I. Vorbemerkungen
Ehrenamtliche Arbeit ist seit einigen Jahren wieder verstärkt in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion
Insgesamt ist die Zahl der mehr oder weniger ausgearbeiteten Konzepte zur Förderung ehrenamtlicher Arbeit groß und die damit verfolgten Ziele sind mannigfaltig und schillernd
Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit diesen Gefahren anhand der exemplarischen Auseinandersetzung mit dem umfassenden Bürgerarbeitskonzept der Bayerisch-Sächsischen Zukunftskommission. Hierbei lassen sich unterschiedliche An-knüpfungspunkte auch für die allgemeine Debatte ausmachen. In Kapitel II wird zunächst das Bürgerarbeitskonzept der Bayerisch-Sächsischen Zukunftskommission vorgestellt. Bei der konkreten Auseinandersetzung mit den einzelnen Elementen dieses Konzeptes in Kapitel III zeigt sich, dass die durch ehrenamtliche Bürgerarbeit erhofften Arbeitsmarkteffekte kaum zu erwarten sind, dass vielmehr durch den Rückzug staatlich organisierter Sozialpolitik zu Gunsten von Selbsthilfeangeboten eine Gefahr für den Sozial- und Rechtsstaat ausgeht. Stärker geförderte ehrenamtliche Arbeit könnte die soziale Polarisierung eher verstärken bzw. beschleunigen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedrohen.
II. Was ist "Bürgerarbeit"?
Im Zusammenhang um die Debatte zur Zukunft der Arbeitsgesellschaft entwirft die Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen den Vorschlag, durch "Bürgerarbeit" ein "neues attraktives Zentrum gesellschaftlicher Aktivität . . . jenseits der Erwerbsarbeit und jenseits der Arbeitspflicht für Sozialhilfeempfänger" zu schaffen
Ein Kernpunkt in diesem Konzept ist die Figur des "Gemeinwohlunternehmers". Diese neuen Unternehmer "kombinieren in ihrer Person und ihrem Können . . . die Fertigkeiten und die Kunst des Unternehmers im emphatischen Wortsinn" und setzen diese für soziale und gemeinnützige Zwecke ein
Ob der Gemeinwohlunternehmer ebenfalls als unentlohnter "Bürgerarbeiter" tätig wird, bleibt unklar. Auf jeden Fall soll dieser Personenkreis gemeinnützige Unternehmen - auch "Non-Profit-Organisationen" (NPO) genannt - für den Markt sozialer Dienstleistungen gründen. Wo die spezifische Motivation der Gemeinwohlunternehmer liegt, nun auf einmal eine Fülle neuer NPOs zu gründen und diese hauptberuflich als angestellte Lohnempfänger
III. Sozialpolitische Ziele von "Bürgerarbeit"
1. Die Arbeitsmarktwirkung von Bürgerarbeit
Die von der Zukunftskommission erwartete Arbeitsmarktwirkung von Bürgerarbeit lässt sich auf Formel "Erwerbsarbeit und Bürgerarbeit verzahnen - Arbeitslosigkeit senken" bringen. Hiermit ist gemeint, dass allein die Existenz der Institution "Bürgerarbeit" aus sich heraus für eine Senkung der Arbeitslosenzahlen sorge
1. Die Möglichkeit zur Bürgerarbeit senke - so die These - die Erwerbsneigung bestimmter Bevölkerungsgruppen: "In demselben Maß, in dem Bürgerarbeit attraktiv wird . . ., sinkt die Nachfrage nach Erwerbsarbeit. Denn es entsteht eine öffentliche Nische, in der die Menschen die schönen Seiten eines begrenzten ,Arbeitsdrogenentzugs' erfahren können."
2. Für Arbeitslose stellt der Umstand ihrer Arbeitslosigkeit eine Dequalifizierung dar; insbesondere Langzeitarbeitslose bzw. Personen, die ständig wiederkehrend Phasen von Arbeitslosigkeit durchleben, sind von dieser Gefahr bedroht. Bürgerarbeit könne diesen Dequalifizierungsprozess verlangsamen, eventuell sogar stoppen, ja im günstigsten Fall könnten Arbeitslose durch Bürgerarbeit ihre alten Fähigkeiten verbessern und neue Dinge hinzulernen. Sie hätte in diesem Fall die Funktion einer Qualifizierungsmaßnahme.
