Schaut man mit etwas Distanz – etwa aus der Reformationszeit – auf Ernährung und Esskultur des frühen 21. Jahrhunderts, fallen markante Singularitäten auf: Der Hunger ist aus Europa weitgehend verschwunden; vielmehr plagen den alten Kontinent ganz andere Probleme: in dem Maß, in dem früher gedarbt wurde, herrscht heute Übergewicht. Was einst als Privileg weniger Reicher galt, tritt heute epidemisch auf und ist eher Signum einkommensschwacher und bildungsferner Gruppen. Dabei deutet einiges darauf hin, dass das Essen in den meisten Ländern allenfalls mittelfristig billig bleiben wird. Wenn kein markanter technologischer Sprung gelingt, könnten Nahrungsmittel im Verlauf des 21. Jahrhunderts global gesehen deutlich teurer werden. Bevölkerungswachstum, Klimawandel, Wasserknappheit oder auch der Rückgang ertragreicher Agrarflächen könnten ein explosives Gemisch ergeben.
Neben dem reichhaltigen Lebensmittelangebot und den niedrigen Preisen fallen auch strukturell neue Freiheiten auf. Seitdem sich die europäischen Gesellschaften im Mittelalter aus antiken, germanischen und keltischen Kulturen synthetisiert hatten und vor allem seitdem das Städtewesen ab dem 11. Jahrhundert zu einem entscheidenden Faktor geworden war, hatten Stand, Schicht und später Klasse Traditionen geprägt. Diese hatten festgelegt, wer zu welchem Zeitpunkt bestimmte Speisen essen und trinken durfte. Seit etwa einer Generation hat dieser Mechanismus dramatisch an Bedeutung eingebüßt: In der digitalen und deindustrialisierten Globalgesellschaft definieren sich Individuen zunehmend über Lebensstile und organisieren sich auf Zeit in Szenen. Dabei ist das Essen so wichtig geworden, dass Ernährungsstile an die Stelle von Lebensstilen getreten sind: vegetarisch oder vegan, bewusst genussvoll oder dezidiert bescheiden, um möglichst nachhaltig zu leben – wie wir uns ernähren und wie darüber kommuniziert wird, ist inzwischen Chiffre für Selbstinszenierung und Weltdeutung geworden.
Im Folgenden wird akzentuiert dargelegt, welche Entwicklungslinien der Esskultur sich in ihren stofflichen, alltagskulturellen, ökonomischen und politischen Bezügen von der Vormoderne bis ins 21. Jahrhundert ziehen lassen.
Aus der alten Welt
Am Ausgang des Mittelalters war die Welt vielgliedrig: Asien – mit dem China der Ming-Dynastie an der Spitze – hatte in den staatlich organisierten Regionen einen enormen technologischen Entwicklungsvorsprung vor der Alten Welt. Im Umfeld des chinesischen Kaiserhofes gab es ausgefeilte Festmahle, bei denen von feinem Porzellan gegessen wurde und hochkomplexe Tee-Zeremonien Kultur und Status repräsentierten. Die Portugiesen, die 1516 erstmals im Hafen Macao landeten, gründeten hier 41 Jahre später eine erste europäische Handelsniederlassung auf chinesischem Gebiet. Damit war die Tür zu intensiven Kulturkontakten geöffnet. Von solchen Kontakten waren damals unterschiedlichste autochthone Kulturkreise noch lange weit entfernt. Erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts sollte die Globalisierung, deren strukturelle Mechanismen und kulturelle Folgen sich sehr gut über die Esskultur beschreiben lassen, die letzten Winkel der Welt erreichen. Bis dahin waren die ethnischen Gruppen etwa des Kongo-Beckens, Inneraustraliens, Amazoniens, Nordsibiriens oder Neu-Guineas völlig abgeschieden, sodass hier ein ganzer Kosmos von esskulturellen Sonderformen blühte.
