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Ungleichheit in der Bürgergesellschaft | Politisches Engagement | bpb.de

Politisches Engagement Editorial Bürgerschaftliches Engagement im politischen Diskurs Gespaltene Bürgergesellschaft? Ungleichheit in der Bürgergesellschaft Freiwilliges Engagement in den neuen und alten Bundesländern Die sozialen Risiken "Neuer Ehrenamtlichkeit"

Ungleichheit in der Bürgergesellschaft Über einige Dilemmata des Gemeinsinns

Hans Joas

/ 25 Minuten zu lesen

Worin unterscheiden sich die drei Dilemmata des Gemeinsinns? Sie ergeben sich aus dem Spannungsverhältnis des Gemeinsinns zu drei Formen von Ungleichheit.

I. Begriffliche Fragen

Gemeinwohl und Gemeinsinn sind nur zwei der zahlreichen Begriffe, die gegenwärtig regelmäßig auftauchen, wenn es um Diagnose und Therapie sozialen Zusammenhalts und politischer Handlungsfähigkeit geht. Zivilgesellschaft und Bürgergesellschaft, Kommunitarismus und wieder belebter Republikanismus, "soziales Kapital" und "Vertrauen", "Dritter Weg" und "Modernisierung des Regierens" - sie alle gehören zum selben Themenfeld. Jeder dieser Begriffe hat seine eigene Geschichte, seine Vor- und Nachteile; mancher stößt sicher auf Unverständnis oder löst Aversionen aus und Misstrauen gegenüber den Motiven derer, die ihn verwenden. Aber im Kern geht es in dieser Vielzahl koexistierender und eben teils auch konkurrierender gegenwärtiger Diskurse um eine gemeinsame Fragestellung: Durch welche gesellschaftlichen Kräfte kann gesichert werden, dass Markt und Staat als die beiden dominierenden Mechanismen moderner Vergesellschaftung durch ein drittes Prinzip relativiert und modifiziert werden - so dass wir nicht vor der Alternative stehen, entweder die Folgen unregulierten Marktgeschehens einfach passiv hinzunehmen oder umgekehrt zu ihrer Bewältigung ausschließlich auf staatliche Interventionen zu setzen mit der Gefahr einer erstickenden Bürokratisierung des gesellschaftlichen Lebens?

Wenn auch die verschiedenen Begriffe in die gleiche Richtung zielen, eignen sie sich nicht alle gleich gut für die Bezeichnung des Gemeinten: Der Begriff Zivilgesellschaft etwa hat zwar eine bis auf John Locke zurückgehende Geschichte, ist aber doch erst durch die antikommunistischen Dissidenten Osteuropas und insbesondere die polnische Solidarnosc-Bewegung in den Vordergrund gerückt worden. In ihm drückt sich in aller Deutlichkeit das antitotalitäre Bemühen aus, dem Staat Zuständigkeiten zu entreißen und überhaupt erst wieder eine vitale und in sich differenzierte Gesellschaft entstehen zu lassen. Aus demselben Grund liefert er für die westliche Diskussion aber nur wenige Anstöße; so wichtig die Stärkung der Zivilgesellschaft im Westen auch sein mag, um ihre Herstellung geht es zum Glück hier ja nicht.

Der Terminus Kommunitarismus wiederum löst - vornehmlich in Deutschland, über die Assoziation mit der Semantik des deutschen Gemeinschaftsbegriffs - Ängste aus vor einer Rückkehr zu homogenen Kollektiven oder gar einer gesellschaftsübergreifenden, potentiell totalitären "Volksgemeinschaft" - Ängste, die bei den amerikanischen Vertretern des Kommunitarismus, deren demokratische Glaubwürdigkeit ja über jeden Zweifel erhaben ist, auf Kopfschütteln stoßen.

Der Begriff Dritter Weg wiederum ist zumindest in Kontinentaleuropa in der Vergangenheit mit so vielen, oft abseitigen Projekten verbunden worden, dass seine Wiederbelebung durch Anthony Giddens und Tony Blair nicht gerade auf begeisterte Zustimmung stieß. Auch seinen Verfechtern scheint er inzwischen nicht mehr ganz geheuer zu sein.

Ich werde im Folgenden den Terminus Bürgergesellschaft verwenden, obwohl mir auch dieser Ausdruck nicht ganz glücklich gewählt erscheint. Schwierigkeiten, den richtigen Begriff zu finden, signalisieren meist auch Schwierigkeiten in der Sache. Diese lassen sich gegenwärtig in den Programmdiskussionen aller politischen Parteien in Deutschland identifizieren, da sie alle ihr Verständnis der Balance zwischen Staat, Markt und Gesellschaft oder zwischen Individuum und Gemeinwesen neu justieren müssen. Dabei entdecken sie zeitweise vernachlässigte Stränge ihrer eigenen Traditionen neu - wie das Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre oder die Genossenschaftsideen der Arbeiterbewegung - und setzen sich mit historisch neuen Phänomenen wie einem breitenwirksamen Individualismus auseinander. Aber dieselben Schwierigkeiten durchziehen auch die publizistisch wirksamen Zeitdiagnosen und selbst die professionellen sozialwissenschaftlichen Forschungen.

Es waren in den neunziger Jahren vor allem zwei Einstellungen, die sich störend und belastend auf eine weiterführende Erörterung der Chancen verstärkten bürgerschaftlichen Engagements ausgewirkt haben: zum einen der eher "linke" Verdacht, es handle sich bei all diesen Debatten nur um unterschiedliche Varianten des Versuchs, dem Abbau des Wohlfahrtsstaats eine gefällige Fassade vorzublenden, zum anderen der kulturpessimistische Topos eines fortschreitenden Verfalls der Werte und der Gemeinschaft. Eine kurze Erörterung dieser Vorbehalte soll den Weg freimachen für die Präsentation einiger empirischer Befunde und für Reflexionen auf das, was ich die "Dilemmata des Gemeinsinns" nenne. Ich werde drei solche Dilemmata unterscheiden; sie ergeben sich aus dem Spannungsverhältnis des Gemeinsinns zu drei Formen von Ungleichheit: sozialer, kultureller und politischer Ungleichheit. Diese Dilemmata werden sich als der rationale Kern in den Einstellungen erweisen, die zuvor als Belastung der Diskussion bezeichnet wurden.

