I. Begriffliche Fragen
Gemeinwohl und Gemeinsinn sind nur zwei der zahlreichen Begriffe, die gegenwärtig regelmäßig auftauchen, wenn es um Diagnose und Therapie sozialen Zusammenhalts und politischer Handlungsfähigkeit geht. Zivilgesellschaft und Bürgergesellschaft, Kommunitarismus und wieder belebter Republikanismus, "soziales Kapital" und "Vertrauen", "Dritter Weg" und "Modernisierung des Regierens" - sie alle gehören zum selben Themenfeld. Jeder dieser Begriffe hat seine eigene Geschichte, seine Vor- und Nachteile; mancher stößt sicher auf Unverständnis oder löst Aversionen aus und Misstrauen gegenüber den Motiven derer, die ihn verwenden. Aber im Kern geht es in dieser Vielzahl koexistierender und eben teils auch konkurrierender gegenwärtiger Diskurse um eine gemeinsame Fragestellung: Durch welche gesellschaftlichen Kräfte kann gesichert werden, dass Markt und Staat als die beiden dominierenden Mechanismen moderner Vergesellschaftung durch ein drittes Prinzip relativiert und modifiziert werden - so dass wir nicht vor der Alternative stehen, entweder die Folgen unregulierten Marktgeschehens einfach passiv hinzunehmen oder umgekehrt zu ihrer Bewältigung ausschließlich auf staatliche Interventionen zu setzen mit der Gefahr einer erstickenden Bürokratisierung des gesellschaftlichen Lebens?
Wenn auch die verschiedenen Begriffe in die gleiche Richtung zielen, eignen sie sich nicht alle gleich gut für die Bezeichnung des Gemeinten: Der Begriff Zivilgesellschaft etwa hat zwar eine bis auf John Locke zurückgehende Geschichte, ist aber doch erst durch die antikommunistischen Dissidenten Osteuropas und insbesondere die polnische Solidarnosc-Bewegung in den Vordergrund gerückt worden. In ihm drückt sich in aller Deutlichkeit das antitotalitäre Bemühen aus, dem Staat Zuständigkeiten zu entreißen und überhaupt erst wieder eine vitale und in sich differenzierte Gesellschaft entstehen zu lassen. Aus demselben Grund liefert er für die westliche Diskussion aber nur wenige Anstöße; so wichtig die Stärkung der Zivilgesellschaft im Westen auch sein mag, um ihre Herstellung geht es zum Glück hier ja nicht.
Der Terminus Kommunitarismus wiederum löst - vornehmlich in Deutschland, über die Assoziation mit der Semantik des deutschen Gemeinschaftsbegriffs - Ängste aus vor einer Rückkehr zu homogenen Kollektiven oder gar einer gesellschaftsübergreifenden, potentiell totalitären "Volksgemeinschaft" - Ängste, die bei den amerikanischen Vertretern des Kommunitarismus, deren demokratische Glaubwürdigkeit ja über jeden Zweifel erhaben ist, auf Kopfschütteln stoßen.
Der Begriff Dritter Weg
Ich werde im Folgenden den Terminus Bürgergesellschaft verwenden, obwohl mir auch dieser Ausdruck nicht ganz glücklich gewählt erscheint. Schwierigkeiten, den richtigen Begriff zu finden, signalisieren meist auch Schwierigkeiten in der Sache. Diese lassen sich gegenwärtig in den Programmdiskussionen aller politischen Parteien in Deutschland identifizieren, da sie alle ihr Verständnis der Balance zwischen Staat, Markt und Gesellschaft oder zwischen Individuum und Gemeinwesen neu justieren müssen. Dabei entdecken sie zeitweise vernachlässigte Stränge ihrer eigenen Traditionen neu - wie das Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre oder die Genossenschaftsideen der Arbeiterbewegung - und setzen sich mit historisch neuen Phänomenen wie einem breitenwirksamen Individualismus auseinander. Aber dieselben Schwierigkeiten durchziehen auch die publizistisch wirksamen Zeitdiagnosen und selbst die professionellen sozialwissenschaftlichen Forschungen.
