits wieder abgekühlten Bewältigungsdebatte um "Joschka Fischers wilde Jahre" könnte nun darin bestehen, dass auch etwas von der enormen Erregung vermittelt wird, die den Bruch von 1968 zweifellos gekennzeichnet hat. Die davon angestoßene säkulare Entwicklung war ja nur eine Seite der Medaille, die heute als wohltuender Modernisierungssprung ins Auge sticht. Vernunft und Subversion standen jedoch in einem Spannungsverhältnis, und der politische Existenzialismus der 68er zehrte weniger von der (oft missverstandenen) Kritischen Theorie als vom pop- und subkulturellen Untergrund. Die genauere Geschichtsschreibung dieser Jahre muss folglich die eruptiven und riskanten Momente der Auflehnung hervorheben und damit dem Eindruck entgegentreten, eine Revolte sei so harmlos wie eine geschlossene Sicherheitsnadel, die alte und neue Welt verbindet. In Wahrheit war sie ein scharfes Messer, dessen Flugbahn und Einschlag unberechenbar waren.
In dieser Sicht war '68 ein surrealer Schock, ein kontingenter Augenblick und eine Bresche im "gräßlichen Fatalismus der Geschichte"
Man darf 1968 als eine glücklich gescheiterte Revolution charakterisieren, wenn man ihre beiden Schlagseiten nicht außer Acht läßt: Einerseits entwuchs dem antiautoritären Spontitum eine leicht aus dem Ruder gelaufene Militanz, auf der anderen Seite erweckte eine aufgeklärte Bürokratie die Illusion perfekter Organisation und rationaler Planung. Diese "zwei Linien", die eigentlich ganz unvereinbar waren, kreuzten sich ausgerechnet dort, wo ironischerweise und gegen alle Intentionen nur noch ein entfesselter Kapitalismus übrig blieb. 1968 ist Geschichte. Und die Geschichte, das ist eine der wenigen Sicherheiten, die man ihr abgewinnen kann, wiederholt sich nicht. Wo es im Fall der "68er" versucht worden ist, hat sich, dem berühmten Diktum von Karl Marx gemäß, eine Farce ereignet. Was aber die scheinbare Ausweg- und Alternativlosigkeit der heutigen, neoliberalen Weltordnung angeht, könnte man ketzerisch fragen, gegen wen die dadurch ausgelöste Wut zielen wird. Am radikalsten artikulieren sich derzeit die "schönen Künste": Im Theater, in der Literatur, in multimedialer Performance und generell in konzeptueller Kunst, im investigativen Journalismus und im politisierten Feuilleton der überregionalen Blätter artikulieren sich in auffälliger Häufung Aufbegehren und Verzweiflung, Verfluchung und Abrechnung, und es bilden sich Keime von Sammlungen und Bewegungen, die den aufmerksamen Beobachter hellhörig werden lassen.
Vorschnell zusammenbinden lassen sich solche Tendenzen kaum. Manche scheinen die pathologischen Ansätze zur Selbstzerstörung der Zivilisation beschleunigen zu wollen und kultivieren eine "depressive" Haltung. Andere bemühen sich um die Rehabilitation von "Ernsthaftigkeit" gegen eine durch Erlebnishunger, Dauerironie und Spaßkonjunktur gekennzeichnete Kultur
Auch wenn sich also die Geschichte erneut nicht wiederholen dürfte, bleibt die in vieler Hinsicht unvollkommene Modernisierung im Weltmaßstab nicht ohne politisches Pendant, ja Widerstand. Anfangs fast unbemerkt, hat sich mittlerweile eine weltweite Bewegung für eine gerechtere und nachhaltigere Variante der Globalisierung gebildet, die weder nahtlos an historische Revolten früherer sozialer Bewegungen anknüpft, noch sich in einen erklärten Gegensatz dazu bringt