II. Gemeinsinn und soziale Gerechtigkeit

Der Verdacht, die Rede von der Bürgergesellschaft sei eine Ideologie zum Abbau des Wohlfahrtsstaats, beruht auf der falschen Annahme, das Verhältnis von Staat und Bürgergesellschaft stelle ein "Nullsummenspiel" dar: je mehr Staat, desto weniger Bürgergesellschaft; je mehr Bürgergesellschaft, desto weniger Staat. Die Tatsache, dass diese falsche Annahme auch am entgegengesetzten Ende des politischen Spektrums vorkommt, mag ein Hinweis darauf sein, dass der Verdacht gar nicht in allen Fällen unberechtigt ist. Dennoch ist die Annahme selbst falsch. Sie mag auf den ersten Blick für den amerikanischen Fall eine gewisse Plausibilität beanspruchen, da in den USA tatsächlich traditionell ein relativ schwacher Staat mit einer relativ starken Bürgergesellschaft einherzugehen scheint. Doch selbst dort trifft sie nicht ganz zu: in positiver Hinsicht nicht, weil der Staat durch Selbsteinschränkung sowie die Institutionalisierung und Garantie eines staatsfreien Raumes, wie sich an den religiösen Glaubensgemeinschaften oder den Stiftungen zeigen lässt, an den Funktionsbedingungen der Bürgergesellschaft durchaus aktiv beteiligt ist; in negativer Hinsicht nicht, weil die Schwäche des Wohlfahrtsstaats in armen und verwahrlosten Stadtbezirken nicht, wie man es bei kommunizierenden Röhren erwarten könnte, ganz von selbst das bürgerschaftliche Engagement anschwellen lässt. Ohne die karitativen Bemühungen und die oft so imponierenden Selbsthilfeversuche der Betroffenen bagatellisieren zu wollen, kann man doch sagen, dass die Phänomene der Verwahrlosung und Abkoppelung von der Gesellschaft, die vom Standpunkt europäischer Wohlfahrtsstaatlichkeit aus unerträglich sind, nicht vorhanden wären, wenn die Lage so einfach wäre.

Die Gegenprobe zu dieser These liefern die skandinavischen Wohlfahrtsgesellschaften. In ihnen gibt es zweifellos starke, sich umfassend für das Wohl des Gemeinwesens verantwortlich fühlende Staaten - aber es kann keine Rede davon sein, dass damit die Vitalität der Bürgergesellschaft zerstört worden sei. Untersuchungen haben gezeigt, dass die befürchteten destruktiven Wirkungen zwar auftreten können, aber nicht müssen: Wenn etwa staatliche Altenheime hoch zentralisiert sind, so dass der räumliche Abstand zu den Angehörigen zu groß wird, nimmt die Besuchshäufigkeit ab; bei dezentralen Heimen, meist in kommunaler Trägerschaft, ist dies aber nicht der Fall. Ein Beispiel aus Deutschland wäre die bei der Einführung der Pflegeversicherung heiß diskutierte Frage, ob diese die Pflegebereitschaft der Angehörigen zum Erlahmen bringt oder vielmehr stützt und ermöglicht. Eine Untersuchung für Berlin hat ergeben, dass zwar im Einzelnen, etwa durch die kleinteilige Ökonomisierung staatlich garantierter Leistungen, "perverse Effekte" auftreten können - das bedeutet in diesem Zusammenhang eine Ökonomisierung auch im Selbstverständnis der pflegenden Angehörigen - insgesamt aber nicht von einem Rückgang der Pflegebereitschaft aufgrund der neuen Leistungen ausgegangen werden kann.

Daraus schließe ich, dass gewiss alle zu Beginn genannten intellektuell-politischen Diskurse etwas mit der historischen Situation zu tun haben, in der wir uns befinden. Es muss das so erfolgreiche Modell des deutschen Nachkriegskapitalismus mit seiner hohen, auf Qualitätsprodukten und hoch qualifizierter Arbeit beruhenden internationalen Konkurrenzfähigkeit - die hohe Löhne und eine im internationalen Vergleich relativ geringe soziale Ungleichheit ermöglichte - den neuen weltwirtschaftlichen und demographischen Bedingungen, aber auch natürlich der durch die Wiedervereinigung entstandenen Lage angepasst werden . Eine solche Anpassung aber ist nicht gleichbedeutend mit dem Versuch, den Wohlfahrtsstaat aufzugeben. So unberechtigt und intellektuell hemmend der pauschale, ideologiekritische Vorbehalt also ist, weist er doch auf ein erstes Dilemma des Gemeinsinns hin: das Spannungsfeld zwischen "Gemeinsinn" und "sozialer Gerechtigkeit". Die Frage, ob die Stärkung bürgerschaftlichen Engagements auch unter dem Gesichtspunkt sozialer Gleichheit oder Gerechtigkeit immer wünschenswert ist, wird im Verlauf noch näher erörtert.

III. Gemeinsinn und kulturelle Pluralität

Als zweite Belastung der Debatten über Gemeinsinn und Bürgergesellschaft habe ich die auf beiden Seiten des Atlantiks zu findende kulturpessimistische Rede vom Verfall der Gemeinschaften und des Gemeinsinns bezeichnet. Die entsprechenden Schlüsselwörter sind allgemein bekannt: Ellenbogengesellschaft und Erlebnisgesellschaft sind erneut nur zwei aus einem vielfältigen Feld von Begriffen. In den USA verbinden manche Kommunitaristen ihre Forderungen mit entsprechenden Jeremiaden. Die berühmt gewordene Diagnose Robert Putnams von der Tendenz zum "bowling alone", d. h. vom Verfall des kollektiven Freizeitsports und der ihn ermöglichenden Strukturen, steht in einer reichen Tradition, insofern schon im späten 17. Jahrhundert in Nordamerika der Verfall der wahren puritanischen Moral diagnostiziert und beklagt wurde.