Es waren in den neunziger Jahren vor allem zwei Einstellungen, die sich störend und belastend auf eine weiterführende Erörterung der Chancen verstärkten bürgerschaftlichen Engagements ausgewirkt haben: zum einen der eher "linke" Verdacht, es handle sich bei all diesen Debatten nur um unterschiedliche Varianten des Versuchs, dem Abbau des Wohlfahrtsstaats eine gefällige Fassade vorzublenden, zum anderen der kulturpessimistische Topos eines fortschreitenden Verfalls der Werte und der Gemeinschaft. Eine kurze Erörterung dieser Vorbehalte soll den Weg freimachen für die Präsentation einiger empirischer Befunde und für Reflexionen auf das, was ich die "Dilemmata des Gemeinsinns" nenne. Ich werde drei solche Dilemmata unterscheiden; sie ergeben sich aus dem Spannungsverhältnis des Gemeinsinns zu drei Formen von Ungleichheit: sozialer, kultureller und politischer Ungleichheit. Diese Dilemmata werden sich als der rationale Kern in den Einstellungen erweisen, die zuvor als Belastung der Diskussion bezeichnet wurden.
II. Gemeinsinn und soziale Gerechtigkeit
Der Verdacht, die Rede von der Bürgergesellschaft sei eine Ideologie zum Abbau des Wohlfahrtsstaats, beruht auf der falschen Annahme, das Verhältnis von Staat und Bürgergesellschaft stelle ein "Nullsummenspiel" dar: je mehr Staat, desto weniger Bürgergesellschaft; je mehr Bürgergesellschaft, desto weniger Staat. Die Tatsache, dass diese falsche Annahme auch am entgegengesetzten Ende des politischen Spektrums vorkommt, mag ein Hinweis darauf sein, dass der Verdacht gar nicht in allen Fällen unberechtigt ist. Dennoch ist die Annahme selbst falsch. Sie mag auf den ersten Blick für den amerikanischen Fall eine gewisse Plausibilität beanspruchen, da in den USA tatsächlich traditionell ein relativ schwacher Staat mit einer relativ starken Bürgergesellschaft einherzugehen scheint. Doch selbst dort trifft sie nicht ganz zu: in positiver Hinsicht nicht, weil der Staat durch Selbsteinschränkung sowie die Institutionalisierung und Garantie eines staatsfreien Raumes, wie sich an den religiösen Glaubensgemeinschaften oder den Stiftungen zeigen lässt, an den Funktionsbedingungen der Bürgergesellschaft durchaus aktiv beteiligt ist; in negativer Hinsicht nicht, weil die Schwäche des Wohlfahrtsstaats in armen und verwahrlosten Stadtbezirken nicht, wie man es bei kommunizierenden Röhren erwarten könnte, ganz von selbst das bürgerschaftliche Engagement anschwellen lässt. Ohne die karitativen Bemühungen und die oft so imponierenden Selbsthilfeversuche der Betroffenen bagatellisieren zu wollen, kann man doch sagen, dass die Phänomene der Verwahrlosung und Abkoppelung von der Gesellschaft, die vom Standpunkt europäischer Wohlfahrtsstaatlichkeit aus unerträglich sind, nicht vorhanden wären, wenn die Lage so einfach wäre.
Die Gegenprobe zu dieser These liefern die skandinavischen Wohlfahrtsgesellschaften. In ihnen gibt es zweifellos starke, sich umfassend für das Wohl des Gemeinwesens verantwortlich fühlende Staaten - aber es kann keine Rede davon sein, dass damit die Vitalität der Bürgergesellschaft zerstört worden sei. Untersuchungen
Daraus schließe ich, dass gewiss alle zu Beginn genannten intellektuell-politischen Diskurse etwas mit der historischen Situation zu tun haben, in der wir uns befinden. Es muss das so erfolgreiche Modell des deutschen Nachkriegskapitalismus mit seiner hohen, auf Qualitätsprodukten und hoch qualifizierter Arbeit beruhenden internationalen Konkurrenzfähigkeit - die hohe Löhne und eine im internationalen Vergleich relativ geringe soziale Ungleichheit ermöglichte - den neuen weltwirtschaftlichen und demographischen Bedingungen, aber auch natürlich der durch die Wiedervereinigung entstandenen Lage angepasst werden
III. Gemeinsinn und kulturelle Pluralität