Empirische Ergebnisse stützen die arbeitsmarktpolitischen Hoffnungen, die mit verstärkter Bürgerarbeit verbunden sind, nicht
Gleichzeitig führt die Zukunftskommission ihr eigenes Konzept selbst ad absurdum, wenn gefordert wird, Bürgerarbeit im Fall von "Übernachfrage" zu begrenzen: "Es gibt kein automatisches Anrecht auf die Beteiligung an Bürgerarbeit. Auch Bürgerarbeit setzt Qualifikation, d. h. Selektion aufgrund von Eignung voraus."
2. Auswirkungen von Bürgerarbeit auf den Sozial- und Rechtsstaat
Neben dem Arbeitsmarkteffekt verspricht sich die Zukunftskommission einerseits Einsparungen bei den Ausgaben der öffentlichen Haushalte bei einer gleichbleibenden, wenn nicht sogar verbesserten Qualität der nun z.T. durch Bürgerarbeit bereitgestellten öffentlichen Leistungen. Andererseits sorge Bürgerarbeit für eine verstärkte Bürgerbeteiligung und dadurch für eine Belebung der Demokratie. Dem sind einige Argumente entgegenzuhalten. Anstelle einer sozialpolitischen Verbesserung und einer Stärkung der Demokratie ist ein umgekehrter Effekt denkbar: Bürgerarbeit stellt möglicherweise sogar eine Gefahr sowohl für den Sozial- als auch für den Rechtsstaat dar.
Einsparungen durch Bürgerarbeit - Umbau oder Abbau des Sozialstaates?
Die Mittel für eventuell zu zahlendes Bürgergeld sollen aus den "Haushalten der Sozialhilfe und gegebenenfalls der Arbeitslosenhilfe entnommen werden"
Ob es tatsächlich gelingen kann, in diesem konkreten Fall mit weniger Mitteln Qualität und Quantität der sozialen Sicherung zumindest beizubehalten, wenn nicht gar zu erhöhen, darf bezweifelt werden. Zwar kann die Produktion öffentlicher Leistungen durch Ehrenamtliche gegenüber einer staatlichen Bereitstellung auch Vorteile aufweisen. Beispielsweise zeigen Ehrenamtliche mitunter ein anderes, klientennäheres Problembewusstsein als professionelle Sozialarbeiter. Trotzdem ist auf die Gefahr des "Versagens des Freiwilligenprinzips" hinzuweisen, wodurch die Qualität ehrenamtlich erbrachter Leistungen gemindert werden kann
Bürgerarbeit und Eigenverantwortung - Abbau von Bürokratie oder Schwächung des Rechtsstaates?
Jede Gesellschaftsform hat ihre spezifische Sozialpolitik. Wie mit den "Verlierern" innerhalb einer Gesellschaft umgegangen wird, ist unterschiedlich und hat sich im Laufe der geschichtlichen Entwicklung gewandelt. In Deutschland gibt es eine lange Tradition, sozialpolitischen Problemen mit bürokratisch formalisierten Systemen wie Pflichtversicherungen oder gesetzlich garantierter Mindestversorgung zu begegnen
Diese Kritik mag zum Teil durchaus berechtigt sein. Aber allzu häufig wird ein wichtiger Punkt bei dieser Debatte vergessen: Die unabhängig von Religion, Ethnie, Verhalten und Überzeugungen nach wohl definierten rechtlichen Kriterien bestehenden Ansprüche des einzelnen Bürgers gegenüber dem sozialen Sicherungssystem ist eine große gesellschaftliche Errungenschaft: Sozialpolitik in früheren Zeiten bedeutete die Abhängigkeit der Hilfeempfänger vom persönlichen Gutdünken der Hilfegeber. Sozialpolitik fungierte somit immer zugleich als Sanktions- und Kontrollmechanismus der Gebenden gegenüber den Empfangenden