1. Empirische Befunde

Die folgenden Ausführungen basieren auf zwei kleinen empirischen Untersuchungen aus meinem Umkreis . Pauschal lässt sich sagen, dass sich aus der einen der beiden Untersuchungen für Deutschland eher Entwarnung hinsichtlich eines Verfalls des Gemeinsinns ergibt, in der anderen aber der Befund eines radikalen Wandels und einer weitgehenden Auflösung von Gemeinschaftswerte stützenden Milieus bestätigt wird. Mich interessiert hier insbesondere die Spannung zwischen diesen beiden angedeuteten Befunden. Wie kann es sein, dass die dramatische Auflösung und Umwandlung soziomoralischer Milieus nicht zu dramatischeren Befunden bei den Daten zum bürgerschaftlichen Engagement führt? Sind diese Daten vielleicht irreführend und spiegeln sie möglicherweise mehr nominelle Mitgliedschaften wider, so dass die tatsächliche Bereitschaft der Bürger zum Gemeinsinn niedriger ist und doch Anlass zu Klagen besteht? Oder entgeht umgekehrt den Beschreibungen der Individualisierung und Milieuzersetzung etwas, etwa die Neuentstehung oder Persistenz wertstützender Milieus, so dass auf dieser Seite Korrekturen nötig sind? Stimmen etwa beide Befunde nicht, und zeigt dies nur, dass die Sozialforschung auch hier hilflos im Nebel der gesellschaftlichen Veränderungen herumirrt? Oder treffen beide Befunde in der Tat zu, und muss man dementsprechend einsehen, dass nahe liegende Annahmen über den Zusammenhang von Milieu und Engagementbereitschaft nicht zutreffen? Auf Letzteres will ich hinaus - und normativ spiegelt sich in dieser empirischen Frage das zweite Dilemma des Gemeinsinns, das Verhältnis nämlich zwischen Gemeinsinn und kultureller Ungleichheit.

In seiner Studie versucht Putnam nachzuweisen, dass der Verfall der bürgerlichen Beteiligung in den USA auf allen Ebenen - vom Freizeitsport bis zur Wahlbeteiligung - offen zutage tritt. Er nennt mögliche Ursachen, die in den öffentlichen Diskussionen regelmäßig aufgeführt werden - Mobilität und Suburbanisierung, Zeitmangel und weibliche Berufstätigkeit, Niedergang der Familie und Ausbau des Wohlfahrtsstaats -, kommt aber zu dem Schluss, dass das Fernsehen mit seiner partizipationsverhindernden und zeitfressenden Wirkung, seinen Einflüssen in Richtung Misanthropie, Überschätzung von Kriminalität und politischem Zynismus die Hauptursache des Verfalls sei .

Es sei dahingestellt, ob die Diagnose Putnams für die USA wirklich zutrifft. Es bestehen daran größte Zweifel. Erst recht ist fraglich, ob sich sein Befund auch auf Deutschland übertragen lässt. Putnam spricht etwa von einem dramatischen, d. h. 25- bis 50-prozentigen Rückgang der Mitgliedschaft in Vereinen, Verbänden und Organisationen im Laufe der letzten 30 Jahre. In Deutschland dagegen weisen alle Zahlen für denselben Zeitraum auf eine Steigerung der Mitgliederzahl in Vereinen und Verbänden hin. Zwar gibt es in einzelnen Bereichen und in der jüngsten Vergangenheit drastischen Mitgliederschwund, so sind etwa die Gewerkschaften für Jugendliche nur wenig attraktiv, aber von einer Krise der Vereine und Verbände insgesamt kann in Deutschland dennoch nicht ernsthaft gesprochen werden . Bei Frauen ist die Mitgliedschaftsquote sogar leicht gestiegen. Bezieht man neben den traditionellen Vereinen und Verbänden auch Organisationen ein, die oft den "neuen sozialen Bewegungen" zugerechnet werden, wie Selbsthilfe- und Umweltgruppen, dann wird das Bild noch wesentlich positiver. Allein die Mitgliederzahl von Umweltverbänden ist in den siebziger und achtziger Jahren um drei Viertel gewachsen. Mitgliederzahlen allein sind natürlich nicht sehr aussagekräftig, da Mitgliedschaft ja rein passiv sein kann. In der Tat gibt es Anzeichen für eine relative Zunahme bloß passiver Mitgliedschaft. Hohe Aktivitätsgrade finden sich heute vornehmlich in kleinen und überschaubaren Vereinigungen, in denen auf individuelle Wünsche eingegangen wird und die ein Engagement erlauben, das nicht als Pflicht und Einverleibung erlebt wird. Dies hat mit einem schon oft beschriebenen Rückgang der Pflichtmotive bei bürgerschaftlichem Engagement und einer Zunahme von Selbstverwirklichungsmotiven zu tun.

Laut Putnams USA-Diagnose hat nicht nur die Mitgliederzahl in Vereinen u. ä. rapide abgenommen, sondern auch der Zeitaufwand der verbliebenen Mitglieder und selbst der Zeitaufwand der Menschen für Geselligkeit. Hier ist die Datenlage für Deutschland eher schwierig, sodass alle Aussagen mit Vorsicht zu behandeln sind. Es scheint aber nicht so, dass sich der Zeitaufwand für freundschaftliche Begegnungen wesentlich verändert hat. Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass derselbe Aufwand an Zeit auf mehr Freunde verteilt wird, d. h., dass die Treffen mit dem einzelnen Partner kürzer und seltener werden. Die Zeit für Vereinsaktivitäten ist deutlich zurückgegangen; berücksichtigt man die gleichzeitige Zunahme von Mitgliedschaften, dann ergibt sich auch hier das Bild einer vielfältigen Zugehörigkeit ohne ausgedehnten Zeitaufwand für eine einzige Sache. Die Markteinführung des privaten Fernsehens scheint tatsächlich eine der Ursachen für veränderte Zeitverwendung zu sein; insbesondere gilt dies in Ostdeutschland und für Jugendliche. Aber weder Jugendliche noch Ostdeutsche kürzen an der Zeit für Geselligkeit; die Jugendlichen sparen eher an der Zeit, die sie mit ihren Familienmitgliedern verbringen; in Ostdeutschland ist ehrenamtliches Engagement nur halb so verbreitet wie in Westdeutschland .

Putnam stellt für die USA dramatische Rückgänge bei allen Indikatoren politischer Beteiligung fest - von der Wahlbeteiligung über den Besuch politischer, selbst kommunalpolitischer Veranstaltungen bis zur Parteimitgliedschaft. In Deutschland stieg die Mitgliederzahl der politischen Parteien seit Ende der sechziger Jahre bis Mitte der siebziger Jahre (im Fall der SPD) bzw. Mitte der achtziger Jahre (im Fall der CDU) stark an; seither sinkt sie kontinuierlich, liegt aber weiterhin über den Zahlen der ersten Nachkriegsjahrzehnte. Gleichzeitig verzeichnet die Partei Bündnis 90/Die Grünen einen Mitgliederzuwachs; auch die Wahlbeteiligung sinkt zwar leicht, aber nicht in dem amerikanischen Ausmaß. Erneut sind es Jugendliche und Ostdeutsche, die am wenigsten zu politischer Partizipation bereit sind.