Ab dem späten 15. Jahrhundert erreichte der koloniale Machtdrang Europas zuerst nur einige Küstenabschnitte in Afrika und Asien, bald aber auch Amerika und schließlich Australien. Auf Sansibar, im indischen Goa, vor den Inseln Senegals oder im Mündungsgebiet des Hudson, im heutigen New York, entstanden erste Kontaktzonen. Was sich den aus europäischer Perspektive "Entdeckten" aber nicht unmittelbar erschloss: Das christliche Europa wähnte sich von einem exklusiven Gott in besonderer Weise begnadet und berechtigt, die Welt zu bekehren und in Besitz zu nehmen. Europäische Kultur wurde als höherwertig erachtet als alle anderen Formen.
Dabei war das alte Europa arm und bedürftig. Um 1500 lebten noch etwa 90 Prozent der Bevölkerung auf dem Land. Das Mahlzeitensystem war zweigliedrig und bestand aus einem Morgenimbiss bei Tagesanbruch und dem Abendessen. Zudem gab es häufig bis zu drei Zwischenmahlzeiten. Die Mahlzeiten wurden in Gemeinschaft verzehrt; verbindliche, auch religiöse Normen regelten die Nahrungseinnahme. Zu essen gab es für die meisten vor allem grobes Brot und Mus, mit Schmalz gekochter Getreidebrei. Beim Fleisch bestand die einfachste beziehungsweise preiswerteste Variante aus gekochtem Suppenfleisch, das häufig von älteren Nutztieren stammte. Höheres Ansehen genossen Braten, Geflügel und Wild, wobei Hochwild praktisch eine reine "Herrenspeise" war. Die katholische Kirche verbot allerdings an bis zu 150 Fastentagen des Jahres, Fleisch zu essen. Wer es sich leisten konnte, dem stand eine große Palette frischer See- und Süßwasserfische zur Verfügung. Am beliebtesten war der Lachs, der als Süßwasserfisch in den meisten Gewässern Mitteleuropas vergleichsweise leicht zu fangen war. Ärmere Haushalte griffen gelegentlich auf heimische Flusskrebse zurück. Eine wesentlich größere Rolle spielte gesalzener oder getrockneter Seefisch, der auch in den Städten des Binnenlandes preiswert erhältlich war.
Bei der Gemüseversorgung bestanden ebenfalls gravierende Unterschiede: Für die Armen gab es getrocknete Hülsenfrüchte; frisches Saisongemüse für die Reichen, die in den großen Städten sogar gelegentlich Zitrusfrüchte kaufen konnten. Getrunken wurde vor allem Wasser. Die Alternativen waren durchwegs alkoholisch: Während die Bedeutung von Wein aus klimatischen Gründen abnahm, stieg der Stellenwert von Bier. In den Städten waren inzwischen ernährungsspezifische Berufe entstanden: Bäcker und Metzger sorgten für größere Vielfalt und bessere Qualität. Das Essen der arbeitsfreien Tage unterschied sich von dem der Werktage dadurch, dass es vielfältiger und eiweißreicher war, aber ebenso wie während der Woche wurde es in der Gruppe eingenommen – eher mit Arbeitskollegen als innerhalb der Familie –, und die Verzehrsituation spiegelte Hierarchien und Traditionen wider.
Gradmesser für den Lebensstandard war und ist die Möglichkeit, satt zu werden. Für das vorstatistische Zeitalter, das im 19. Jahrhundert endete, sind kaum verlässliche Angaben möglich. Wir dürfen aber davon ausgehen, dass vor allem die Angehörigen der Mittel- und Oberschichten dauerhaft satt wurden, während die meisten Europäerinnen und Europäer immer wieder Hunger litten. Das galt insbesondere für die Bewohner strukturschwacher Regionen, für Frauen, Kinder und Alte sowie in Zeiten von schlechten Ernten oder Witterungsungunst. Das "Schlaraffenland" war vor diesem Hintergrund ein oft bemühter Topos, und viele träumten dabei nicht unbedingt von übervollen Tafeln, sondern einfach von gut gefüllten Tellern. Allerdings war die Grundversorgung mit Getreide – Schätzungen gehen für die Zeit vor 1500 von bis zu 200kg pro Kopf und Jahr aus – und insbesondere Fleisch – etwa 50kg – im Raum nördlich der Alpen höher als in den Jahrhunderten zuvor.