Der Vorschlag, durch Bürgerarbeit nicht nur staatliche Sozialpolitik zu ergänzen, sondern mehr und mehr zu ersetzen, birgt die Gefahr der Erosion des Rechtsanspruchs auf Hilfe und daher die Gefahr eines Rückschritts. Empirische Ergebnisse zeigen, dass insbesondere gut ausgebildete - und daher i. d. R. auch gut verdienende - Menschen ehrenamtlich tätig sind. Würde die sozialpolitische Verantwortung vermehrt "Bürgerarbeitern" übertragen, bestünde die Gefahr der verstärkten Abhängigkeit der Hilfebedürftigen von Launen und Moden der "Besserverdienenden". Eine solche Situation begründet nicht nur ein Demokratiedefizit, sondern kann auch zu sinnlosen Abhängigkeitsverhältnissen für die Armen führen, weil es für sie keinerlei Handhabe gibt, über Ressourcen mitzubestimmen, die - ihren Bedürfnissen entsprechend - an sie verteilt werden. Dies wird dann als eine "Angelegenheit der Barmherzigkeit und nicht des Rechtsanspruches behandelt"
Diese Befürchtung wird verstärkt durch die schemenhaft und verklärt dargestellte Figur des Gemeinwohlunternehmers, der über unternehmerische Erfahrung verfügt. Es ist fraglich, ob die von Unternehmerseite identifizierten gesellschaftlichen Probleme mit den Sorgen der Mehrheit der Gesellschaft übereinstimmen. Bürgerarbeit birgt somit das Risiko des "Partikularismus philantropischen Handelns": "Es gibt auch im Non-Profit-Sektor seit langem eine Tendenz, die ,Elite' der Armen bevorzugt zu bedienen und den öffentlichen Institutionen die schwierigsten Fälle und Problemgruppen zu überlassen."
Ulrich Beck mag zwar zuzustimmen sein, wenn er ehrenamtliches Engagement als "Seele der Demokratie" bezeichnet
Zum anderen zeigen die empirischen Befunde, dass die Gruppe der ehrenamtlich Tätigen eben keine repräsentative Bevölkerungsgruppe ist. Tendenziell beteiligen sich verstärkt gut ausgebildete Erwerbstätige in "sicheren" Familienverhältnissen. Wieso sich die Bayerisch-Sächsische Zukunftskommission gerade durch eine Verstärkung dieser Tendenz eine Demokratisierung der Gesellschaft verspricht, bleibt unklar.
Neben demokratietheoretischen Bedenken treten praktische politische Probleme bei der Umsetzung des skizzierten Bürgerarbeitsmodells auf. Die Zukunftskommission stellt bei ehrenamtlicher Tätigkeit einen Trend zum themenabhängigen, projektorientierten Engagement zu Lasten der traditionellen langfristigen Vereins- oder Verbändearbeit fest. Dies steht in Übereinstimmung mit der Auffassung in der Literatur. Aber was folgt aus diesem Befund? Die Kommission sieht in der Berücksichtigung dieser ehrenamtlichen Vorlieben eine Chance zur Aktivierung breiter Bevölkerungsschichten für gemeinnütziges Engagement.
Zu häufig wird aber vergessen, dass wichtige ehrenamtliche Tätigkeiten existieren, die nicht mit sporadischem, stimmungs- oder lustabhängigem Engagement zu erledigen sind. So kann eine pluralistische Demokratie ohne die andauernde und häufige - oftmals vielleicht auch stupide - Alltagsarbeit in Parteien, Verbänden, Gremien etc. (insbesondere auf kommunaler Ebene) nicht auf Dauer bestehen. Und eine Jugendfußballmannschaft trainiert sich auch nicht mit projektbezogenem Engagement. Der Trend zu sporadischen, themenabhängigen Aktivitäten ist somit zwar einerseits als eine verstärkte Bürgerbeteiligung am öffentlichen Leben zu werten, sollte andererseits aber auch als ein politisches Warnsignal, als ein Indiz für eine zunehmende Abhängigkeit von professionellen Meinungsführern verstanden werden.