Selbst das Gefühl zwischenmenschlichen Vertrauens - also ein auf den ersten Blick von politischen Veränderungen weitab liegender Bereich - habe sich, so Putnam, in den USA in den letzten drei Jahrzehnten beträchtlich verringert. Hier zeigen die Ergebnisse für Deutschland aber das Gegenteil. Seit dem Beginn der Nachkriegszeit - darauf weisen alle demoskopischen Untersuchungen hin - steigt das zwischenmenschliche Vertrauen in Deutschland (West) praktisch kontinuierlich an, nehmen im Übrigen - entgegen allen Klischees - auch Einsamkeitsgefühle eher ab.

Sowohl in den USA wie in Deutschland sanken in den sechziger Jahren Kirchenmitgliedschaft und Kirchgangshäufigkeit rapide; danach aber hat sich die Kirchenbindung bei den Verbliebenen eher konsolidiert, so dass auch hier das Bild eines ständigen Schrumpfens falsch ist. Und in Hinsicht auf ehrenamtliches Engagement sind aufgrund der Schwierigkeiten, dieses zu definieren, die Befunde zwar nicht eindeutig, aber in der Tendenz scheint es möglich, von steigender Beteiligung zu sprechen, sofern sich die Art des Engagements dem Wandel der Engagementmotive anpasst. Zwar haben es die großen Wohlfahrtsverbände schwerer als früher, Menschen zum Engagement zu bewegen; gleichzeitig aber ist die Beteiligung etwa an Selbsthilfegruppen stark gestiegen. Unter dem Gesichtspunkt sozialer Einbindung leisten solche Gruppen für die Beteiligten eher mehr als weniger.

Dieser Überblick gibt also keineswegs Anlass, in Deutschland von einer Krise des Gemeinsinns zu sprechen. Auch in den USA ergeben die Untersuchungen von Robert Wuthnow einerseits, Everett Ladd andererseits ein ganz anderes Bild, als es von Putnam gezeichnet wird. Empirisch gibt es einen Wandel der Teilhabemotive und entsprechend der präferierten Organisationsstrukturen, aber mit Ausnahme einzelner Bereiche keinen dramatischen Verfall. Die gleichwohl so intensiv geführte öffentliche Debatte scheint mir - sowohl in den USA wie in Deutschland - also nicht ein unvermeidlicher Ausdruck empirischer Wandlungsprozesse zu sein, sondern eher ein Kampf um die Hegemonie zwischen verschiedenen Wertvorstellungen, insbesondere um die Ansprüche eines radikalen Individualismus.

In dem Mosaik der Umfrageergebnisse sind die Konturen von Wertsystemen und die Institutionen, kulturellen Traditionen und sozialen Kräfte, die sie tragen, gar nicht mehr recht erkennbar. Deshalb soll das bisher gezeichnete Bild durch ein anderes relativiert werden. Die Gruppe um Robert Bellah in Berkeley hat einen anders angelegten Versuch unternommen, aus dem Interesse an Gegengewichten gegen einen bloßen Individualismus heraus nach der Lebendigkeit kultureller Traditionen zu fragen, aus denen Handelnde heute Motive zum Engagement gewinnen können. Sie identifizieren eine "biblisch" genannte, d. h. christliche und jüdische Tradition einerseits, eine "republikanische", d. h. auf die Selbstregierung freier und tugendhafter Bürger zielende Tradition andererseits als solche Gegenkräfte, die allerdings heftig gegen die Hegemonie des Individualismus in seinen beiden Formen: einem nutzenorientierten und einem selbstverwirklichungsorientierten, zu kämpfen haben. Dieses übersichtliche Bild lässt sich als Folie benutzen, von der sich die deutsche Lage deutlich abhebt.

2. Historischer Rückblick

Historisch betrachtet, spielen diese beiden Formen des Individualismus in Deutschland - selbst in liberalen Kreisen - praktisch keine Rolle. Aber auch die gemeinschaftsbezogenen Traditionen unterscheiden sich stark von denen in den USA. Formen eines Republikanismus, der den amerikanischen Traditionen vergleichbar wäre, gibt es zwar in der Schweiz, aber in Deutschland sind diese nur schwach ausgeprägt zu finden: im südwestdeutschen Liberalismus und vielleicht unter dem Bürgertum der großen Hansestädte. Die biblische Tradition spielte in Deutschland zwar eine ebenso wichtige Rolle wie in den USA, aber doch in ganz anderer Form: nicht nämlich als reicher und vitaler Pluralismus staatsferner Denominationen, sondern in der großen Konfessionsspaltung und in der klaren Aufteilung des Territoriums zwischen den Konfessionen nach dem Prinzip, dass die Konfession des Herrschers über die der Beherrschten entscheide. Diese Koexistenz religiöser Territorialmonopole wurde in den Umstrukturierungen nach dem Ende der napoleonischen Kriege aufgeweicht, aber erst durch Industrialisierung und Urbanisierung sowie dann durch die Flüchtlingsbewegungen am Ende des Zweiten Weltkriegs weitgehend überwunden. Es gibt allerdings in Deutschland andere Traditionen des "Gemeinsinns", die in diesem Maße für die USA nicht Bedeutung erlangten: eine sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Tradition einerseits, eine konservativ-nationale Tradition andererseits.

Das Erlebnis des Ersten Weltkriegs und die in vieler Hinsicht als avantgardistisch modern erlebte nationalsozialistische Bewegung boten erstmals die Aussicht auf eine nationale Bewegung von milieuübergreifendem Zuschnitt. Die NS-Diktatur selbst schwächte alle für die deutsche Gesellschaft charakteristischen Milieus, ohne sie allerdings ganz zu zerstören - wenn ich von dem unaussprechlichen Horror, der den jüdischen Bürgern widerfuhr, schweigen darf. Entsprechend begannen die geschwächten Milieus und Organisationen nach 1945 damit, sich unter alliierter Vorherrschaft zu rekonstituieren. In ihren frühen Jahren war die Bundesrepublik Deutschland deshalb zwar ein neuer demokratischer Staat, aber einer, der sich auf der Basis einer nur leicht veränderten Sozialstruktur und relativ traditioneller kultureller Milieus erhob.