Auf dem Weg in die Krise
Das änderte sich bald. Die Entdeckung Amerikas 1492 und die Reformation 1517 läuteten ein neues Zeitalter ein. Der Protestantismus führte vor allem in seiner calvinistischen Variante zu einer kritischeren Bewertung der Nahrungseinnahme. Der Reformator Martin Luther prangerte eine vermeintliche Trunksucht der Deutschen an, war aber einem auch irdischen Leben in Fülle nicht grundsätzlich abgeneigt, während Jean Calvin und Huldrych Zwingli der Völlerei den Kampf ansagten. Zudem wurden die bis dahin strengen Fastengebote in den protestantischen Gebieten gelockert oder gar ins Gegenteil verkehrt. So entbrannte bald ein erbitterter Streit um die richtige Ernährung. Was in den Niederlanden, in der Schweiz oder in Skandinavien fortan auf den Tisch kam und wie etwa die Wirtshäuser bewertet wurden, unterschied sich bald deutlich von den Praxen des katholisch gebliebenen Raums. Zudem führte die Abschaffung von Fastenzeiten und Heiligentagen in evangelischen Gebieten zu einer größeren Homogenität des Mahlzeitenrhythmus.
Die Auswirkungen der "Entdeckung der Neuen Welt" ließen im deutschen Sprachraum noch auf sich warten; stattdessen blieb Italien zunächst wichtigster Impulsgeber. Über Venedig setzte sich Ende des 15. Jahrhunderts der Reisanbau in Oberitalien durch und gelangte über die Alpen in den Norden, wo er Luxusprodukt war. Im Vergleich zu etablierten Getreidesorten ermöglichte Reis einen merklich höheren Ertrag. Buchweizen erreichte zu dieser Zeit von Russland aus zunächst Osteuropa, über den Schwarzmeerhandel das Mittelmeer und den Südalpenraum, über Antwerpen die Niederlande und Nordwestdeutschland.
Die Zeiten waren unruhig und religiöse Streitigkeiten begannen sich zu Konflikten auszuweiten, aber die Teller waren noch überwiegend gut gefüllt, was nicht zuletzt an den Folgen des mittelalterlichen Klimaoptimums lag. So nimmt es auch nicht Wunder, dass der Fleischverbrauch noch einmal stieg, mancherorts auf bis zu 100kg pro Kopf und Jahr. Während aber bei Adel und Stadtbürgertum vor allem gebratenes Fleisch auf den Tisch kam, musste sich die Bevölkerungsmehrheit meist mit eingekochten Stücken begnügen, die mit Breien, Suppen und grobem Brot verzehrt wurden, denn auf diese Weise ging wenig vom wertvollen Fett verloren. Als eigene Speise oder als Gebratenes nach "Herrenart" fand sich Fleisch am ehesten anlässlich hoher kirchlicher Feiertage oder etwa zu Hochzeiten und Kirchweihfesten auf den Speiseplänen.
In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts änderten sich die Verhältnisse grundlegend. Dabei wirkten mehrere Faktoren, die sich auf fatale Weise verstärkten. Im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts wurde es merklich kühler. Lange Winter, Spätfröste und kalte Sommer ließen die Ernteerträge vielerorts einbrechen. Da die Bevölkerung vorerst noch wuchs, stiegen infolgedessen auch die Preise stark, und weil zudem der Getreideanbau der Viehzucht die Flächen streitig machte, sank der Fleischverbrauch markant.
Neue Welt und columbian exchange
Während der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) bewirkte, dass alte Nahrungstraditionen und -elemente zunehmend erodierten, kam es im Rahmen des Columbian Exchange zu einem gewaltigen Innovationsschub: Weizen und Schwein gelangten auf diese Weise nach Amerika, und im Gegenzug eroberten unter anderem Truthahn, Mais, Kartoffeln und Kakao Europa, wo die Neuweltprodukte als exotisch und wertvoll galten. Die alte österreichische Bezeichnung für Tomate (Paradiesei oder Paradiesapfel) oder das italienische Wort pomodoro (Goldapfel) legen davon Zeugnis ab.
