Einleitung
Unsere Gesellschaft sei sich überhaupt nicht bewusst, welche Verpflichtung sie mit dem Rio-Bekenntnis zur nachhaltigen Entwicklung eingegangen sei, hat mir vor einigen Jahren auf einem Gang durch seine sommergrünen Buchenbestände im Steigerwald der bayerische Forstmann Georg Sperber gesagt: "Das ist ein Umkrempeln bis tief hinein in das Wesen der Industriegesellschaft. Eine Revolution im wahrsten Sinne des Worten . . . ."
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Jenes Bekenntnis ist in den fast zehn Jahren seit dem Erdgipfel für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro vielfach bekräftigt worden, auch noch in jüngster Zeit: Die EXPO 2000 hatte "sustainable development" zum Leitbild. Die Europäische Union legte sich in der Präambel ihrer Grundrechte-Charta auf eine "ausgewogene und nachhaltige Entwicklung" fest. Im April stellte Bundeskanzler Schröder in Berlin seinen "Rat für nachhaltige Entwicklung" vor.
Trotz alledem - der Warnruf des altgedienten Forstmanns, der sein ganzes Berufsleben lang die forstliche Nachhaltigkeit zur Richtschnur hatte, wirkt höchst aktuell. Das Thema hat noch immer nicht die ihm gebührende Priorität. Die Berufung des Rates für Nachhaltigkeit fand kein größeres Presseecho als (nur ein Beispiel vom selben Tag) eine Schmiergeldaffäre im Rathaus von Saarbrücken. Im Text der EU-Charta taucht der Begriff "nachhaltig" eher beiläufig auf. Und auf der EXPO? Stärker präsent als Bilder von "sustainable development" war die Ideologie des Techno-Futurismus. Wir bekommen - so dessen Botschaft - die Zukunft mit Hightech in den Griff und koppeln uns endgültig von der von uns unaufhaltsam weiter zerstörten Natur ab.
Meinungsforscher ermitteln, dass nur etwa 13 Prozent der Bevölkerung mit dem Wort "nachhaltig" überhaupt etwas anfangen können. (Allerdings stimmte in denselben Umfragen eine Zweidrittel-Mehrheit den zugrunde liegenden Inhalten zu.) Gleichzeitig gilt es in einigen intellektuellen Milieus als chic, es als bloßes Plastikwort, als Leerformel abzutun. Mangelnde öffentliche Akzeptanz, Gleichgültigkeit und Zynismus haben freilich immer ihre Ursachen. Fast alle Daten deuten darauf hin, dass die Degradierung der natürlichen Lebensgrundlagen auf unserem blauen Planeten in dem Jahrzehnt seit Rio so gut wie ungebremst weitergegangen ist. Kein Zweifel: Das Konzept der Nachhaltigkeit greift noch nicht. Es ist auch deshalb noch nicht in der gesellschaftlichen Mitte, in den Köpfen und Herzen der Menschen und - allen Bekenntnissen zum Trotz - auch nicht in der politischen Klasse angekommen. Was tun?
Viel hängt davon ab, ob es gelingt, den Begriff zu schärfen und die Idee zu entfalten, also ihr ganzes Spektrum und ihr volles Potential ins Spiel zu bringen. Nachhaltigkeit ist weit mehr als ein technokratischer Reißbrettentwurf zur intelligenteren Steuerung des Ressourcen-Managements, mehr als ein Begriff aus der Retorte von Club of Rome, Weltbank und UNO. Schubkraft bekommt die Idee, sobald sie als ein neuer zivilisatorischer Entwurf wahrgenommen wird, als ein neuer Entwurf, der allerdings in unseren Traditionen und in der menschlichen Psyche verwurzelt ist. Tradition und Innovation müssen keine Gegensätze sein. Ein gemeinsamer Vorrat an Werten, Ideen und Träumen ist eine wichtige kulturelle Ressource.Tiefe Wurzeln
". . . deep within our human spirit there is an innate ability to live sustainably with nature", schrieb Prinz Charles. Die von ihm angesprochene "angeborene Fähigkeit", nachhaltig mit der Natur umzugehen, wohl auch eine mitgedachte ungestillte Sehnsucht, im Einklang mit ihr zu leben, wäre ein tragfähiges Fundament. Gewiss, die konkurrierenden Entwürfe einer globalisierten Konsumgesellschaft sind durchaus erfolgreich. Der infantile Wunschtraum vom immerwährenden Schlaraffenland hat ebenfalls tiefe Wurzeln in unserer Kultur und wird in einem fulminanten Bilder-Feuerwerk der Werbung ständig aktualisiert. Aber ist dieses Modell wirklich so attraktiv und so stabil, wie es scheint?