Erst das Wirtschaftswunder, insbesondere der Fahrstuhleffekt (Ulrich Beck) im Schichtungssystem, und dann die Bildungsexpansion führten zu umstürzenden Veränderungen dieser Milieus. Millionen junger Menschen erlebten ihre Bildungskarriere als je individuelle Überwindung ihrer Herkunftsmilieus; die Veränderung der Berufsstruktur erschien ihnen als persönlicher Erfolg und sozialer Aufstieg. Doch angesichts der Massenhaftigkeit dieser Prozesse verloren damit die Herkunftsmilieus nicht einfach nur einen Teil ihres Nachwuchses; sie verloren großenteils ihre Identität.

Es ist erforderlich, zwischen der politischen Artikulation eines Milieus und seinem lebensweltlichen Zusammenhang zu unterscheiden: Im Kaiserreich etwa lässt sich durchaus von heterogenen Klassenlagen der deutschen Arbeiterschaft sprechen; sie wurde aber nolens volens in eine umfassende Gesinnungsgemeinschaft, ein Lager mit vielfältigen Organisationsformen, zusammengeschweißt. Für die Nachkriegszeit kann festgehalten werden, dass die Klassenlagen der Arbeiter homogener wurden und doch das Milieu seine klaren Konturen verlor. Die Wiederbelebung der Arbeiterkultur und des schichtenspezifischen Vereinswesens blieb weitgehend aus. Zwar waren die Sozialmilieus der Arbeiterbewegung und des Katholizismus nach dem Krieg noch einmal konstitutiv für die Formierung der großen Parteien, doch verblassten die spezifischen Bindungen der Milieus eben bis zum Ende der sechziger Jahre. In dieses Jahrzehnt fällt der größte Schub der Anhebung des Lebensstandards, der sozialen Mobilität und der Angleichung der Lebensformen. Gleichzeitig tritt eine neue Arbeitergeneration nach vorne, die nicht mehr in den katholischen oder sozialistischen Arbeiterkulturen, sondern in einer Zeit des Wohlstands, gestiegener Mobilität und einer relativ klassenunspezifischen Massenkultur sozialisiert worden war.

Ähnlich wie dem sozialdemokratischen erging es dem katholischen Milieu. Zusammengeschweißt insbesondere durch den Kulturkampf im Bismarck-Reich, schmolz es als identifizierbares Milieu in der Nachkriegszeit immer weiter zusammen. Hinzu kommt hier eine Art stiller antiautoritärer Bewegung - d. h. ein "Abbau der ,Fügsamkeit' des Kirchenvolks, der fortschreitende Verlust an (klerikaler) Kontrolle über normative Orientierung und Motivbildung und nicht zuletzt der Abbau einer ,Monopolstellung' . . ., die dem kirchlich verfassten Christentum die religiöse ,Alleinzuständigkeit' sicherte" . Es gibt heute kaum Untersuchungen zu den geschrumpften, aber weiter bestehenden christlichen Milieus in Deutschland .

Ein vergleichbar geschlossenes protestantisches Milieu gab es in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert nicht. Gerade wegen seines konfessionellen Mehrheitscharakters zerfiel es politisch in eher konservative und eher liberale Teilmilieus. Dabei ist es dem aristokratisch-großbürgerlich geprägten konservativen Milieu seit der Wende zum 20. Jahrhundert weitgehend gelungen, auch große Teile kleinbürgerlicher Milieus, die im 19. Jahrhundert ein liberales Milieu bildeten, zu integrieren. Am ehesten ließen sich in der DDR scharf konturierte protestantische Milieus identifizieren - was in leichter Übertreibung, aber nicht ohne jeden Grund in der Sache, dazu geführt hat, den Aufstand von 1989 eine "protestantische Revolution" zu nennen.

Wichtiger als die vielfältigen Details dieser Entwicklungen ist im vorliegenden Zusammenhang die Frage, ob es den in Deutschland fast völlig neuartigen Strömungen des Individualismus gelungen ist, selbst milieubildend zu wirken. Für den selbstverwirklichungsorientierten oder - nach Bellah - "expressiven" Individualismus lässt sich diese Frage wohl bejahen. Ich denke hier an das eine Vielzahl von Aktivitäten und die Grüne Partei tragende Milieu. Ohne Zweifel spielen hier generationstypische Erfahrungen des kulturellen Umbruchs Ende der sechziger Jahre eine entscheidende Rolle. Diese Erfahrung der Zusammengehörigkeit und der Ausgrenzung in den Auseinandersetzungen vornehmlich der siebziger Jahre führte - ganz ähnlich der Entstehungsgeschichte der alten Milieu-Organisationen - dazu, dass "eine eigene organisatorische und kommunikative Infrastruktur, eine besondere Symbolik, ein spezifischer Mythos und eine alternative gesellschaftliche Elite" entstanden. Diese Entwicklungen zeigen zugleich, welch beträchtliches ethisches Potential die Orientierung am Wert der Selbstverwirklichung enthält und wie sich die Haltungen seiner Träger verändern, wenn sie aus der Defensive heraus in die Verantwortung fürs ganze Gemeinwesen einrücken. An der Vorstellung eines Milieus selbstverwirklichungsorientierter Individualisten scheint also nichts Paradoxes zu sein. Aber gilt dies auch für den nutzenorientierten Individualismus? Hier müssen wieder lebensweltliche und politische Milieubildung unterschieden werden. Lebensweltlich gibt es offensichtlich Yuppie-Milieus, in denen Karrierismus und demonstrativer Luxus-Konsum gemeinsam gelebt werden. Aber politisch? Gibt es "Westerwelles Milieu"? Wohl eher nicht. Die potentiellen Träger dieses Milieus - die stark auf berufliche Leistung orientierten "besser verdienenden" Angehörigen der neuen Mittelschichten - finden sich derzeit auf alle politischen Parteien verteilt und keineswegs einhellig im Projekt eines ideologischen Marktliberalismus oder eines erneuerten parteipolitischen Liberalismus versammelt.