Als zweite Belastung der Debatten über Gemeinsinn und Bürgergesellschaft habe ich die auf beiden Seiten des Atlantiks zu findende kulturpessimistische Rede vom Verfall der Gemeinschaften und des Gemeinsinns bezeichnet. Die entsprechenden Schlüsselwörter sind allgemein bekannt: Ellenbogengesellschaft und Erlebnisgesellschaft sind erneut nur zwei aus einem vielfältigen Feld von Begriffen. In den USA verbinden manche Kommunitaristen ihre Forderungen mit entsprechenden Jeremiaden. Die berühmt gewordene Diagnose Robert Putnams
1. Empirische Befunde
Die folgenden Ausführungen basieren auf zwei kleinen empirischen Untersuchungen aus meinem Umkreis
In seiner Studie versucht Putnam nachzuweisen, dass der Verfall der bürgerlichen Beteiligung in den USA auf allen Ebenen - vom Freizeitsport bis zur Wahlbeteiligung - offen zutage tritt. Er nennt mögliche Ursachen, die in den öffentlichen Diskussionen regelmäßig aufgeführt werden - Mobilität und Suburbanisierung, Zeitmangel und weibliche Berufstätigkeit, Niedergang der Familie und Ausbau des Wohlfahrtsstaats -, kommt aber zu dem Schluss, dass das Fernsehen mit seiner partizipationsverhindernden und zeitfressenden Wirkung, seinen Einflüssen in Richtung Misanthropie, Überschätzung von Kriminalität und politischem Zynismus die Hauptursache des Verfalls sei
Es sei dahingestellt, ob die Diagnose Putnams für die USA wirklich zutrifft. Es bestehen daran größte Zweifel. Erst recht ist fraglich, ob sich sein Befund auch auf Deutschland übertragen lässt. Putnam spricht etwa von einem dramatischen, d. h. 25- bis 50-prozentigen Rückgang der Mitgliedschaft in Vereinen, Verbänden und Organisationen im Laufe der letzten 30 Jahre. In Deutschland dagegen weisen alle Zahlen für denselben Zeitraum auf eine Steigerung der Mitgliederzahl in Vereinen und Verbänden hin. Zwar gibt es in einzelnen Bereichen und in der jüngsten Vergangenheit drastischen Mitgliederschwund, so sind etwa die Gewerkschaften für Jugendliche nur wenig attraktiv, aber von einer Krise der Vereine und Verbände insgesamt kann in Deutschland dennoch nicht ernsthaft gesprochen werden
Laut Putnams USA-Diagnose hat nicht nur die Mitgliederzahl in Vereinen u. ä. rapide abgenommen, sondern auch der Zeitaufwand der verbliebenen Mitglieder und selbst der Zeitaufwand der Menschen für Geselligkeit. Hier ist die Datenlage für Deutschland eher schwierig, sodass alle Aussagen mit Vorsicht zu behandeln sind. Es scheint aber nicht so, dass sich der Zeitaufwand für freundschaftliche Begegnungen wesentlich verändert hat. Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass derselbe Aufwand an Zeit auf mehr Freunde verteilt wird, d. h., dass die Treffen mit dem einzelnen Partner kürzer und seltener werden. Die Zeit für Vereinsaktivitäten ist deutlich zurückgegangen; berücksichtigt man die gleichzeitige Zunahme von Mitgliedschaften, dann ergibt sich auch hier das Bild einer vielfältigen Zugehörigkeit ohne ausgedehnten Zeitaufwand für eine einzige Sache. Die Markteinführung des privaten Fernsehens scheint tatsächlich eine der Ursachen für veränderte Zeitverwendung zu sein; insbesondere gilt dies in Ostdeutschland und für Jugendliche. Aber weder Jugendliche noch Ostdeutsche kürzen an der Zeit für Geselligkeit; die Jugendlichen sparen eher an der Zeit, die sie mit ihren Familienmitgliedern verbringen; in Ostdeutschland ist ehrenamtliches Engagement nur halb so verbreitet wie in Westdeutschland
Putnam stellt für die USA dramatische Rückgänge bei allen Indikatoren politischer Beteiligung fest - von der Wahlbeteiligung über den Besuch politischer, selbst kommunalpolitischer Veranstaltungen bis zur Parteimitgliedschaft. In Deutschland stieg die Mitgliederzahl der politischen Parteien seit Ende der sechziger Jahre bis Mitte der siebziger Jahre (im Fall der SPD) bzw. Mitte der achtziger Jahre (im Fall der CDU) stark an; seither sinkt sie kontinuierlich, liegt aber weiterhin über den Zahlen der ersten Nachkriegsjahrzehnte. Gleichzeitig verzeichnet die Partei Bündnis 90/Die Grünen einen Mitgliederzuwachs; auch die Wahlbeteiligung sinkt zwar leicht, aber nicht in dem amerikanischen Ausmaß. Erneut sind es Jugendliche und Ostdeutsche, die am wenigsten zu politischer Partizipation bereit sind.