Der Columbian Exchange verlieh der europäischen Esskultur langfristig seine moderne Gestalt. Dabei spielte die Kartoffel eine zentrale Rolle. Von England und den Niederlanden ausgehend erreichte sie ab dem 17. Jahrhundert die breite Bevölkerung Westeuropas, während sie sich in den meisten Gebieten des deutschsprachigen Raums erst im späten 18. Jahrhundert durchsetzte, dann aber vor allem im Osten und im Mittelgebirgsraum zur vorherrschenden Kost wurde. Dabei wurde sie zum Schlüsselelement zur Überwindung der mittelalterlichen Brot- und Breispeisen und der Hungerkrisen des type ancien.
In weiten Teilen Südeuropas, insbesondere in Spanien, Italien und auf dem Balkan hatte sich hingegen schon seit längerem eine Neuweltpflanze durchgesetzt, die ihren europäischen Schwestern an Ertrag deutlich überlegen war: der Mais, der sich wegen seiner klimatischen Anpassungsfähigkeit noch rascher als die Kartoffel etablierte. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts verbreitete sich der Anbau von Spanien südlich der Alpen bis nach Kärnten und verdrängte dabei die Hirse. Über Venetien erreicht der Maisanbau im 17. Jahrhundert Südosteuropa.
Kartoffel und Mais waren alte amerikanische Kulturpflanzen, die mit dem Kolonialzeitalter eine Weltkarriere begannen. Das gilt auch für die südamerikanische Kakaopflanze, den aus Ostafrika stammenden Kaffee und den zuerst in China kultivierten Tee. Da diese Güter importiert werden mussten, weil sie in Europa nicht gedeihen, waren sie anfangs teuer: Erst als Arznei, im 17. Jahrhundert dann als alkoholfreie Heißgetränke für Wohlhabende und seit dem 18. Jahrhundert als Massengüter revolutionierten sie die europäische Trinkkultur, machten den alteingesessenen alkoholischen Genussmitteln Bier und Wein bald Konkurrenz und führten zu einer neuen, geselligen und diskursiven Gaststättenkultur, die des nüchternen Charakters wegen zur Aufklärung und zur Verwissenschaftlichung der Gesellschaft beitrugen; allerdings auch zu einer neuen Kategorie von Folgekrankheiten, denn parallel zu den alkoholfreien und bitteren Heißgetränken begann der aus Melanesien stammende und dann in Südamerika und in der Karibik angebaute Zucker die Welt zu erobern.
Wachstum – Krise – Revolution
Im Verlauf des 18. Jahrhunderts hatten koloniale Globalisierung und Columbian Exchange die europäische Esskultur stofflich internationalisiert, wenngleich die Kartoffel längst als deutsch wahrgenommen wurde und etwa der Mais in Südeuropa unter der Bezeichnung granoturco firmierte – Türkenkorn. Trotz aller Fortschritte wurde die Ernährungslage aber vielerorts zunehmend problematisch: Das Ende der konfessionellen Kriege und die Protoindustrialisierung hatten die Bevölkerung ansteigen und den Nahrungsspielraum enger werden lassen. Kritisch war die Situation in den deutschen Mittelgebirgen, aber etwa auch in Frankreich. Seit etwa 1770 öffnete sich eine Schere zwischen Bevölkerungsanstieg und Nahrungsmittelproduktion. Die Preise stiegen, die Lebensmittelversorgung funktionierte kaum. Als sich 1787 und 1788 Extremwetterereignisse häuften – eine Dürreperiode, Überschwemmungen und schwerer Hagelschlag führten zu einem Rückgang der Getreideerträge in Höhe von mindestens 20 Prozent –, war der Boden für die Revolution bereitet.