3. Milieuwandel und Wertentstehung

Wie also lautet in der Summe der Befund dieser hier nur grob zusammengefassten Studien zum Wandel soziomoralischer Milieus in Deutschland? Trotz verschiedenster Einschränkungen trifft die Diagnose von der weitgehenden Auflösung der lange Zeit wertstützenden Milieus in Deutschland sehr wohl zu. Die Auflösung ist zwar nicht total - wie schon der Blick auf die stabil-christlichen und auf die Reste arbeiterbewegungsnaher Milieus ergeben hat -, und auch insofern nicht, als sich in der Engagementbereitschaft vieler Menschen Solidaritätsnormen ihrer Herkunftsmilieus, etwa der Arbeiterschaft oder auch des bäuerlichen Lebens, nachweisen lassen, und das oft zu Zeitpunkten, zu denen dieses prägende Milieu gar nicht mehr vorhanden ist. Und es gibt offensichtlich neu entstehende Milieus, wie hier unter Bezug auf das grün-alternative Milieu behauptet wurde. Dabei ist dieses keineswegs das einzige, denn wenn es heute eine Milieupartei in Deutschland gibt, dann ist es wohl die PDS in ihrem Rückgriff auf ein Ex-DDR-Milieu. Ebenso finden wir stabilisierte ethnische Milieus von Einwanderern im heutigen Deutschland. Aber für alle, welche die Auflösung der "alten" Milieus als Verlust wahr-nehmen und als Bedrohung der Quellen des Gemeinsinns, werden diese Einschränkungen gegenüber der Auflösungs-Diagnose ein schwacher Trost sein. Ist es dann nicht nur eine Frage der Zeit, bis auch die letzten Relikte einer über das Individuum hinaus reichenden Werte-Tradition allen Halt verloren haben werden?

An eben diesem Punkt liegt die empirische Pointe meiner Ausführungen. Wenn zutrifft, was ich hier behaupte, dass die Milieuauflösung keineswegs zu einem dramatischen Verlust an Gemeinsinn geführt hat, und wenn der vorhandene Gemeinsinn nicht als bloßes Relikt der guten alten Zeit vor der Auflösung betrachtet wird, dann muss es andere Formen der Entstehung und der Reproduktion des Gemeinsinns und überhaupt der Werte geben, als es die Milieukonzeption unterstellt.

Sowohl der Begriff des Milieus wie die soziale Wirklichkeit, auf die er zielt, erweisen sich bei erneuter Betrachtung als keineswegs so eindeutig und so eindeutig positiv, wie es zuerst erschien .

Die soziale Wirklichkeit, für die der Begriff so gut passte, war die der Versäulung, der Abgrenzung der Milieus voneinander, der Defensive im "bewussten Gegensatz gegen Dritte" (Max We-ber). Als die traditionellen Milieus in der Bundesrepublik Deutschland sich aufzulösen begannen, war die verbreitete Wahrnehmung eben nicht eine des Zerfalls, sondern eine der positiven Integration. "Die Entlastung von den großen konfessionellen, sozialregionalen und klassenmäßigen Disparitäten des Deutschen Reiches, die wachsende Teilhabe an Bildung, Wohlstand und sozialer Sicherheit, die Erosion polarisierender Klassenmentalitäten und die Entstehung modernerer Arbeitnehmermilieus, verbunden mit der Tendenz von Parteien, die zuvor begrenzte Klassenmilieus integrierten, zu milieuübergreifenden Volks- oder ,catch-all-Parteien'" - all dies wurde, als es stattfand, weithin begrüßt, nicht beklagt. In Rainer Lepsius' Analyse hatte der Nachweis der Stärke voneinander abgeschotteter Milieus gerade als Begründung für die spezifischen Schwierigkeiten der Demokratisierung in Deutschland gedient. Selbstverständlich ist gesellschaftliche Desintegration auch bei aufgelösten Milieus möglich, aber Milieuauflösung ist nicht Desintegration. Wer will heute schon wirklich zu den alten Milieus zurück? Oder stehen wir vor einer tragischen Güterabwägung, weil nur gegeneinander abgeschlossene Milieus Gemeinsinn vermitteln, der sich dann aber wegen der Versäulung der Gesellschaft nicht fürs ganze Gemeinwesen auswirken kann - vor einer Abwägung zwischen einer integrierten Gesellschaft ohne Gemeinsinn und einer versäulten Gesellschaft mit Gemeinsinn?

Dieses Dilemma des Gemeinsinns ergibt sich aus der Spannung mit kultureller Heterogenität, aber es ist nicht unauflösbar. Die Frage sollte nicht sein, wie Milieus stabilisiert oder gerettet werden können, sondern wie Werte entstehen und weitergegeben werden können . Manche Werte werden vielleicht gerade deshalb schlecht weitergegeben, weil sie in ein Milieu eingesperrt sind. Die Großartigkeit der Botschaft des Evangeliums kann einem im Milieukatholizismus ganz aus den Augen geraten. Und ebenso kann der Schwung sozialdemokratischer Gerechtigkeitsideale unter dem Stallgeruch der Partei- und Gewerkschaftsklüngel auch Schaden erleiden. Nicht die Werte selbst sind es, die eine Milieuabschließung erfordern; meist sind es eher Eliten der Milieus, die der Identitätswahrung des Milieus den Vorzug geben, manchmal sogar gegenüber der wirklichen Verbreitung der Werte. Man muss die Fragestellung also umkehren. Die Daten über die Verbreitung bürgerschaftlichen Engagements sind das Faktum, nach dessen Bedingungen der Möglichkeit gefragt werden muss. Die Existenz stabiler Milieus gehört demnach nicht zu den offensichtlichen Bedingungen der Möglichkeit der Verbreitung. Es leben in diesen Milieus zwar Werte, aber diese Werte leben nicht nur in diesen Milieus. Der Blick muss sich vielmehr auf die Erfahrungen richten, in denen die Bindung an Werte entstehen kann. Nicht Indoktrination und Abwehr konkurrierender Einflüsse erzeugen unter Bedingungen kultureller Heterogenität Wertbindungen, sondern nur Lebensformen, in denen die Werte selbst erfahrbar werden. Nicht Milieus, aber Beteiligungsmöglichkeiten, Vorbilder und Erfahrungskonstellationen sind es, die den Werte-Traditionen in jeder Generation neue Vitalität verleihen - oder nicht. So entstandene Wertbindungen, die auch in der Art ihrer Verankerung in den Personen der kulturellen Pluralität Rechnung tragen, erlauben eine Wertbindung an Toleranz und Pluralismus selbst und nicht nur deren zähneknirschende Hinnahme. Die Wertbindungen können reflexiver und bescheidener werden, ohne dadurch weniger intensiv zu sein. Unter Bedingungen kultureller Heterogenität, die aber nicht in stabilisierte Lagermentalitäten und Milieus aufgeteilt ist, besteht zumindest die Chance, der biographischen Entstehung der eigenen Wertbindung innezuwerden und sich gleichwohl, in einem Akt der Entscheidung zu sich selbst, in die Werte-Traditionen zu stellen, aus denen die eigenen Motive fließen.