Selbst das Gefühl zwischenmenschlichen Vertrauens - also ein auf den ersten Blick von politischen Veränderungen weitab liegender Bereich - habe sich, so Putnam, in den USA in den letzten drei Jahrzehnten beträchtlich verringert. Hier zeigen die Ergebnisse für Deutschland aber das Gegenteil. Seit dem Beginn der Nachkriegszeit - darauf weisen alle demoskopischen Untersuchungen
Sowohl in den USA wie in Deutschland sanken in den sechziger Jahren Kirchenmitgliedschaft und Kirchgangshäufigkeit rapide; danach aber hat sich die Kirchenbindung bei den Verbliebenen eher konsolidiert, so dass auch hier das Bild eines ständigen Schrumpfens falsch ist. Und in Hinsicht auf ehrenamtliches Engagement sind aufgrund der Schwierigkeiten, dieses zu definieren, die Befunde zwar nicht eindeutig, aber in der Tendenz scheint es möglich, von steigender Beteiligung zu sprechen, sofern sich die Art des Engagements dem Wandel der Engagementmotive anpasst. Zwar haben es die großen Wohlfahrtsverbände schwerer als früher, Menschen zum Engagement zu bewegen; gleichzeitig aber ist die Beteiligung etwa an Selbsthilfegruppen stark gestiegen. Unter dem Gesichtspunkt sozialer Einbindung leisten solche Gruppen für die Beteiligten eher mehr als weniger.
Dieser Überblick gibt also keineswegs Anlass, in Deutschland von einer Krise des Gemeinsinns zu sprechen. Auch in den USA ergeben die Untersuchungen von Robert Wuthnow
In dem Mosaik der Umfrageergebnisse sind die Konturen von Wertsystemen und die Institutionen, kulturellen Traditionen und sozialen Kräfte, die sie tragen, gar nicht mehr recht erkennbar. Deshalb soll das bisher gezeichnete Bild durch ein anderes relativiert werden. Die Gruppe um Robert Bellah
2. Historischer Rückblick
Historisch betrachtet, spielen diese beiden Formen des Individualismus in Deutschland - selbst in liberalen Kreisen - praktisch keine Rolle. Aber auch die gemeinschaftsbezogenen Traditionen unterscheiden sich stark von denen in den USA. Formen eines Republikanismus, der den amerikanischen Traditionen vergleichbar wäre, gibt es zwar in der Schweiz, aber in Deutschland sind diese nur schwach ausgeprägt zu finden: im südwestdeutschen Liberalismus und vielleicht unter dem Bürgertum der großen Hansestädte. Die biblische Tradition spielte in Deutschland zwar eine ebenso wichtige Rolle wie in den USA, aber doch in ganz anderer Form: nicht nämlich als reicher und vitaler Pluralismus staatsferner Denominationen, sondern in der großen Konfessionsspaltung und in der klaren Aufteilung des Territoriums zwischen den Konfessionen nach dem Prinzip, dass die Konfession des Herrschers über die der Beherrschten entscheide. Diese Koexistenz religiöser Territorialmonopole wurde in den Umstrukturierungen nach dem Ende der napoleonischen Kriege aufgeweicht, aber erst durch Industrialisierung und Urbanisierung sowie dann durch die Flüchtlingsbewegungen am Ende des Zweiten Weltkriegs weitgehend überwunden. Es gibt allerdings in Deutschland andere Traditionen des "Gemeinsinns", die in diesem Maße für die USA nicht Bedeutung erlangten: eine sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Tradition einerseits, eine konservativ-nationale Tradition andererseits.
Das Erlebnis des Ersten Weltkriegs und die in vieler Hinsicht als avantgardistisch modern erlebte nationalsozialistische Bewegung boten erstmals die Aussicht auf eine nationale Bewegung von milieuübergreifendem Zuschnitt. Die NS-Diktatur selbst schwächte alle für die deutsche Gesellschaft charakteristischen Milieus, ohne sie allerdings ganz zu zerstören - wenn ich von dem unaussprechlichen Horror, der den jüdischen Bürgern widerfuhr, schweigen darf. Entsprechend begannen die geschwächten Milieus und Organisationen nach 1945 damit, sich unter alliierter Vorherrschaft zu rekonstituieren. In ihren frühen Jahren war die Bundesrepublik Deutschland deshalb zwar ein neuer demokratischer Staat, aber einer, der sich auf der Basis einer nur leicht veränderten Sozialstruktur und relativ traditioneller kultureller Milieus erhob.