Hatte man in Mittelalter und Früher Neuzeit Hungerkatastrophen meist noch als göttliche Fügung hingenommen, so wurde die Ernährungsfrage nun zum wissenschaftlichen und politischen Thema. Die Thesen, die der Nationalökonom Thomas Robert Malthus 1798 in seinem Essay "The Principle of Population" zur Diskussion stellte, fanden großen Widerhall: Da die Bevölkerungszahl exponenziell wachse, die Nahrungsmittelproduktion aber nur linear, sei die Zukunft der Welternährung gefährdet. Die Angst vor einer verhungernden Welt wurde noch verstärkt, als es kurz nach dem Ende der Revolutionskriege zu einer Klimakatastrophe kam, welche die Zeitgenossen in ihren Funktionszusammenhängen kaum erahnen konnten: Nachdem der indonesische Vulkan Tambora im April 1815 explodiert war, verstaubte die Atmosphäre, und 1816 ging als "Jahr ohne Sommer" in die Annalen ein. Ernteausfälle, Hungerkatastrophen und Auswanderungswellen betrafen weite Gebiete der Nordhalbkugel.
Auf dem Weg in die Moderne
Um die Wende zum 19. Jahrhundert erlebte Europa eine Trias aus politischer, industrieller und geistiger Revolution. Diese Veränderungen wirkten mit unterschiedlicher Intensität. Während sich einige Metropolen und Industriezentren in beschleunigter Transformation fanden, herrschte andernorts Stagnation.
Ernährungskulturen im Industriezeitalter
Dass die Befürchtungen eines Thomas Robert Malthus nicht eintrafen, ist primär dem technischen Fortschritt geschuldet. Erfolge in der allmählich wissenschaftsorientierten Landwirtschaft – etwa durch die Züchtung der Zuckerrübe und die Entwicklung von Dünger –, im Transportwesen – der Eisenbahn seit den 1830er Jahren – und der Ernährungswissenschaft – 1840 veröffentlichte Justus von Liebig sein Standardwerk "Die Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie" – schufen die Grundlagen einer massiven Produktivitätssteigerung, die in der zweiten Jahrhunderthälfte wirkmächtig werden sollte. Erstmals war die Grundversorgung einer breiten Bevölkerung Europas gesichert. Während um 1800 noch vier Bauern nötig waren, um einen nichtlandwirtschaftlichen Verbraucher zu ernähren, versorgte 100 Jahre später ein Bauer vier Verbraucher. Nahrungsmittel konnten zudem besser konserviert werden, unter anderem in Metalldosen, und technische Innovationen sorgten auch für eine Erweiterung des Angebots, etwa um Margarine, Backpulver, Kunsthonig und Milchpulver. Die Dynamik der industriellen Konserven-, Teigwaren- und Marmeladenproduktion, Liebigs Fleischextrakt oder die Erfindung der Kältemaschinen durch Carl von Linde 1874 garantierten eine nie da gewesene Versorgung breiter Bevölkerungsschichten und beschleunigten die Industrialisierung. Da zeitgleich Dampfschiffe die alten Segler abzulösen begannen, gelangten sogenannte Kolonialwaren – Gewürze, Kaffee, Tee, Kakao, Zucker oder auch Reis – zunehmend auf den Tisch einer Bevölkerungsmehrheit. Der Binnenhandel expandierte durch den Ausbau der Eisenbahn flächendeckend. Daher konnten Lebensmittel nun innerhalb der nationalen Netze in großem Stil gehandelt werden – vor allem Getreide, Gemüse, Wein, Bier oder auch Seefisch. Esskulturell wurde auf diese Weise im Kaiserreich, das die Phase der Hochindustrialisierung nach 1871 einläutete, aus einer Subsistenz- eine frühe Konsumgesellschaft; man ernährte sich noch primär aus dem Nahbereich, aber die Ferne – als nahe Stadt oder als exotische Kolonie – wurde zur Projektionsfläche für kulinarische Sehnsüchte.