Dies geht allerdings nicht ohne den Versuch zur zeitgemäßen Artikulation eben dieser Werte. Soziologische Forschung, die sich von der adäquaten Rekonstruktion der Handlungsmotive und ihrer Durchsetzung mit der Artikulation kultureller Traditionen fernhält und ihre aus der Datenanalyse per Konvention entstehenden Typen als reale kulturelle Gestalten verkauft, kann dieser Aufgabe nicht genügen. Aber auch die Rekonstruktionen von Milieuwandel und Milieuauflösung bleiben blind, wenn sie sich nicht selbst als Teil des gesellschaftlichen Gesprächs über Werte reflektieren.

IV. Gemeinsinn und Demokratie

Die traditionellen Milieus, von denen die Rede war, hatten hinsichtlich des Engagements der Bürger auf jeden Fall einen großen Vorzug: In ihnen wurden alle Bürger, Alte und Junge, Männer und Frauen, mehr oder weniger Gebildete mobilisiert. Sowohl in den kirchlichen Gemeinden und Vereinen wie in der sozialdemokratischen Bewegung gab es nicht die bei Untersuchungen zum bürgerschaftlichen Engagement heute so oft festgestellte Bildungslastigkeit. Bei den in Deutschland in den letzten Jahrzehnten entstandenen, mit den sogenannten neuen sozialen Bewegungen verbundenen Organisationen und selbst bei vielen imponierenden Beispielen der Selbsthilfe (etwa im Bereich AIDS) ist das wohl anders. Hier scheint die Bildungslastigkeit ganz besonders ausgeprägt, und der Brückenschlag zu den Problemen sowohl der alten industriegesellschaftlichen Konfliktlinien wie der neuen, postindustriellen sozialen Ungleichheiten ist nur vage zu erkennen.

Auch die gegenwärtigen Spekulationen über neue Partizipationsformen, die durch das Internet ermöglicht werden, brechen sich in dieser Hinsicht rasch am "digital divide", der Kluft zwischen den Computerbenutzern und den Computer-Analphabeten. Zwar könnte es sein, dass manche der dramatischeren Befunde zur sozialen Exklusivität neuer Solidaritätsformen sich einfach aus dem Niederschlag der abnehmenden Gewerkschaftsmitgliedschaft in den Daten zum Engagement ergeben. Vielleicht wissen wir nicht genug über die Widerstandskraft von Milieus der "Ausgeschlossenen". Aber unbezweifelbar ist, dass das Dilemma "Gemeinsinn und soziale Gerechtigkeit" sowohl auf die Frage sozial ungleicher Zugangschancen zum Engagement wie auf die Frage der Folgen des Engagements für die Strukturen sozialer Ungleichheit verweist. Aus beiden Fragerichtungen dürfte sich ergeben, dass das bürgergesellschaftliche Engagement auf die zentrale Verantwortungsinstanz des Staates bezogen bleiben muss. Und damit kommt auch das dritte Dilemma in den Blick, das Spannungsverhältnis nämlich zwischen Gemeinsinn und Demokratie, die Frage, wie aus dem Gemeinsinn politische Handlungsfähigkeit werden kann.

Hier ist in Deutschland, insbesondere wegen der neuen Konstellation, die zum Aufblühen der Debatten über Gemeinsinn und Bürgergesellschaft geführt hat, geradezu Neuland zu betreten. Der Überschwang etwa, mit dem heute die Hoffnung auf Stifter und Stiftungen gesetzt wird, muss gar nicht gebremst werden; aber er ist doch dadurch auszubalancieren, dass dieselben Fragen, die traditionell kritisch an Staat und Bürokratie gerichtet werden, nun auch auf die Strukturen der Bürgergesellschaft bezogen werden. Wer handelt, wenn eine Stiftung tätig wird? Wie sind die inneren Entscheidungsstrukturen? Gibt es Monopole einzelner Stiftungen auf bestimmten Fördergebieten? Welche Aufgaben bleiben unerledigt? In den USA hat sich über Jahrhunderte eine Kultur der Einflussbegrenzung, der Autonomiewahrung gegenüber den Stiftern entwickelt, von der in Deutschland noch nichts zu sehen ist.

Unter demselben Gesichtspunkt dieses dritten Dilemmas stellen sich weiterhin Fragen nach den Folgen des bürgerschaftlichen Engagements: ob dieses nur Spielwiese für Gutwillige ist oder wie stark es mit den Strukturen politisch folgenreicher Willensbildung verknüpft ist. Wenn davon die Rede war, dass eben nach der Schrumpfung oder Auflösung der Milieus die Erfahrung folgenreicher Beteiligung wichtig ist für das Nachwachsen der Beteiligungsmotive, dann lag der Akzent auf dem Wort "folgenreich". Ich halte kaum etwas für schädlicher auf diesem Gebiet als die Freigabe von Bereichen für Pseudo-Engagement. In den Institutionen des Bildungswesens in Deutschland hat die Demokratisierungswelle der sechziger und siebziger Jahre viele Formen zeitraubenden Pseudo-Engagements hinterlassen, deren Wirkungen auf Partizipationsmotive eher zerstörend sind. Klare Verantwortlichkeiten, Handlungsfähigkeit und Kontrolle statt organisierter Verantwortungslosigkeit und -diffusion - das müsste hier der Ausweg aus dem dritten Dilemma des Gemeinsinns sein.