Erst das Wirtschaftswunder, insbesondere der Fahrstuhleffekt (Ulrich Beck) im Schichtungssystem, und dann die Bildungsexpansion führten zu umstürzenden Veränderungen dieser Milieus. Millionen junger Menschen erlebten ihre Bildungskarriere als je individuelle Überwindung ihrer Herkunftsmilieus; die Veränderung der Berufsstruktur erschien ihnen als persönlicher Erfolg und sozialer Aufstieg. Doch angesichts der Massenhaftigkeit dieser Prozesse verloren damit die Herkunftsmilieus nicht einfach nur einen Teil ihres Nachwuchses; sie verloren großenteils ihre Identität.
Es ist erforderlich, zwischen der politischen Artikulation eines Milieus und seinem lebensweltlichen Zusammenhang zu unterscheiden: Im Kaiserreich etwa lässt sich durchaus von heterogenen Klassenlagen der deutschen Arbeiterschaft sprechen; sie wurde aber nolens volens in eine umfassende Gesinnungsgemeinschaft, ein Lager mit vielfältigen Organisationsformen, zusammengeschweißt. Für die Nachkriegszeit kann festgehalten werden, dass die Klassenlagen der Arbeiter homogener wurden und doch das Milieu seine klaren Konturen verlor. Die Wiederbelebung der Arbeiterkultur und des schichtenspezifischen Vereinswesens blieb weitgehend aus. Zwar waren die Sozialmilieus der Arbeiterbewegung und des Katholizismus nach dem Krieg noch einmal konstitutiv für die Formierung der großen Parteien, doch verblassten die spezifischen Bindungen der Milieus eben bis zum Ende der sechziger Jahre. In dieses Jahrzehnt fällt der größte Schub der Anhebung des Lebensstandards, der sozialen Mobilität und der Angleichung der Lebensformen. Gleichzeitig tritt eine neue Arbeitergeneration nach vorne, die nicht mehr in den katholischen oder sozialistischen Arbeiterkulturen, sondern in einer Zeit des Wohlstands, gestiegener Mobilität und einer relativ klassenunspezifischen Massenkultur sozialisiert worden war.
Ähnlich wie dem sozialdemokratischen erging es dem katholischen Milieu. Zusammengeschweißt insbesondere durch den Kulturkampf im Bismarck-Reich, schmolz es als identifizierbares Milieu in der Nachkriegszeit immer weiter zusammen. Hinzu kommt hier eine Art stiller antiautoritärer Bewegung - d. h. ein "Abbau der ,Fügsamkeit' des Kirchenvolks, der fortschreitende Verlust an (klerikaler) Kontrolle über normative Orientierung und Motivbildung und nicht zuletzt der Abbau einer ,Monopolstellung' . . ., die dem kirchlich verfassten Christentum die religiöse ,Alleinzuständigkeit' sicherte"
Ein vergleichbar geschlossenes protestantisches Milieu gab es in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert nicht. Gerade wegen seines konfessionellen Mehrheitscharakters zerfiel es politisch in eher konservative und eher liberale Teilmilieus. Dabei ist es dem aristokratisch-großbürgerlich geprägten konservativen Milieu seit der Wende zum 20. Jahrhundert weitgehend gelungen, auch große Teile kleinbürgerlicher Milieus, die im 19. Jahrhundert ein liberales Milieu bildeten, zu integrieren. Am ehesten ließen sich in der DDR scharf konturierte protestantische Milieus identifizieren - was in leichter Übertreibung, aber nicht ohne jeden Grund in der Sache, dazu geführt hat, den Aufstand von 1989 eine "protestantische Revolution"
Wichtiger als die vielfältigen Details dieser Entwicklungen ist im vorliegenden Zusammenhang die Frage, ob es den in Deutschland fast völlig neuartigen Strömungen des Individualismus gelungen ist, selbst milieubildend zu wirken. Für den selbstverwirklichungsorientierten oder - nach Bellah - "expressiven" Individualismus
3. Milieuwandel und Wertentstehung