Vor allem in den Industriegebieten hatte sich inzwischen eine neue Ernährungskultur entwickelt: nicht bäuerlich, nicht bürgerlich. Die Klasse der Fabrikarbeiter war im frühen 19. Jahrhundert entstanden, in England, Nordfrankreich, im Beneluxraum und in den deutschen Revieren. Arbeits- und Wohn- beziehungsweise Essplatz waren getrennt, die Maschinen gaben den Takt vor, und die Ernährung war von Eintönigkeit und Hast gekennzeichnet. Da auch Frauen in die Produktion eingebunden waren, wurde die Mahlzeit oft zum Snack; eine Entwicklung, die auch heute wieder zu beobachten ist. In der Frühzeit des Fabriksystems war die Ernährung im Vergleich zu jener der Bauern zumindest in Zeiten guter Konjunktur ausreichend, kartoffel- und fleischlastig sowie begleitet von dem Getränk des Industriezeitalters: Branntwein. Zudem verbrachten Arbeiter und auch Arbeiterinnen ihre Freizeit vermehrt im Wirtshaus, das bald schichtspezifisch "Kneipe" genannt wurde.
Die Industrialisierung führte zu gewaltigen Migrationsbewegungen: Im 19. Jahrhundert wechselte etwa die Hälfte der Deutschen den Wohnort auf Dauer. Gelangten auf diese Weise ostpreußische Essmuster nach Sachsen oder jene der Eifel ins Ruhrgebiet? Ja und nein; natürlich hatten die Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten ihre erlernten Küchen im kulturellen Gepäck. Aber in der neuen Heimat synthetisierte sich aus alten ruralen und neuen industriellen Mustern die Küche der Kaiserzeit: Kartoffeln, Schweinefleisch, Wurst, Kohl, Kartoffeln, Erbsen – oft als Suppen zubereitet. Katalysatoren einer ersten Homogenisierung der Esskultur waren zum einen das sich im Kaiserreich entwickelnde gutbürgerliche Restaurant, daneben aber vor allem das Kochbuch, das faktisch ein Haushalts-Handbuch war und zum beliebtesten Hochzeitsgeschenk auch in kleinbürgerlichen Kreisen avancierte. Besonders beliebt war das "Praktische Kochbuch für die gewöhnliche und feine Küche" der Hauswirtschaftslehrerin und Gouvernante Henriette Davidis, das nach 1845 vielfach aufgelegt wurde.
Mit der Homogenisierung etablierte sich im 19. Jahrhundert einer der Eckpfeiler späterer Küchensysteme, der heute wieder im Verschwinden begriffen ist. Ein anderer ist eine rassistisch grundierte, positive Exotisierung. Importwaren wurden bald in eigenen "Kolonialwarengeschäften" in Szene gesetzt und mit einer Symbolik beworben, bei der Palmen und Menschen dunkler Hautfarbe eine Schlüsselrolle spielten. Am Ende des Kolonialzeitalters wurde der bekannte "Sarottimohr" als Markensymbol des gleichnamigen Berliner Süßwarenherstellers zu Werbezwecken präsentiert. Fremde Küchen erregten durch diese Mechanismen Neugierde und weckten fortan Begehrlichkeiten. Ernährungspolitik beschränkte sich aber noch auf die Versuche, die Bevölkerung hinreichend zu versorgen, was im Ersten Weltkrieg und in der Zeit der Weimarer Republik phasenweise problematisch war.
Ernährung im Zeitalter der Extreme
Der Universalhistoriker Eric Hobsbawm hat das 20. Jahrhundert als das "Zeitalter der Extreme" bezeichnet.
Im europäischen Südosten kam es infolge des Ersten Weltkrieges ebenfalls zu einer Umstrukturierung der Ernährungskultur, da das Ende des Osmanischen Reichs zum Verlust der türkischen Dominanz über den Balkan führte. Mit den Beamten und Kaufleuten verließen auch deren Nahrungsgewohnheiten und muslimische Speisevorschriften Südosteuropa. Im ungarischen, im südslawischen und im bulgarischen Raum verstärkten sich die nationalen Tendenzen in der Alltagsernährung, da sie als konstitutive Faktoren bei der Genese der neuen nationalen Identitäten fungierten.