Der normative Ertrag dieser Überlegungen ist demnach, dass Gemeinsinn nicht einfach per se als positiv zu werten ist, sondern nur zu etwas Gutem wird, wenn seine Ausdrucksformen sich in der Prüfung durch die drei Dilemmata der sozialen, kulturellen und politischen Ungleichheit bewähren. Die Stärkung der Bürgergesellschaft ist kein Zaubermittel für die Lösung aller Probleme; aber in der heutigen Konstellation und gerade angesichts der weitgehenden Auflösung der für Deutschland traditionell charakteristischen Milieus scheinen viele Probleme in der Tat ohne die Stärkung der Bürgergesellschaft unlösbar.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Mit Dank an Frank Adloff und die Mitglieder der (von Herfried Münkler geleiteten) Arbeitsgruppe "Gemeinwohl und Gemeinsinn" der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu Aus Politik und Zeitgeschichte, B 16-17/2001 zum Thema "Dritter Weg".

  2. Vgl. Alan Wolfe, Whose Keeper? - Social Science and Moral Obligation, Berkeley 1989.

  3. Vgl. Norbert Brömme, Eine neue Kultur des Helfens und der mitmenschlichen Zuwendung? Über die sozialen Auswirkungen des Pflegeversicherungsgesetzes, Veröffentlichungsreihe des Instituts für Pflegewissenschaft/IPW an der Universität Bielefeld, Bielefeld 1999.

  4. Vgl. Wolfgang Streeck, Deutscher Kapitalismus: Gibt es ihn? Kann er überleben?, in: ders., Korporatismus in Deutschland, Frankfurt/M. 1999, S. 13-40.

  5. Vgl. Robert Putnam, Bowling Alone, in: Journal of Democracy, 6 (1995), S. 65 ff.; ders., The Strange Disappearance of Civic America, in: The American Prospect, Winter 1996, S. 34-48. Vgl auch das umfangreiche Buch von R. Putnam, Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community, New York 2000.

  6. Dazu vorläufig Norbert Brömme, Soziales Kapital in Deutschland, Freie Universität Berlin 1998; Frank Adloff, Die Entwicklung sozialer Milieus in Deutschland nach 1945, Berlin 1999.

  7. Vgl. R. Putnam (Anm. 5).

  8. Vgl. Heinz Sahner, Vereine und Verbände in der modernen Gesellschaft, in: Heinrich Best (Hrsg.), Vereine in Deutschland, Bonn 1993, S. 11-113.

  9. Vgl. F. Adloff (Anm. 6). Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu auch den Beitrag von Thomas Gensicke in diesem Heft.

  10. Vgl. N. Brömme (Anm. 6), S. 22 ff.

  11. Vgl. Robert Wuthnow, Sharing the Journey. Support Groups and America's New Quest for Community, New York 1994.

  12. Vgl. Everett Carll Ladd, The Ladd Report, New York 1999.

  13. Vgl. Robert Bellah u. a., Gewohnheiten des Herzens. Individualismus und Gemeinsinn in der amerikanischen Gesellschaft, Köln 1987.

  14. Hartmann Tyrell, Religionssoziologie, in: Geschichte und Gesellschaft, 22 (1996), S. 428-457, hier S. 453 (gestützt auf Karl Gabriel, Christentum zwischen Tradition und Postmoderne, Freiburg 1992, S. 453).

  15. Vgl. aber Christof Wolf, Religiöse Sozialisation, konfessionelle Milieus und Generation, in: Zeitschrift für Soziologie, 14 (1995), S. 345-357. In einer keineswegs repräsentativen Studie zu einem Stadtteil Kölns zeigen sich freilich bemerkenswerte Ergebnisse. Gerade die insgesamt abnehmende Kirchenbindung und Religiosität in Deutschland lässt den Glauben als immer weniger selbstverständlich erscheinen. Eben dadurch jedoch wird er zu einem wichtigen Kriterium bei der Wahl von Ehepartnern, aber auch von Freunden und Verwandten, mit denen man tatsächlich Umgang hat. Der Säkularisierungsprozess führt so auf der Mikroebene "zu einer stärkeren Selektion religiös Gleichgesinnter und einem stärkeren Bemühen, Kindern die eigenen religiösen Vorstellungen zu vermitteln". Dies erfolgt allerdings immer weniger in konfessionellen Bahnen (ebd., S. 356).

  16. Vgl. Ehrhart Neubert, Eine protestantische Revolution, Berlin 1990.

  17. Vgl. R. Bellah u.a. (Anm. 13).

  18. Franz Walter, Westerwelles Milieu, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 44 (1999), S. 1165-1169.

  19. Der Begriff selbst war ja zuerst in einer naturalistisch-deterministischen Sichtweise Ende des 19. Jahrhunderts verbreitet, bevor er von dem französischen Klassiker der Soziologie, Emile Durkheim, zum soziologischen Begriff geläutert wurde, der die sozialen Bindungen des Alltagslebens kennzeichnen soll. In Deutschland hat Rainer Lepsius ihn besonders kraftvoll für eine historisch-soziologische Analyse der Zusammenhänge von Sozialstruktur und Parteiensystem verwendet. Von da aus wurden der Begriff und die entsprechende Sichtweise für alle die attraktiv, die sich von unhistorischen Schichtungs- und Klassenmodellen eher abgestoßen fühlten. Dann fand der Begriff Eingang in die Markt- und Meinungsforschung und fand von da aus in die akademische Soziologie zurück. Er wurde zuerst vor allem zur Konstruktion von Typologien des kulturellen Geschmacks verwendet, so in Gerhard Schulzes bekannter Studie zur "Erlebnisgesellschaft". Besonders wichtig in unserem Zusammenhang ist die kreative Weiterentwicklung in den Forschungen der Gruppe um Michael Vester. Vgl. Emile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode (1895), Neuwied - Berlin 1961, S. 194 ff.; Rainer Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur (zuerst 1966, wieder abgedruckt in: ders., Demokratie in Deutschland, Göttingen 1993, S. 25-50); Michael Vester u. a., Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, Köln 1993, S. 10 und S. 377.

  20. M. Vester u. a. (Anm. 19 ), hier S. 35; dies., Soziale Milieus in Ostdeutschland, Köln 1995.

  21. Vgl. Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt/M. 1997.

  22. Siehe auch den Beitrag von Norbert Brömme und Hermann Strasser in diesem Heft.

Dr. phil., geb. 1948; Professor für Soziologie und Sozialphilosophie an der Freien Universität Berlin und der University of Chicago; ordentliches Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

Anschrift: John F. Kennedy Institut, Freie Universität Berlin, Lansstr. 5-9, 14195 Berlin.

Veröffentlichungen u. a.: Kriege und Werte. Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Weilerswist 2000; (Hrsg.) Lehrbuch der Soziologie, Frankfurt/M. 2001.