Wie also lautet in der Summe der Befund dieser hier nur grob zusammengefassten Studien zum Wandel soziomoralischer Milieus in Deutschland? Trotz verschiedenster Einschränkungen trifft die Diagnose von der weitgehenden Auflösung der lange Zeit wertstützenden Milieus in Deutschland sehr wohl zu. Die Auflösung ist zwar nicht total - wie schon der Blick auf die stabil-christlichen und auf die Reste arbeiterbewegungsnaher Milieus ergeben hat -, und auch insofern nicht, als sich in der Engagementbereitschaft vieler Menschen Solidaritätsnormen ihrer Herkunftsmilieus, etwa der Arbeiterschaft oder auch des bäuerlichen Lebens, nachweisen lassen, und das oft zu Zeitpunkten, zu denen dieses prägende Milieu gar nicht mehr vorhanden ist. Und es gibt offensichtlich neu entstehende Milieus, wie hier unter Bezug auf das grün-alternative Milieu behauptet wurde. Dabei ist dieses keineswegs das einzige, denn wenn es heute eine Milieupartei in Deutschland gibt, dann ist es wohl die PDS in ihrem Rückgriff auf ein Ex-DDR-Milieu. Ebenso finden wir stabilisierte ethnische Milieus von Einwanderern im heutigen Deutschland. Aber für alle, welche die Auflösung der "alten" Milieus als Verlust wahr-nehmen und als Bedrohung der Quellen des Gemeinsinns, werden diese Einschränkungen gegenüber der Auflösungs-Diagnose ein schwacher Trost sein. Ist es dann nicht nur eine Frage der Zeit, bis auch die letzten Relikte einer über das Individuum hinaus reichenden Werte-Tradition allen Halt verloren haben werden?
An eben diesem Punkt liegt die empirische Pointe meiner Ausführungen. Wenn zutrifft, was ich hier behaupte, dass die Milieuauflösung keineswegs zu einem dramatischen Verlust an Gemeinsinn geführt hat, und wenn der vorhandene Gemeinsinn nicht als bloßes Relikt der guten alten Zeit vor der Auflösung betrachtet wird, dann muss es andere Formen der Entstehung und der Reproduktion des Gemeinsinns und überhaupt der Werte geben, als es die Milieukonzeption unterstellt.
Sowohl der Begriff des Milieus wie die soziale Wirklichkeit, auf die er zielt, erweisen sich bei erneuter Betrachtung als keineswegs so eindeutig und so eindeutig positiv, wie es zuerst erschien
Die soziale Wirklichkeit, für die der Begriff so gut passte, war die der Versäulung, der Abgrenzung der Milieus voneinander, der Defensive im "bewussten Gegensatz gegen Dritte" (Max We-ber). Als die traditionellen Milieus in der Bundesrepublik Deutschland sich aufzulösen begannen, war die verbreitete Wahrnehmung eben nicht eine des Zerfalls, sondern eine der positiven Integration. "Die Entlastung von den großen konfessionellen, sozialregionalen und klassenmäßigen Disparitäten des Deutschen Reiches, die wachsende Teilhabe an Bildung, Wohlstand und sozialer Sicherheit, die Erosion polarisierender Klassenmentalitäten und die Entstehung modernerer Arbeitnehmermilieus, verbunden mit der Tendenz von Parteien, die zuvor begrenzte Klassenmilieus integrierten, zu milieuübergreifenden Volks- oder ,catch-all-Parteien'"
Dieses Dilemma des Gemeinsinns ergibt sich aus der Spannung mit kultureller Heterogenität, aber es ist nicht unauflösbar. Die Frage sollte nicht sein, wie Milieus stabilisiert oder gerettet werden können, sondern wie Werte entstehen und weitergegeben werden können
Dies geht allerdings nicht ohne den Versuch zur zeitgemäßen Artikulation eben dieser Werte. Soziologische Forschung, die sich von der adäquaten Rekonstruktion der Handlungsmotive und ihrer Durchsetzung mit der Artikulation kultureller Traditionen fernhält und ihre aus der Datenanalyse per Konvention entstehenden Typen als reale kulturelle Gestalten verkauft, kann dieser Aufgabe nicht genügen. Aber auch die Rekonstruktionen von Milieuwandel und Milieuauflösung bleiben blind, wenn sie sich nicht selbst als Teil des gesellschaftlichen Gesprächs über Werte reflektieren.