Hier seien nur einige Gegentendenzen genannt: Hartnäckig hält sich nicht nur in der älteren Generation die Abneigung gegen die "Wegwerfgesellschaft". Die Bereitschaft, beim Recycling mitzumachen, der Wunsch, sich mit langlebigen Gebrauchsgütern zu umgeben, ist ungebrochen. Naturbelassene Materialien werden sowohl bei den Lebensmitteln als auch bei der "zweiten Haut", der Kleidung, und der "dritten Haut", den eigenen vier Wänden, als schöner und gesünder, als "vollwertig" empfunden. Plastik und Synthetik sind mit dem Makel der Minderwertigkeit, des nicht Echten, Natürlichen behaftet. Die Atomenergie wäre ein weiteres Beispiel. Sie ist einer Mehrheit mehr denn je unheimlich. Der Gedanke, dass in Gestalt des Atommülls jahrtausendelang in den Endlagern Zeitbomben ticken, ist schwer erträglich. Die Kraft der Sonne, die auf der Haut zu spüren so wohltuend ist, direkt für die Energiegewinnung zu nutzen, ist dagegen vielen eine höchst verlockende Alternative. Schließlich: In der flexiblen neuen Jobgesellschaft des Informationszeitalters häufen sich gerade bei den Erfolgreichen die burn-out-Syndrome. Die Notwendigkeit, andere Arten der Zeitverwendung in die Abläufe des Alltags zu integrieren, wird unabweisbar. Und wenn es nur die Auszeit eines "sabbaticals" sein kann.
Die Moderne mit ihrer ungebrochen gewaltsamen Dynamik, ist letztlich nicht lebbar. So Wilhelm Schmid, der Philosoph aus Berlin, der an einer Erneuerung der "Lebenskunst" arbeitet. Hier liegt - so scheint mir - die innere Logik der langen Kette von GAUs, Krisen und Schockwellen in unserer Gegenwart. Hier liegen aber auch die großen Chancen für eine andere Moderne verborgen. Um es mit der Metaphorik eines tibetischen Sprichworts zu sagen: "Ein Baum, der fällt, macht mehr Krach als ein Wald, der wächst." Immer wenn marode Baumriesen (wie z. B. die industriemäßig betriebene Landwirtschaft) zu Boden krachen oder ihnen zumindest Kronenteile wegbrechen, gewinnt der Wald Licht und Raum für seine Verjüngung. Aus den elementaren Bedürfnissen der Gesellschaft und aus einem um sich greifenden "Unbehagen in der Kultur" (Freud) heraus wachsen vielgestaltige und vielfältige Lösungen. Diese müssen sich allerdings gegen die Verheißungen der Reklamebilder durchsetzen. Das ist ihre Reifeprüfung. "Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden"
Goethe hat uns ein wunderbares Sinnbild für Nachhaltigkeit geschenkt: "Gebackenes Brot (ist) schmackhaft und sättigend für einen Tag; aber Mehl kann man nicht säen, und die Saatfrüche sollen nicht vermahlen werden."Die Formel "sustainable development" ist zwar neu, aber die Substanz dieses Denkens ist uralt und global verbreitet - ein Weltkulturerbe. Die Bäuerinnen der Sahel-Zone, die den Lederbeutel mit dem Saatgut für das nächste Jahr verstecken und noch mit letzter Kraft vor hungrigen Mäulern schützen, befolgen diese Erfahrung ebenso wie die Walfänger von Kamtschatka, denen die Einhaltung der Schonzeiten eine Überlebensregel war und ist. Die 5000-jährigen Terrassen-Kulturen Chinas dokumentieren dieses Denken ebenso wie das Gebot der Genesis, die Erde zu bebauen und zu bewahren.
Die Idee, die Erfahrung ist alt, der Begriff der Nachhaltigkeit relativ jung. Der kursächsische Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz, der ihn 1713 prägte, reagierte damit auf die Ressourcenkrise seiner Zeit, den Holzmangel. Beeinflusst hatten ihn die Traditionen pfleglicher Waldnutzung im heimatlichen Erzgebirge, einem Silicon Valley des barocken Europa. Inspiriert aber war er von seiner mehrjährigen grand tour durch die Zentren der europäischen Frühaufklärung. Er war in Frankreich, als gerade Colbert die Idee von "bon usage de la nature" in seine merkantilistische Wirtschaftspolitik einfließen ließ; in England, wo John Evelyn, Mitbegründer der Royal Society, das Pflanzen von Bäumen zu einer nationalen Leidenschaft machte, und in den Niederlanden, wo Baruch Spinoza, der holländisch-jüdische Philosoph und Linsenschleifer, die Identität von Natur und Gott behauptete und daraus den Respekt vor der Natur ableitete. Alle diese Ideen kann man getrost zur "Seele Europas" (ein Ausdruck von Romano Prodi) rechnen.
Novalis, Dichter der blauen Blume und montanindustrieller Jung-Manager, schrieb zwei Generationen nach Carlowitz 1798 in seinem "Blüthenstaub"-Fragment: "Allen Geschlechtern gehört die Erde; jeder hat Anspruch auf alles. Die Frühen dürfen diesem Primogeniturzufalle keinen Vorzug verdanken."Das klingt beinahe wie Sätze aus dem Brundtland-Bericht der UNO. Vielleicht sogar klarer, weniger diplomatisch, radikaler? Halb so viel, doppelt so gut
Unter nachhaltiger Entwicklung, so hatte die Brundtland-Kommission 1987 das Grundprinzip der intergenerativen Gerechtigkeit definiert, verstehen wir eine Entwicklung, "die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse und ihren Lebensstil zu wählen". Die Formel wurde und wird vielfach zitiert. Ein wesentlicher Punkt daraus scheint mir jedoch noch immer ein blinder Fleck der Debatte zu sein: Die Brundtland-Formel hat unmissverständlich die Reflexion der Bedürfnisse und Lebensstile auf die Agenda für das 21. Jahrhundert gesetzt.