Mit den großen Ideologien griff die Politik im 20. Jahrhundert drastisch in die Ernährungskultur ein. Die Gründung der Sowjetunion setzte eine Kette von Prozessen in Gang, in deren Folge die Kollektivierung der Landwirtschaft zwischen Elbe und Ural regionale und auch ethnische Ernährungsspezifika stark zurückdrängte. Gleichzeitig führte die tief greifende Umgestaltung der unter sowjetisch-kommunistischem Einfluss stehenden Gesellschaften dazu, dass bürgerliche Praxen an Bedeutung verloren und sich eine proletarisch geglaubte Kultur mit einem starken Fokus auf Gemeinschaftsverpflegung ausweitete. Noch heute ist die Ernährungskultur im östlichen Europa und vor allem in Russland stark von dieser Entwicklung geprägt, während sich die Esskulturen in Polen, in Ostdeutschland oder in Tschechien nach 1989 stärker an den westlichen Nachbarn orientierten.
Auch eine gewisse esskulturelle Homogenität (fast könnte man von einer Globalisierung im Kleinen sprechen, denn Wirkungen sind bis nach Kuba, Angola oder Mosambik zu verzeichnen) mit Elementen der jüngeren russischen Küche – Suppen vom Typus Soljanka oder Borschtsch, der Salat Hering im Pelzmantel, eine Vorliebe für Graubrot, grobe Wurst oder auch Wodka – ist in diesem Zusammenhang zu nennen, wenngleich diese kulturelle Homogenisierung nicht programmatisch war; denn dort, wo man ideologisch vereinheitlichen wollte, scheiterte man. Auch der Nationalsozialismus versuchte, das Konzept der "Volksgemeinschaft" auf die Tischkultur anzuwenden, aber die Deklarierung des Schwarzbrots als typisches Brot der Deutschen oder Bestrebungen, Eintopfsonntage einzuführen, um die Gemeinschaft des vermeintlichen Volkes zu stärken, schlugen fehl.
Dramatischer war die zerstörerische Kraft der Ideologien in anderer Hinsicht. 1932 und 1933 spielte sich eine bewusst in Gang gesetzte und auf jeden Fall vermeidbare Hungerkatastrophe, die als "Holodomor" bezeichnet wird, auf dem Gebiet der heutigen Ukraine ab. Sie kostete wohl über 3,5 Millionen Menschen das Leben.
Zu erwähnen ist schließlich die dreijährige Hungerkatastrophe, die das maoistische China 1958 bis 1961 heimsuchte. Die Durchsetzung der kommunistischen Ideologie mit ihrer Zwangskollektivierung hatte, verstärkt durch Misswirtschaft und extreme Trockenheit, zu einer apokalyptischen Zahl von Hungertoten geführt: Die konservativen offiziellen Schätzungen gehen von 15 Millionen Opfern aus, während der Historiker Frank Dikötter eine Größenordnung von mindestens 45 Millionen annimmt.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs läutete in der westlichen Welt eine Periode scheinbar grenzenlosen Wachstums ein. Auf lange Sicht kann man in diesem Zusammenhang insofern von einer Ideologie sprechen, als dass das freie Individuum seit dieser Zeit mit einem Konsumimperativ belegt wird: Konsum schafft gesellschaftliche Akzeptanz, und der niedrigschwelligste, weil erschwinglichste Konsum ist jener von Nahrungs- und Genussmitteln, die von Markenherstellern bewusst beworben werden.
Die Nachkriegsjahre waren durch eine Verbesserung der Ernährungslage gekennzeichnet, die in den 1950er Jahren in eine erste Kalorienüberversorgung mündete: Man sprach von einer "Fresswelle". In Westdeutschland machten sich Modernisierungstendenzen stärker bemerkbar als in allen Nachbarländern. Neue Essmuster drückten auch eine bewusste Abkehr von der NS- und Kriegsvergangenheit aus. In diesem Zuge kam es seit den späten 1950er Jahren zu einer raschen Technisierung des Haushalts und zu einer ersten Welle von Tiefkühl- und Convenience-Produkten; 1958 gelangte mit den Maggi Ravioli erstmals ein Fertigprodukt auf den Markt, das auf breite Akzeptanz stieß. Internationalisierungswellen brachten erneut eine enorme Ausweitung der Produkte mit sich: in den 1960er Jahren zunächst durch italienische und griechische Restaurants und die Gasthauskultur jener Menschen, die als Arbeitsmigranten gekommen waren, ab den 1980er Jahren zunehmend auch durch als türkisch oder asiatisch gelabelte Schnellrestaurants.