Auch die (vor)schnelle, ausschließlich positive Bewertung jeglichen ehrenamtlichen Engagements muss skeptisch stimmen. Bei der Debatte um Ehrenamt bzw. Bürgerarbeit steht i. d. R. nicht zur Diskussion, ob alle Ehrenämter wirklich den gesamtgesellschaftlichen Nutzen erhöhen und somit tatsächlich "gemeinnützig" sind. Sicherlich trifft für eine Vielzahl von ehrenamtlichen Tätigkeiten zu, dass gesellschaftliches Engagement den sozialen Zusammenhalt stärkt und damit für die Gesamtgesellschaft von Nutzen ist. Aber es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass das (bewusste oder unbewusste) Ziel ehrenamtlichen Engagements auch zur Spaltung und Aus- bzw. Abgrenzung einzelner gesellschaftlicher Gruppen führen kann. Eine Diskussion, wie sie in Nordrhein-Westfalen um den Klinikstandort für die psychiatrische Behandlung von Straftätern seit Jahren geführt wird, macht dies eindrucksvoll deutlich. Sicher stiften die lokalen Anti-Klinik-Bürgerinitiativen sozialen Zusammenhalt zwischen ihren Mitgliedern, aber sie richten sich gleichzeitig gegen die Bemühungen um eine Integration der dort zu behandelnden Menschen und behindern massiv und dauerhaft die Durchsetzung des durch Landtagswahlen legitimierten "politischen Willens" der nordrhein-westfälischen Bevölkerung
Bürgerarbeit beschleunigt die Polarisierung der Gesellschaft
Der Münchener Soziologe Ulrich Beck tritt seit über zehn Jahren als leidenschaftlicher Streiter für eine Theorie ein, die einerseits die fundamentale Transformation der modernen Industriegesellschaft in eine "Risikogesellschaft" und andererseits die Reaktion der Menschen auf diesen Prozess in Form der "Reflexiven Modernisierung" zum Thema hat
Die Arbeitsmarkteffekte sowie die Hoffnung einer gestärkten Demokratie und die Annahmen der Qualitätsverbesserung von Sozialleistungen bei gleichzeitigen Einsparungen für die öffentliche Hand sind oben bereits diskutiert worden. Neben diesen Effekten verspricht sich Beck vom Prozess der reflexiven Modernisierung - und hierbei speziell von der Entwicklung hin zu einer Tätigkeitsgesellschaft, in der Bürgerarbeit eine entscheidende Rolle spielen wird - die Abmilderung der während des Transformationsprozesses für den Einzelnen mitunter schmerzlichen Individualisierungserfahrung. An die Stelle von Familie oder aber früherer klassenspezifischer sozialer Bindungen tritt nach Beck der zwischenmenschliche Kontakt in neuen, selbstgewählten Lebenszusammenhängen, wie bspw. in Bürgerarbeitsgruppen. Die Bayerische Kommission für Zukunftsfragen erhofft sich denn auch von der Bürgerarbeit eine Überbrückung der Kluft zwischen Familie und Staat
Wenn diese Hoffnung berechtigt wäre, so müsste empirisch nachweisbar sein, dass insbesondere von der Transformation der Industrie- in die Risikogesellschaft betroffene Menschen von sich aus verstärkt ehrenamtlich aktiv würden - auch ohne dass bislang Bürgerarbeitsausschüsse und Gemeinwohlunternehmer installiert worden sind. Tatsächlich zeigt sich aber, dass gerade Menschen, die in "gesicherten" Familienverhältnissen leben, nicht nur überdurchschnittlich häufig ehrenamtlich aktiv sind, sondern dass die Beteiligung dieser Menschen in den letzten Jahren noch zunimmt. Demgegenüber ziehen sich insbesondere Frauen nach einer Trennung vom Partner aus ihrer ehrenamtlichen Arbeit verstärkt zurück
Die mannigfaltigen Hoffnungen, welche die Befürworter des Bürgerarbeitskonzeptes der Bayerisch-Sächsischen Zukunftskommission mit diesem Modell verbinden, sind trügerisch. Die empirischen Ergebnisse können die Hoffnungen, die in jüngster Zeit mit verstärkt gefördertem ehrenamtlichem Engagement verbunden werden, nicht stützen.
Das Ziel, das gesellschaftliche Zusammenleben durch eine Stärkung ehrenamtlicher Akti-vitäten zu verbessern, ist nicht falsch. Natürlich wäre ein Mehr an Demokratie, ein Mehr an sinnstiftender Betätigung, ein Mehr an gegenseitiger Rücksichtnahme und Verantwortung wünschenswert. Doch scheint das Bürgerarbeitskonzept dazu eher ungeeignet zu sein. Vielmehr muss vor den Risiken gewarnt werden, die mit seiner etwaigen Umsetzung verbunden sind.