Bei der Ausarbeitung des Leitbilds kamen in den neunziger Jahren, hierzulande vor allem durch die Pionierarbeit der Studie "Zukunftsfähiges Deutschland"zwei Strategien ins Blickfeld: Die Effizienzstrategie zielt auf die drastische Reduzierung des Naturverbrauchs durch eine Richtungsänderung des technischen Fortschritts. Im Zentrum steht die Erhöhung der Ressourcenproduktivität um den Faktor 4, langfristig um den Faktor 10. Eine Reduzierung des Verbrauchs an natürlichen Ressourcen auf ein Zehntel ist natürlich eine gewaltige Herausforderung an Tüftler, Macher, kreative und unternehmerische Menschen. Sie bedeutet "eine neue technologische Revolution von ähnlichem Ausmaß wie die Industrielle Revolution" . Trotzdem ist dieses kühne Projekt vergleichsweise wenig umstritten und inzwischen in vielen Bereichen Konsens.
Die Effizienzstrategie bildet jedoch nur eine Ebene des Übergangs zu einer nachhaltigen Entwicklung. Sie muss ergänzt und getragen werden durch eine Dimension, welche die Autoren von "Zukunftsfähiges Deutschland" beim Wuppertal-Institut Suffizienz-Strategie nannten. Hier erst geht es zentral um die bereits von der Brundtland-Kommission angesprochenen Bedürfnisse und Lebensstile, um eine neue Definition von Lebensqualität. Damit ist nun keineswegs eine Abkehr von der Vision des guten Lebens für alle vollzogen. Der Schlüssel liegt vielmehr in dem Konzept "neue Wohlstandsmodelle".
"Halb so viel, dafür doppelt so gut": Das griffige Motto des Münchner Öko-Unternehmers Karl Ludwig Schweisfurth trifft den Kern der Sache. Was er für den Konsum von Lebens-Mitteln empfiehlt, wäre auf andere Bereiche des Alltags zu übertragen. Die Suffizienz-Zivilisation fragt nach dem "rechten Maß" und nach einer Balance zwischen materiellen und immateriellen Gütern, zwischen Güterwohlstand, Zeitwohlstand und Raumwohlstand. Sie fragt, was wir wirklich brauchen. Sie hält auch Schönheit für ein Lebens-Mittel. Sie empfiehlt die Konzentration auf das Optimale, also auf das Bessere, die Qualität, das Langlebige, statt auf das Maximale. Sie benennt den Wert des Sozialkapitals und untersucht die Chancen einer neuen Mischung von Erwerbsarbeit, Versorgungsarbeit, Gemeinschaftsarbeit und Eigenarbeit. Sie wirbt für eine Kultur der Selbstbegrenzung und für die Eleganz der Einfachheit - und nimmt damit alte Denkwege einer Philosophie der Lebenskunst wieder auf.
Die "neuen Bilder des guten Lebens" haben in den letzten Jahren an Tiefenschärfe gewonnen. Daran gearbeitet haben größere oder kleinere Ideenschmieden überall im Land: die Institute in Wuppertal und Potsdam, Eurosolar in Bonn, der Kreis um die Zeitschrift "Politische Ökologie" in München, das Projekt "Ökologie der Zeit" in Tutzing, das Wissenschaftszentrum Berlin und der Lehrstuhl für Sozialökologie an der Humboldt-Universität, um nur einige zu nennen. Sie sind vernetzt, legen aber ihren jeweils eigenen Pfad in eine Zivilisation der Nachhaltigkeit. Alle sind mit feinfühligen Sensoren für unterschwellige Regungen und sich neu bildende Strömungen in der Gesellschaft ausgestattet.
"Effizienz und Suffizienz" sagt Ernst Ulrich von Weizsäcker, "bilden ein Paar."Von dieser Einsicht ist der gesellschaftliche und politische Mainstream noch weit entfernt. Mutmachend jedoch ist: Auf der Basis der Idee der Nachhaltigkeit ist eine Suchbewegung entstanden und sehr stark gewachsen, eine "ökologisch gesinnte Subkultur auf Weltebene" (Wolfgang Sachs) mit ähnlichen Problemdefinitionen, Zielperspektiven und Reformansätzen. Es ist eine Bewegung, die Graswurzel-Initiativen und Unternehmen, Teile von öffentlichen Administrationen und wissenschaftlichen Einrichtungen umfasst und auf zahllosen Experimentierfeldern ein Kapital an Wissen und Kompetenz aufgebaut hat, das Fundament notwendiger Veränderungen ist. In der Logik des tibetischen Sprichworts wäre das gleichsam der "Wald". Die Politik wäre gut beraten, wenn sie sensibel darauf achten würde, dass der Wald wächst.