Esskulturen der Gegenwart
Den jüngsten tiefgreifenden Wandel brachten die Jahre um 1990: Der Wegfall des Ost-West-Konflikts führte zu einem Ende der Ideologien. Weltanschauungen und Lebensstile werden seitdem auch über Ernährungsstile ausgedrückt. Präferenzen für vegetarische oder genussorientierte Ernährung sind vor diesem Hintergrund als Komplexitätsreduktionen zu lesen. Aber die differenzierten Blicke auf die Vielfalt der Ernährungspraxen sind auch Resultat eines globalen Arbeitsmarktes in einer digitalen Welt. Hier spielen Fitness und optische Gesichtspunkte eine neue Rolle, und die Ernährung ist vom Mittel der Statuspräsentation auch zum Instrument des Körperstylings geworden. Vor allem junge Menschen haben heute oft das Gefühl, Leistungsfähigkeit und Arbeitsbereitschaft durch Körperperformanz ausdrücken zu müssen. Auf der anderen Seite ist das Essen für viele auch ein Mittel zur Kompensation geworden: Gegen ein Gefühl von Langeweile, Exklusion und Frustration in Zeiten rasanter kultureller Transformation ist der Konsum billig verfügbarer, hochkalorischer Lebensmittel auch Teil einer Bewältigungsstrategie.
Neue Formen der Ernährungsbildung, der Trend zur personalisierten Ernährung in einer digitalen Welt und steigende Preise dürften diese Trends langfristig umkehren; denn auch in Zukunft ist der Mensch gerade bei der Ernährung Produkt wie auch Spiegel seiner kulturellen Umgebung.
Durch Globalisierung und Digitalisierung ist Migration zum integrativen Bestandteil vieler Gesellschaften geworden. Für die Ernährung hat dies weitreichende Folgen; denn Menschen tendieren gerade auch unter kulturellem Stress dazu, an Bewährtem festzuhalten – arabische Supermärkte und türkische Gemüseläden in Deutschland künden davon ebenso wie afrikanische Lebensmittelgeschäfte in Brüssel oder polnische Delikatessenshops in London. Grundsätzlich gilt: Je erfolgreicher Akkulturationsprozesse ablaufen, je stärker es also Migrierten gelingt, sich erfolgreich in eine Aufnahmegesellschaft zu integrieren, desto rascher werden neue Ernährungsmuster übernommen. Allerdings laufen diese Prozesse langsam ab, eher in Generationen als in Jahren. Globale Küchen werden dadurch häufig hybrid: Pizza, Spaghetti und Döner werden heute in Deutschland nicht mehr als fremd wahrgenommen; zu ihrem Geburtstag bringen Schüler aus arabischen Ländern, die erst seit kurzem in Europa sind, nicht selten gebackene Muffins mit in die Schule; und Studierende aus Russland kochen gemeinsam mit Syrern und schaffen sich ganz neue Ernährungssysteme. Einzelne Gruppen bleiben aber auch beharrlich bei alten Mustern, etwa wenn ältere Menschen sich kaum für Neues öffnen oder wenn rumänische oder moldawische Arbeitsmigranten, die immer nur für einige Monate in Deutschland arbeiten, in ihren Unterkünften wie in der Heimat essen.
Insbesondere im Bereich der Convenience-Produkte und im Außer-Haus-Verzehr entsteht momentan aber auch ein global foodstyle mit internationalen Marken (etwa Red Bull) und Welt-Gerichten wie Sushi, Burgern, Asia-Style-Gerichten oder Pizza, die gar nicht mehr den Anspruch nationaler Herkunft oder spezifischer Originalität erheben.