IV. Gemeinsinn und Demokratie
Die traditionellen Milieus, von denen die Rede war, hatten hinsichtlich des Engagements der Bürger auf jeden Fall einen großen Vorzug: In ihnen wurden alle Bürger, Alte und Junge, Männer und Frauen, mehr oder weniger Gebildete mobilisiert. Sowohl in den kirchlichen Gemeinden und Vereinen wie in der sozialdemokratischen Bewegung gab es nicht die bei Untersuchungen zum bürgerschaftlichen Engagement heute so oft festgestellte Bildungslastigkeit. Bei den in Deutschland in den letzten Jahrzehnten entstandenen, mit den sogenannten neuen sozialen Bewegungen verbundenen Organisationen und selbst bei vielen imponierenden Beispielen der Selbsthilfe (etwa im Bereich AIDS) ist das wohl anders. Hier scheint die Bildungslastigkeit ganz besonders ausgeprägt, und der Brückenschlag zu den Problemen sowohl der alten industriegesellschaftlichen Konfliktlinien wie der neuen, postindustriellen sozialen Ungleichheiten ist nur vage zu erkennen.
Auch die gegenwärtigen Spekulationen über neue Partizipationsformen, die durch das Internet ermöglicht werden, brechen sich in dieser Hinsicht rasch am "digital divide", der Kluft zwischen den Computerbenutzern und den Computer-Analphabeten. Zwar könnte es sein, dass manche der dramatischeren Befunde zur sozialen Exklusivität neuer Solidaritätsformen
Hier ist in Deutschland, insbesondere wegen der neuen Konstellation, die zum Aufblühen der Debatten über Gemeinsinn und Bürgergesellschaft geführt hat, geradezu Neuland zu betreten. Der Überschwang etwa, mit dem heute die Hoffnung auf Stifter und Stiftungen gesetzt wird, muss gar nicht gebremst werden; aber er ist doch dadurch auszubalancieren, dass dieselben Fragen, die traditionell kritisch an Staat und Bürokratie gerichtet werden, nun auch auf die Strukturen der Bürgergesellschaft bezogen werden. Wer handelt, wenn eine Stiftung tätig wird? Wie sind die inneren Entscheidungsstrukturen? Gibt es Monopole einzelner Stiftungen auf bestimmten Fördergebieten? Welche Aufgaben bleiben unerledigt? In den USA hat sich über Jahrhunderte eine Kultur der Einflussbegrenzung, der Autonomiewahrung gegenüber den Stiftern entwickelt, von der in Deutschland noch nichts zu sehen ist.
Unter demselben Gesichtspunkt dieses dritten Dilemmas stellen sich weiterhin Fragen nach den Folgen des bürgerschaftlichen Engagements: ob dieses nur Spielwiese für Gutwillige ist oder wie stark es mit den Strukturen politisch folgenreicher Willensbildung verknüpft ist. Wenn davon die Rede war, dass eben nach der Schrumpfung oder Auflösung der Milieus die Erfahrung folgenreicher Beteiligung wichtig ist für das Nachwachsen der Beteiligungsmotive, dann lag der Akzent auf dem Wort "folgenreich". Ich halte kaum etwas für schädlicher auf diesem Gebiet als die Freigabe von Bereichen für Pseudo-Engagement. In den Institutionen des Bildungswesens in Deutschland hat die Demokratisierungswelle der sechziger und siebziger Jahre viele Formen zeitraubenden Pseudo-Engagements hinterlassen, deren Wirkungen auf Partizipationsmotive eher zerstörend sind. Klare Verantwortlichkeiten, Handlungsfähigkeit und Kontrolle statt organisierter Verantwortungslosigkeit und -diffusion - das müsste hier der Ausweg aus dem dritten Dilemma des Gemeinsinns sein.
Der normative Ertrag dieser Überlegungen ist demnach, dass Gemeinsinn nicht einfach per se als positiv zu werten ist, sondern nur zu etwas Gutem wird, wenn seine Ausdrucksformen sich in der Prüfung durch die drei Dilemmata der sozialen, kulturellen und politischen Ungleichheit bewähren. Die Stärkung der Bürgergesellschaft ist kein Zaubermittel für die Lösung aller Probleme; aber in der heutigen Konstellation und gerade angesichts der weitgehenden Auflösung der für Deutschland traditionell charakteristischen Milieus scheinen viele Probleme in der Tat ohne die Stärkung der Bürgergesellschaft unlösbar.